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Serielles Töten denken. Serienmord und Philosophie

  • Sara Waller (Hg.): Serial Killers. Being and Killing. (Philosophy for Everyone 18) New York: Blackwell 2010. XII, 231 S. Paperback. EUR (D) 14,99.
    ISBN: 978-1405199636.
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Projektionen

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Ich töte, also bin ich. Dieser Satz ist eine Provokation. Denn es widerstrebt, das Auslöschen von Leben als die basale Seinserfahrung eines Menschen zu akzeptieren. Und doch trifft er ziemlich genau das Bild, das wir uns gewöhnlich vom Serienmörder zu machen pflegen: Wir stellen ihn uns vor als einen Menschen, der sich nur über sein Töten definiert, der nur im Morden zu sich selbst findet, sich selbst sogar überhaupt nur noch im Moment des Tötens spürt. Als jemanden, der mit kalter Präzision nur auf die Befriedigung seiner eigenen Triebbedürfnisse aus ist, ohne Rücksicht auf andere. Als jemanden, dem das Töten Seinsinhalt ist. Allerdings – so war das nicht gemeint mit dem Sein, bei Descartes: Während für ihn der an seiner tatsächlichen Existenz zweifelnde Mensch im Denken den Nachweis seines Seins erfährt, soll dem Serienmörder ebendies im Töten, im ultimativen Tabubruch, gelingen? Kann der Serienmörder also überhaupt ein Mensch sein, oder ist er ein Monster, da ihm nicht das Denken Seinsgrund ist, sondern das Töten?

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Der Blick auf das wirkliche Leben echter Serienmörder entlarvt diese Vorstellung als Übertragung: »Monstrous acts do not necessarily proceed from monsters«, so Richard Gray im hier zu besprechenden Sammelband; vielmehr projizierten wir unsere Abscheu gegenüber solch grauenhaften Taten auf die Person, die diese Taten verübt. Und »when those acts are unthinkable, like serial sexual murder, we expect that the person who committed the acts to be as horrible as the acts themselves. But ultimately we find the evildoer pedestrian, his life outside of the crime and its contexts relatively unremarkable« (S. 191).

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Trotz des Wissens um diese Projektion kapituliert unser zweckrationaler Verstand vor der Unerklärlichkeit der Taten von Serienmördern, die wie Gewalt um ihrer selbst willen wirken. Serienmörder scheinen das absolut Böse zu verkörpern. Was aber ist dieses Böse? Wenn das Böse, so Roy Baumeister, im Auge des Betrachters, im Auge des Opfers zumal, liege, dann sei die Frage nach dem Bösen und seinem Grund vor allem »a victim’s question«: Leid erfordere eine sinnhafte Erklärung, und ›das Böse‹ sei hinreichend, das Sinnbedürfnis vieler Opfer zumindest zeitweilig zu beruhigen. Aber: »In the long run, evil needs to be explained, too.« 1

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Lange waren Theologie und Philosophie zuständig für die Erklärung des Bösen. Mit dem Siegeszug von Medizin und Biologie, mit der Psychiatrie und der Kriminologie bekamen sie auf diesem Feld Deutungskonkurrenz. Aber gerade der Serienmörder erwies sich diesen neuen Wissenschaften als harte Nuss. Das 20. Jahrhundert – reich an Serienmordfällen, reich an Theorien über Serienmord – gab dennoch keine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem »Warum?«, nach den Ursachen der Taten von Serienmördern:

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Keine der bisherigen Theorien vermag es, die Ursachen für serielles Töten umfassend und plausibel zu erklären. Jede für sich genommen enthält i.d.R. ein wahres Moment […]. Möglicherweise sind all diese Erklärungsversuche nur eine Projektion unserer eigenen Wahrnehmung von Welt, während das destruktive Handeln der Täter lediglich dem Prinzip des Selbstzwecks folgt. 2
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Auch theoretische Erklärungen entpuppen sich demnach als Projektionen: als Deutungsmodelle, als nachträgliche Beschreibung der Metamorphose des Individuums zum Serienmörder – und sagen damit mehr darüber aus, was der externe Beobachter für einen guten Grund für serielles Töten hält, als über die tatsächlichen Gründe für das Töten. Eine generische Erklärung für den Serienmörder als spezifische Kategorie indes bieten auch sie nicht.

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Prämissen

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Es scheint also, als bestimmten in erster Linie Projektionen unser Denken über Serienmörder. Demnach muss sich unsere Deutungsanstrengung nicht nur auf die Erforschung der Ursachen von Serienmord richten, sondern parallel dazu immer auch auf die Umstände der Produktion der Projektionen, darauf also, warum es uns so schwer fällt, Serienmord wirklich zu erklären, und warum wir zu Projektionen greifen, um diese Handlungen einzuordnen.

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Wenn es unser Denken über Serienmord ist, das diese Projektionen hervorbringt, dann sollte vielleicht doch die Philosophie die Wissenschaft unserer Wahl sein. Der Serienmörder ist aber eine beachtliche Herausforderung für sie, denn sie muss zunächst klären, wie weit das Feld ihrer Expertise reichen soll: Muss sie sich auf die Projektionen beschränken oder kann sie einen substantiellen Beitrag zur Erforschung der Ursachen von Serienmord leisten? Muss sie dieses Feld wie bisher der Psychologie, der Psychopathologie und der Kriminologie überlassen oder kann sie neue Bereiche aufschließen, neue Fragen stellen und neue Antworten über Serienmörder finden?

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Die Beiträgerinnen und Beiträger im vorliegenden Sammelband scheinen davon auszugehen, dass sie es kann. Das ist deshalb vorsichtig formuliert, weil weder in der Einleitung der Herausgeberin Sara Waller noch in den Beiträgen diese wichtige Unterscheidung zwischen Erklärung und Projektion explizit erörtert wird. Waller setzt hingegen an bei der Feststellung, dass die Beschäftigung mit dem seriellen Töten etwas der Philosophie bislang Fremdgebliebenes sei: »Death, for philosophers, has usually been approached as something that happens to us, not as something that killers do« (S. 1). Moral- und Rechtsphilosophen, denen Mord oder andere böse Handlungen immer schon Gegenstand waren, werden dem sicherlich widersprechen. Außerdem führt der Satz auf eine falsche Fährte: Nicht um den Tod als Folge der Handlungen eines Serienmörders geht es; vielmehr sei der Band »a philosophy book on practicing death« über jene, »who hasten the death of others in a systematic, premeditated fashion: serial killers« (S. 2).

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Ein Philosophiebuch über Serienmörder also, aber eines, das mit einer unzulässigen Engführung beginnt, denn die Vorstellung vom systematischen Serienmord gehört zu den Mythen über diese Taten und basiert eben gerade nicht auf philosophischer Reflexion zum Beispiel über den freien Willen. Dass dieser Vorstellung hier dennoch gefolgt wird, erklärt sich, wenn deren Quelle genannt wird: das umstrittene Crime Classification Manual des FBI. Dort wird Serienmord definiert als »premeditated, involving offense-related fantasy and detailed planning«, mit einer »cooling-off period« zwischen den Morden. 3 Daraus zieht Waller den durchaus unkritischen Schluss: »Now we know that serial killers are calculating, detail-oriented, and precise« (S. 4).

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Fiktionale Figuren wie John Doe aus David Finchers Erfolgsfilm Sieben (1995), der mit seinen Morden methodisch die sieben Todsünden nachstellt, kommen in den Sinn. Wirkt hier der Hollywood-Effekt? Die Verarbeitung des Serienmordmotivs im Film prägt spätestens seit The Silence of the Lambs (1991) unsere Wahrnehmung des Themas. An diese knüpft der Band auf gewisse Weise an: Er ist erschienen in der Reihe »Philosophy for Everyone« des englischen Verlags Wiley-Blackwell, deren Bände sich unter anderem mit »Running and Philosophy«, »Dating«, »Beer« und so weiter beschäftigen und zum Denken »not just about the Big Questions, but about little ones too« anregen wollen. Das ist ein interessanter Ansatz, zeigt aber auch, dass vom vorliegenden Band keine philosophischen Wundertaten erwartet werden können.

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Dennoch hätte man sich gerade von der Einleitung und bei der Auswahl und Strukturierung der Themen einen systematischeren Ansatz gewünscht. Eine Schärfung der Perspektiven und die Unterscheidung zwischen Erklärung und Projektion hätten erlaubt, präziser danach zu fragen, was die Philosophie wirklich zur Erforschung des Täters beitragen kann. Anders gefragt: Kann die Philosophie zuständig sein für eine Erscheinung des Menschseins, die geprägt ist von der unmittelbaren Unerklärlichkeit des Handelns dieses Menschen? Waller scheint zu meinen, dass es sogar allein die Philosophie ist, die Antworten findet, wo andere versagen: »As soon as things get complicated – because they are hard to define, difficult to explain, and not easily settled by the numbers alone – we start to ask why? And it is here that facts end and philosophy begins« (S. 6).

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Dieser zweiten Prämisse der Einleitung liegt ein eher schlichtes Verständnis von Philosophie und ein eher klischeehafter Zugang zum scheinbar Unerklärlichen zugrunde: Die Philosophie wird in die Nähe faktenloser Spekulation gerückt und der Serienmörder in ein metaphysisches Reich des unerklärlichen Bösen abgeschoben. Nun greifen wir ja gerne zur Metaphysik, wenn wir etwas nicht erklären können. Aber dass der Serienmörder zu den ›letzten Dingen‹ gehören und damit auf einer Stufe stehen soll mit Fragen danach, ob es einen Gott gibt oder einen letzten Sinn – das geht dann doch sehr weit. Dieser Impuls mag den Alltagsvorstellungen entsprechen; für einen, wenn schon nicht wissenschaftlichen, dann wenigstens doch reflektierten Umgang mit dem Thema ist das zu wenig.

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Die Einleitung erfüllt den Anspruch auf vertiefte Reflexion also nicht, denn sie versäumt nicht nur die methodische Schärfung, sondern auch die Rahmung durch eine übergeordnete Fragestellung. Die Beiträge werden unter kreative Überschriften geordnet, haben jedoch nur lose etwas mit diesen zu tun. Es entsteht der Eindruck, als hätte Waller ohne Vorgaben um Beiträge zum Thema gebeten und diese dann nach Ähnlichkeit gruppiert. Das ist legitim, aber für ein »philosophy book« merkwürdig ›unphilosophisch‹.

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Doch wie sieht es mit den Beiträgen selbst aus? Das wichtigste Ergebnis gleich vorweg: Keiner (!) der Beiträge beschäftigt sich genauer mit den Ursachen von Serienmord. Vielmehr wird zumeist schlicht vorausgesetzt, dass Serienmörder Psychopathen seien, unfähig, (eigene) Handlungen als unmoralisch einzuordnen, unfähig zur Empathie. Man könnte zwar sagen, dass »Psychopathie« doch eine hinreichende Antwort sei. Aber es gibt weitere Fragen: Warum äußert sich Psychopathie bei manchen Menschen im seriellen Töten? Wenn jeder Serienmörder psychopathische Züge hat, warum wird nicht jeder Mensch mit psychopathischen Zügen zum Serienmörder? Die Autor/innen beschäftigen sich also nicht mit den tatsächlichen Ursachen von Psychopathie und von Serienmord, sondern vielmehr mit den (philosophischen) Folgen, die die Kategorisierung des Serienmörders als Psychopath für den externen Beobachter mit sich bringt. Ohne dies zu thematisieren, arbeiten sich die Beiträge also an den Projektionen ab, nicht aber an den Erklärungen.

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Psychopathologie

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Richard Gray gibt eine Übersicht über die wichtigsten Merkmale von Psychopathen. Für ihn ist es die Unfähigkeit zur Empathie, die zu Serienmord führe. Den Bezug zur Philosophie stellt Gray her, indem er den Serienmörder charakterisiert als jemanden, der zwar um die Konzepte von gut und böse wisse, bei dem aber konventionelle Moralität ersetzt sei durch »an incapacity for normal human affection. As a result, his highest good becomes the will to power over others« (S. 202; kursiv im Original). Der Serienmörder aber sei eben gerade nicht Nietzsches »Übermensch«, da es ihm an der Fähigkeit fehle, Einsicht in die moralischen Kategorien zu haben, die für deren Überwindung jedoch zwingend nötig sei. Der Serienmörder teilt demnach, als Zerrbild des Übermenschen, mit diesem das Wollen, nicht aber das Können.

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Manuel Vargas fragt, ob psychopathische Serienmörder für ihre Taten verantwortlich sein können. Wenn die Einsichtsfähigkeit in das Unmoralische einer Handlung fehle, sei es schwierig, Verantwortlichkeit zuzuschreiben; das aber »leaves us a bit unhappy« (S. 76). Gegen dieses beunruhigende Gefühl bringt Vargas »evil« (»people or actions that desire to see other people harmed for no reason beyond the desire itself«) in Stellung: »Evil – profound, genuine, really superbad evil in the sense we’ve been talking about – just doesn’t require responsibility« (S. 75). Was aber sollen wir mit dem »bösen«, nicht verantwortlichen Serienmörder tun? Außer »quarantine« und weiteren, unguten biologistischen Begriffen (»disease«, »carriers«, »nature gone wrong«) fällt Vargas dazu wenig ein.

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Warum uns die Taten von Serienmördern abstoßen, zeigt Chris Keegan auf: »It is the violation of our moral expectations that repulse us« (S. 137). Keegan arbeitet diese These anhand Habermas’ Theorie der kommunikativen Rationalität aus. Diese Rationalität (die Fähigkeit, andere zu verstehen und uns verständlich zu machen) sei ein Wesensmerkmal des Menschen und Voraussetzung, anderen mit Empathie zu begegnen. Sie sei damit die Basis jeder Moral; das Fehlen oder der Verlust der kommunikativen Rationalität könne sogar Psychopathie bedingen. Der Serienmörder verletze demnach unsere moralischen Erwartungen, weil er unfähig sei, andere Menschen empathisch wahrzunehmen und er sie zu Objekten degradiere. Glaubt man Habermas’ Theorie über die Entwicklung des Moralbewusstseins beim Individuum, ist das ein interessanter Ansatz, Psychopathie zu deuten. Die Existenz von Serienmördern aber, denen die kommunikative Rationalität vermeintlich fehlt, stellt eine Herausforderung für Habermas’ Theorie dar, die lediglich die Idealentwicklung des Moralbewusstseins abzubilden imstande ist und eben nicht erklärt, wie es zur Fehlentwicklung kommen kann und welche Folgen diese für das Individuum hat. Wie der Serienmörder seine kommunikative Rationalität verlieren konnte oder warum er sie nie hatte, bleibt dann auch bei Keegan im Dunkeln.

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Eine kritische Haltung gegenüber der Erklärung, Psychopathen (und Serienmördern) fehle die Fähigkeit zur Empathie, nimmt Andrew Terjesen ein. Er diskutiert verschiedene Bedeutungsebenen des Begriffs und schlussfolgert, dass es nicht ihr Fehlen sei, das Serienmörder töten lasse, denn viele von ihnen erleichterten sich das Töten durch eine unpersönliche Beziehung zum Opfer – gerade weil sie fähig seien zur Empathie. Vielmehr sei die Unfähigkeit von Psychopathen, sich die Folgen ihrer Taten auszumalen in Kombination mit fehlender Selbstkontrolle Grund für ihre Taten.

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Moralphilosophie

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Andere Beiträge bewegen sich – eher unsystematisch – im Umfeld der Moralphilosophie. Gleich drei Aufsätze beschäftigen sich mit einer fiktionalen Figur, dem serienmordenden Serienhelden »Dexter«. Der durch den Mord an seiner Mutter seit der Jugend traumatisierte Dexter Morgan arbeitet als Forensiker für die Polizei – und tötet seriell jene Übeltäter, die ohne Bestrafung davonkommen. Kein Wunder, dass sich ihr mehrere Aufsätze widmen, denn Dexter ist als eine moralische Serie mit einem basalen moralischen Dilemma (kann man das Böse akzeptieren, wenn es vermeintlich Gutes tut?) angelegt.

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Matthew Brody traktiert die Serie mit vier ethischen Tests: Dexters Taten sind moralisch, da er nur Bösewichte tötet und so die Gesellschaft schützt; »Dexter serves society in washing its blood guilty hands, without necessitating other citizens to bloody their own« (S. 85); kontextrelativ können Dexters Taten entweder Sünden (Serienmord) oder Tugenden (Schutz der Gesellschaft) sein; wir würden lieber in einer Gegend leben, in der Dexter für Sicherheit sorgt. Susan Amper spricht ähnliche Aspekte an, fokussiert jedoch stärker auf die moralisch ambivalente Identifikation des Zuschauers mit Dexter.

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William E. Deal vergleicht Dexter mit dem echten Serienmörder John Wayne Gacy und argumentiert, dass wir aufgrund unterschiedlicher kognitiver Rahmungen geneigt seien, dem als Kind traumatisierten Dexter Sympathie entgegen zu bringen, während uns die Taten eines mörderischen Psychopathen wie Gacy entsetzen. Dem muss wohl widersprochen werden, dann dass Deal für die Rahmung »traumatisiertes Kind« einen fiktiven Serienmörder heranzieht, zeigt vielmehr, dass wir eher fiktionalen Figuren Sympathie entgegen bringen, echte Mörder (viele von ihnen im Übrigen als Kinder traumatisiert) uns hingegen entsetzen.

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Auch der Beitrag von Amanda Howard bringt moralphilosophische Aspekte. Sie stellt Serienmörder als Vertreter eines moralischen Skeptizismus dar, die sehr wohl um gut und böse wüssten, aber einfach durch stärkere Faktoren als moralische Codes oder Mitgefühl motiviert seien. Eine Antwort, welche Faktoren das sind, bleibt Howard schuldig.

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Faszination und Vorurteile

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Den Gründen, warum uns Serienmörder so faszinieren, gehen Eric Dietrich und Tara Fox Hall nach. Menschen hätten ein eigenartiges Verhältnis zu »fear and pleasure«, da sie sich nicht nur dem Guten, sondern auch dem Bösen, dem Gefährlichen, zuwenden würden: »Just because we are frightened doesn’t mean we aren’t enjoying ourselves« (S. 97). Dies gelinge jedoch nur innerhalb eines schützenden Rahmens (etwa beim Film), der jedoch gleichzeitig das Mitgefühl für Opfer und damit die Basis für moralische Regeln beseitige und so den Weg für die faszinierte Identifikation mit zum Beispiel dem regelbrechenden Serienmörder – dem »avatar of ultimate freedom« (S. 101) – frei mache.

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Der ultimative Avatar ist natürlich Hannibal Lecter. J. S. Piven fragt, warum wir diesen Mörder so anziehend finden: Wegen seines trockenen Humors und seiner Intelligenz? Weil er die nervigen Trottel tötet? Aber: »These tend to be our own fantasies« (S. 207). Wir projizierten unsere dunkelsten Impulse und schlechtesten Qualitäten auf andere: »scapegoating is indeed a sort of demonization« (S. 212). Was aber wissen wir wirklich vom Serienmörder? Was wollen wir überhaupt vom Serienmörder wissen? Piven folgt der These, dass Gewalt oft das Ergebnis von Ohnmacht, Beschämung und Missbrauch in der Kindheit sei und in Phasen reife (»violentization«). Der Serienmörder wiederholte seine traumatischen Erlebnisse, wobei das Opfer nicht für die Täter seiner Kindheit stünde, sondern für ihn selbst: »Serial killers repeat their catastrophic woundedness by inflicting it on others« (S. 215). Für Piven liegt hierin die Erkenntnis: Dass die Angst vor Serienmördern auf unsere eigene Verletzlichkeit verweise und darauf, dass auch wir unter ähnlichen Umständen zu solcher Grausamkeit fähig wären.

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Unseren Vorurteilen gegenüber Serienmördern geht auch Mark Alafano nach. Er zeigt, wie in Strafprozessen »Attributionsverzerrungen« (etwa die Einschätzung, ob eine Handlung gute oder schlechte Auswirkungen nach sich zieht) zu unterschiedlichen Urteilen und vorschnellen Schlüssen führen kann. Untersuchungen zeigten, dass etwa ein Gefühl des Ekels Mitglieder einer Jury eher dazu bringt, eine Handlung als strafbar zu interpretieren.

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Von einem weiteren Beispiel für den vorurteilsvollen Umgang mit Serienmördern berichtet David Schmid. Er untersucht den Fall von Ian Brady, der zusammen mit seiner Geliebten Myra Hindley zwischen 1963 und 1966 mindestens fünf Kinder und Jugendliche tötete. Im Prozess war neben Bradys Taten auch sein Bücherschrank Thema; die Presse meinte, dass dessen Beschäftigung mit de Sade und Nietzsche zu den Morden geführt habe. Die war Brady vielleicht eine rationalisierende Legitimation für seine Taten; die Annahme, dass die Nietzsche-Lektüre Motivation zum Morden war, hat Projektionscharakter und erinnert an Debatten über Schund- und Schmutzliteratur.

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Projektionen sind auch die Namen, die wir Serienmördern geben. Wendy Zirngibls Beitrag nähert sich metapherntheoretisch diesem Phänomen. Werde eine Metapher, zum Beispiel »Wolf« oder »Werwolf« benutzt, um einen Serienmörder zu bezeichnen, gingen Qualitäten des Begriffs (einsam, umherziehend, kreatürlich, instinktiv-brutal, gefährlich und so weiter) auf den Bezeichneten über. Mit den tierischen Metaphern gehe Zoomorphismus und damit eine Dehumanisierung des betreffenden Menschen einher.

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Weitere Aspekte

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Serienmörder geben sich auch selbst Namen: Der »Zodiac Killer« fantasierte Ende der 1960er Jahre in kruden, codierten Briefe an kalifornische Zeitungen, dass ihm seine Opfer im Paradies als Sklaven dienen würden. Da er nie gefasst wurde, stehe, so Andrew M. Winters, die Gesellschaft weiterhin unter dessen Beobachtung. Die Briefe des Serienmörders machten deutlich, »what it is like to experience being looked at by another person« (S. 20). Winters folgt damit dem phänomenologischen Ansatz Jean-Paul Satres, der im Angeblickt-Werden durch den anderen den Moment identifiziert, in dem sich das Individuum als Objekt wahrnimmt und als verletzbar durch andere Individuen. In diesem Fall durch einen Serienmörder: »Through his letters we have come to realize that we are in danger and that while Zodiac remains free, it is a permanent feature of the world that we are in danger« (S. 22).

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Alarmismus und die dem Serienmörderdiskurs inhärente Konstruktion einer permanenten Bedrohung werden, ebenfalls diskursgemäß, regelmäßig mit dem Mythos des Profilers, zumindest mit dem Hinweis auf die Organe des law enforcement gekontert. Folgerichtig kommen im Band auch zwei Polizistinnen zu Wort, interviewt von der Herausgeberin. Während jene von ihrer Arbeit berichten, fühlt sich diese unvermittelt und zusammenhanglos an philosophische Konzepte erinnert: DA: »I only met one person in 15 years that I would consider ›evil‹. He didn’t have a conscience and he wasn’t a murderer … He was a rapist.« // SW: »There’s plenty of philosophy in that comment as well. First, we can ask whether feeling remorse over an action that harms someone makes you a better person or not. […]«(S. 180). Wirkliche Erkenntnisse liefert das Interview nicht.

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Als letzter Beitrag soll der mit »Killing with kindness. Nature, nurture and the female serial killer« überschriebene Aufsatz von Elizabeth und Harold Schechter besprochen werden. Dieser wird eröffnet mit der Feststellung, dass die Überzeugung, nur Männer seien zu Gräueltaten wie Serienmord fähig, sexistisch sei. Auch Frauen begingen seriell Morde; der empirisch nachweisbare Unterschied liege in Art und Weise der Begehung: Männer tendierten zu phallisch-aggressiven Tatausführungen, Frauen zu »the tender administration of a lethal potion to a loved one« (S. 119). Den Schechters ist das dünne Eis, auf dem sie sich bewegen, sehr bewusst, und es gelingt ihnen, präzise herauszuarbeiten: Serienmörderinnen bestätigten und unterminierten die üblichen gender-Stereotypen – gleichzeitig: Als »Todesengel« (Mord aus Mitleid), als »Schwarze Witwe« (Giftmord an Ehemännern) oder als Teil eines »killer couple« (die zur Teilnahme an Morden verführte, dem eigentlich sadistischen Mann hörige Frau) entsprechen Serienmörderinnen der stereotypen Vorstellung einer ›natürlichen‹ Weiblichkeit. Allein die Existenz von Serienmörderinnen aber störe dieses stereotype Bild des Femininen, da sie eine grotesk entstellte Form von traditionell ›weiblichen‹ Eigenschaften darstellten: »fatal care-taking, lethal nurturing, depraved romantic devotion« (S. 124). Die Spannung, die so zwischen dem Bild von Weiblichkeit und der Realität von Serienmörderinnen entstehe, beruhe auf der fehlenden Reflexion, dass die projizierten Eigenschaften von Serienmördern (Unbarmherzigkeit, Egoismus, Unfähigkeit zur Empathie) geschlechtsunabhängig sind – weil sie menschlich sind. Die schiere Quantität des Bösen in der Welt erlaube nur den Schluss, »that much of this darkness is born in us. And that we are born with it«. Unser schlichter Versuch, Serienmörder zu außermenschlichen Monstern zu machen, werde hintergangen durch die Ahnung, »that monsters, too, have a human nature. But they do. […] This is why we suggest that they, too, male and female, speak a part of the truth about us all« (S. 126).

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Fazit

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Serienmörder sprechen die Wahrheit über uns alle. Eine weitere Provokation? Sicherlich. Und dann doch mitnichten. Denn es scheint, als könne der Serienmörder mehr über das Wesen des Menschen aussagen, als man sich bei seinen Taten so denken würde – eben weil er ein Mensch ist, und als solcher zu diesen Taten fähig. Der Serienmörder eignet sich also sehr wohl zum philosophischen Studienobjekt – nicht im Hinblick auf die negative Definition der Grenzen, was noch menschlich ist und was nicht, sondern im Hinblick darauf, wozu der Mensch innerhalb seines Mensch-Seins so alles fähig ist.

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Dies zu verdeutlichen, ist den Beiträgen im vorliegenden Sammelband nur in Ansätzen gelungen. Hier liegt noch viel Arbeit vor der Philosophie, aber sie sollte sich lohnen, denn wenn die Philosophie danach fragt, was den Menschen ausmacht, dann ist es nur konsequent, wenn sie auch danach fragt, was den Serienmörder ausmacht. Sie steht damit neben Psychiatrie, Psychologie, und Kriminologie. Und vielleicht ist die Philosophie sogar viel eher dazu berufen als diese, die Frage nach dem Wesen des Serienmörders zu beantworten, da sie ihn als Teil der Möglichkeitserscheinungen des Menschen verstehen kann, während die normalisierenden Wissenschaften ihn eher als Ausnahme vom Menschsein zu verstehen pflegen.

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Ich töte, also bin ich – mit diesem provokanten Satz begann diese Besprechung. Und die Schechters (und nicht nur sie) sagen: Die Gewalt gehört untrennbar zum Menschen; mit Kant könnte man auch vom »radikal Bösen« sprechen, vom Hang des Menschen zur Abweichung von den Maximen des moralischen Gesetzes. Wenig provokativ könnte diese Besprechung nunmehr so enden: Ich bin, also töte ich.

 
 

Anmerkungen

Roy Baumeister: Evil. Inside Human Violence and Cruelty. New York: Henry Holt 2001, S. 1.   zurück
Alexandra Thomas: Zehn Mythen über Serienmord. In: Frank Robertz, Frank / A. T. (Hg.): Serienmord. Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens. München: Belleville 2004, S. 527–528, hier S. 528.   zurück
John E. Douglas et al. (Ed.): Crime Classification Manual. A Standard System for Investigating and Classifying Violent Crimes. 2nd Edition. San Francisco: Jossey-Bass Publishers 2006, S. 96 f.   zurück