IASLonline

Ingeborg Bachmann im Werk anderer finden

Ein von Brigitte Jirku und Marion Schulz herausgegebener Sammelband zeigt, wie heutige Künstler(innen) Leben und Werk von Ingeborg Bachmann lesen

  • Marion Schulz / Brigitte E. Jirku (Hg.): »Mitten ins Herz«. KünstlerInnen lesen Ingeborg Bachmann. (Inter-Lit 9) Frankfurt am Main: Peter Lang 2009. 228 S. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-631-575.
[1] 

Die Idee zu dem im Herbst 2009 erschienenen Sammelband »Mitten ins Herz.« KünstlerInnen lesen Ingeborg Bachmann entstand 2006 während der Tagung Schreiben gegen den Krieg. Österreichische Schriftstellerinnen nach 1945, die an der Universität Valencia stattfand. 1 Ein weiterer Anstoß zu der Tagung und dem Band war die von Hans Höller konzipierte Ausstellung Ingeborg Bachmann (1926­1973). Schreiben gegen den Krieg. 2 Es handelt sich jedoch nicht um einen Tagungsband, vielmehr wurden die Beiträge explizit für diese Publikation geschrieben.

[2] 

Der Band beschäftigt sich mit der produktiven Rezeption des Werks Ingeborg Bachmanns seitens gegenwärtiger europäischer Schriftsteller(innen) und Künstler(innen). Die Herausgeberinnen Brigitte E. Jirku und Marion Schulz stellen die einzelnen Beiträge im Vorwort sehr sorgfältig vor, gehen jedoch etwas flüchtig auf die entsprechende Forschungslage ein und stellen fest, dass es »keine eingehende Studie über den Einfluss gibt, den die Dichterin auf andere KünstlerInnen ausübt« (S. 8). Tatsächlich sind bisher nur wenige Publikationen erschienen, die sich mit diesem Thema ausführlich befassen. Nennenswert wäre jedoch der von Susanne Kogler und Andreas Dorschel 2006 herausgegebene Sammelband Die Saite des Schweigens (Wien: Steinbauer) gewesen, der neben der Beziehung Ingeborg Bachmanns zur Musik auch die Rezeption ihres Werks seitens einiger Komponisten (wie Luigi Nono und Giacomo Manzoni) und Künstler (Anselm Kiefer – dem Maler ist auch in dem hier besprochenen Band ein Aufsatz von Annette Gilbert [S. 73–97] gewidmet) untersucht.

[3] 

Die Neuigkeit des vorliegenden Bandes besteht darin, dass die berücksichtigten Künstler(innen) nicht nur dem Bereich der deutschsprachigen und europäischen Literatur angehören, sondern auch des Theaters (Eva Brenner), der Musik (Julia Tsenova und Bernd Richard Deutsch) und der bildenden Kunst (Anselm Kiefer). Das erste Kapitel widmet sich der Freundschaft zwischen der in der Schweiz geborenen Schriftstellerin Fleur Jaeggy, die aber seit ihrer Jugend in Italien lebt und auf Italienisch schreibt, und Ingeborg Bachmann. Die österreichische Dichterin hat maßgeblich das Werk Jaeggys beeinflusst (vgl. S. 102). Dass der Band mit einem Kapitel über Fleur Jaeggy beginnt, ist eher als Hommage für die Schriftstellerin zu verstehen, die bei der Tagung Schreiben gegen den Krieg an der Universität Valencia anwesend war (wie auf S. 23 zu lesen ist) und über ihre persönliche Erinnerung von Bachmann sprach. Betrachtet man Fleur Jaeggy als italienische Schriftstellerin, widerspricht das erste Kapitel zum Teil der Einteilung des Bandes, der nach Aussage der Herausgeberinnen nicht thematisch gegliedert sei, sondern »in vier Kapitel[...] unterteilt, die geografischen Grenzen folgen« (S. 8). Sieht man sich das zweite Kapitel an, wo der Einfluss Bachmanns auf Theater, Musik und bildende Kunst präsentiert wird, erscheint die Gliederung eher thematisch. Das Kriterium der geographischen Grenzen ist für das dritte und vierte Kapitel besser zu verstehen, weil hier die »literarischen Erben« 3 Ingeborg Bachmanns untersucht werden: zunächst die Einflüsse in nicht deutschsprachigen Ländern (Autoren aus Italien und Spanien; ein Beitrag ist hier außerdem Terézia Mora und ihrer »Hommage an Ingeborg Bachmann« gewidmet) und dann in Österreich (Evelyn Schlag, Elisabeth Reichart und Elfriede Jelinek).

[4] 

Der Band wird von den Herausgeberinnen zu Recht als »europäischer Bachmann-Band« (S. 7) bezeichnet, weil sowohl die präsentierten Künstler als auch die Beiträger aus verschiedenen europäischen Ländern kommen. Die Autoren der Beiträge sind (ausgenommen der Theaterdirektorin und ­regisseurin Eva Brenner) alle Literaturwissenschaftler(innen) und Germanist(innen): Mitherausgeberin Brigitte E. Jirku, Arno Gimber, Annette Gilbert, Arturo Larcati, Antònia Cabanilles, Elke Brüns, Cécile Chamayou-Kuhn, Renata Cornejo, Pilar Soria Millàn und Àngels Gìmenez Campos. Der einzige Bachmann-Spezialist ist Arturo Larcati, Autor der wichtigen Monographie Ingeborg Bachmanns Poetik (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006). In seinem Aufsatz gibt Larcati einen Überblick über den Einfluss Bachmanns auf italienische Autoren der Gegenwart. Er gliedert seinen Text nach der Rezeption der Gedichte, der Prosa und der Person Bachmanns. Neben schon untersuchten Affinitäten (Jaeggy und Bachmann), geht er auf die Suche nach den Spuren Bachmanns im Werk weiterer italienischer Literaten und Künstler, deren gelegentliche Beschäftigung mit Bachmann bisher nicht bekannt (wie zum Beispiel im Fall von Anna Maria Ortese oder Domenico Starnone) oder kaum bekannt war (wie bei Pier Vittorio Tondelli). So entdecken wir, dass der Dichter Giovanni Giudici 1966 Ingeborg Bachmann persönlich kennengelernt hatte, um von ihr einige Werbetexte für die italienische Firma Olivetti übersetzen zu lassen (vgl. S. 119). Tatsächlich befindet sich im Nachlass (laut der Registratur) der Dichterin ein Konvolut mit Übersetzungsentwürfen von Werbetexten der Olivetti und der Korrespondenz mit der Firma. 4 Was man aus dem Beitrag von Larcati noch erfährt, ist, dass Giudici der Autorin zwei Gedichte gewidmet hatte (vgl. S. 120 f.). Ein Gedicht, Sonnifero (Schlafmittel), hatte er viele Jahre nach ihrem Tod (1973) geschrieben, und nicht im Todesjahr der Dichterin, wie Larcati behauptet. 5 Im Gedicht bereut das lyrische Ich, die »edle Schüchternheit« Bachmanns »gegenüber der Geschichte« mit »Eitelkeit« verwechselt zu haben 6 und bedauert, »die Kenntnis der Schriftstellerin nicht vertieft zu haben« (S. 121).

[5] 

An einer anderen Stelle findet sich im Aufsatz von Larcati noch eine Ungenauigkeit: Wenn er über die Kompositionen von Luigi Nono aus Bachmanns Gedichten spricht, fügt er hinzu, das, was der Komponist und die Dichterin außerdem verbindet, sei die Verehrung für den italienischen Dichter Giuseppe Ungaretti (vgl. S. 104). Das ist natürlich wahr, so wie die Tatsache, dass Nono den Zyklus »Cori descrittivi di stati d’animo di Didone« aus dem Band La Terra Promessa 1958 vertont hatte, während Bachmann 53 Gedichte Ungarettis übersetzt und 1961 in einer Auswahl bei Suhrkamp veröffentlicht hatte. 7 Bachmann hatte jedoch nicht die »Cori descrittivi di stati d’animo di Didone« ins Deutsche übersetzt, wie Larcati behauptete 8 : Aus dem Band La Terra Promessa hatte sie nur ein Gedicht übertragen, »Finale«. 9 Paul Celan, dessen Übertragung der zwei späten Bände Ungarettis (La Terra Promessa und Il Taccuino del Vecchio) 1968 erschienen war, hatte hingegen die »Cori« übersetzt. 10

[6] 

Eine weitere interessante Frage, die im Band aufgeworfen wird, ist die, wie jeder Künstler seine eigene Lektüre von Bachmanns Werk entwickelt. Einige wollen bewusst einen Widerspruch zu den Texten der österreichischen Autorin schaffen. Eva Brenner zum Beispiel – als sie und ihre Gruppe elf Gedichte Bachmanns aus dem posthumen Band Ich weiß keine bessere Welt 11 bearbeiteten und auf der Bühne darstellten, wollte die Regisseurin bewusst das Gegenteil dessen zeigen, was aus den Gedichten hervorgeht: das Bild einer zutiefst leidenden Frau (die Texte wurden 1962–1964 geschrieben, unter anderem während einiger Klinikaufenthalte 12 ). Brenner wollte die Texte »aus einer positiv besetzen, optimistischen Sicht« (S. 36) zeigen und nicht den Inhalt der Gedichte synchron darstellen. Die Schauspieler, die Bachmanns Gedichte vorlasen, waren nämlich weiß gekleidet und die Inszenierung war hell und luftig (vgl. S. 36 f.). So wurden die Texte »von der Person, der Dichterin Bachmann gelöst« (S. 37) und es fand ein Weiterschreiben statt.

[7] 

Das Fortschreiben von Bachmanns Werk ist ein Thema, das den meisten Beiträgen dieses Bandes zugrundeliegt. Dabei ist es interessant zu sehen, wie unterschiedlich ›präsent‹ die Texte oder die Figur Bachmanns im Schaffen anderer Künstler(innen) sind, und ab wann ihr Einfluss nicht mehr zu erkennen ist. Abschließend kann man sagen, dass der Band sich mit einem für die Bachmann-Forschung sehr aktuellen Thema beschäftigt und, dass es von der Lebendigkeit von Bachmanns Werk im europäischen Kontext zeugt. Bei der Lektüre erfährt man nicht nur Näheres über die österreichische Autorin, sondern lernt auch viele Autor(innen) und Künstler(innen) besser kennen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Brigitte E. Jirku / Marion Schulz (Hg.): »Mitten ins Herz«. KünstlerInnen lesen Ingeborg Bachmann. (Inter-Lit 9) Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2009. S. 7.   zurück
Ebd. (Anm. 1).   zurück
Die Überschriften des dritten und vierten Kapitels lauten »Bachmanns literarische Erben: grenzenlos« beziehungsweise »Bachmanns literarische Erben in Österreich«.   zurück
Vgl. die Registratur des literarischen Nachlasses von Ingeborg Bachmann, hg. von Robert Pichl. Aus den Quellen erarbeitet von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, Wien: Institut für Germanistik 1981, S. 208.   zurück
So Larcati auf S. 120: »[…] im Todesjahr von Ingeborg Bachmann, als Giudici das Bedürfnis verspürt, durch ein anderes Gedicht mit dem Titel Sonnifero […] sein negatives Bild der Dichterkollegin zu korrigieren […]«.Vgl. Brigitte E. Jirku / Marion Schulz (wie Anm. 1), S. 120. Giovanni Giudici erzählt dagegen, das Gedicht viele Jahre nach dem Tod Bachmanns geschrieben zu haben (»molti anni dopo la sua morte […] nel 1973, registrai in una poesia intitolata Sonnifero […]«; Giovanni Giudici, I versi della vita, a cura di Rodolfo Zucco, con un saggio introduttivo di Carlo Ossola, Milano: Mondadori 2000, S. 1558).   zurück
So übersetzt Larcati auf S. 121 einige Verse des Gedichts »Sonnifero«, die im Original lauten: »che dentro me incolpavo di vanagloria / mentre era appena e in verità / nobile timidezza di fronte alla storia […]«.Vgl. Brigitte E. Jirku / Marion Schulz (wie Anm. 1), S. 121.   zurück
Luigi Nono hatte insgesamt sechs Gedichte aus dem Band Ungarettis La Terra Promessa vertont (fünf aus dem Zyklus »Cori descrittivi di stati d’animo di Didone« und das Schlussgedicht des Bandes, »Finale«) und sie im September 1958 anlässlich der Darmstädter Ferienkurse für neue Musik uraufgeführt (vgl. Peter Goßens: Paul Celans Ungaretti­Übersetzungen. Edition und Kommentar, Heidelberg: Winter 2000, S. 38). Die 53 Übersetzungen Bachmanns aus dem Werk Ungarettis sind 1961 bei Suhrkamp veröffentlicht worden (Giuseppe Ungaretti: Gedichte. Italienisch und Deutsch. Übertragung und Nachwort von Ingeborg Bachmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1961).   zurück
»Sowohl der Komponist als auch die Dichterin greifen die griechische Sage von Dido und Aeneas auf, wie sie in den Gedichten von La terra promessa interpretiert wird: er in seiner Vertonung einiger Gedichte aus dem Zyklus und sie in ihren Übersetzungen. Beide bemühen sich, die Cori descrittivi dell’animo di Didone in ihre eigene Ausdruckswelt zu übertragen […]«(Vgl. Brigitte E. Jirku / Marion Schulz (wie Anm. 1), S. 104; der Titel des Zyklus wird übrigens falsch zitiert: er lautet korrekt Cori descrittivi di stati d’animo di Didone).   zurück
Vgl. Giuseppe Ungaretti: Gedichte (wie Anm. 7), S. 148.   zurück
10 

Giuseppe Ungaretti: Das verheißene Land. Das Merkbuch des Alten. Deutsch von Paul Celan, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968.

   zurück
11 
Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte, hg. v. Isolde Moser, Heinz Bachmann und Christian Moser. München: Piper 2000.   zurück
12 
Die Entstehungszeit der Gedichte entnehme ich aus dem Vorwort von Isolde Moser zur italienischen Ausgabe von Ich weiß keine bessere Welt (Vgl. Ingeborg Bachmann: Non conosco mondo migliore, traduzione di Silvia Bortoli, Parma: Guanda 2004, S. 5). Zur Biographie von Bachmann in den Jahren 1962–1964 vgl. Hans Höller: Ingeborg Bachmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 124–126.   zurück