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„Alfred Andersch revisited“ - die Diskussion geht weiter

  • Jörg Döring / Markus Joch (Hg.): Alfred Andersch 'revisited'. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Walter de Gruyter 2011. 384 S. 53 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-026826-3.
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Die unendliche Debatte

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Ging es eigentlich um Alfred Andersch, ging es eher um W.G. Sebald oder ging es letztlich um die Germanistik der Literatur der deutschen Nachkriegszeit, d.h. vor allem um die Gruppe 47 und damit um Fragen der Aufarbeitung von NS-Diktatur und Holocaust am Ende und im Rückblick auf die alte Bundesrepublik Deutschland? Ein langer Satz – für ein komplexes Problem, das ab den 1990er Jahren eine dieser heftigen Kontroversen auslöste, wie sie um Christa Wolf, Peter Huchel, Martin Walser, die Gruppe 47, Günter Eich, Wolfgang Koeppen, Luise Rinser, Günter Grass u.a. aufflackterten und wieder verlöschten. Was Andersch betrifft, so ist zu bemerken, dass es um diesen Schriftsteller ohne eine Kontroverse längst stiller geworden wäre und wohl auch nach ihr keine wesentliche Änderung eingetreten ist bzw. eintreten wird. Und doch besteht weiterhin ein Interesse an den von der nun schon bald 20 Jahre zurückreichenden Debatte aufgeworfenen Fragen, wie der vorliegende Tagungsband beweist. Sein Titel knüpft an den Aufsatz von Irene Heidelberger-Leonhard (»Andersch revisited«, ZfdPh 114, 1995, Sonderheft, S. 36–49) an, in dem die Autorin ihre frühere Einschätzung von Andersch revidierte: »Sich heute mit Anderschs Werk auseinanderzusetzen, bedeutet nichts weniger als die eigenen Vorstellungen, möglicherweise sogar die eigenen Verblendungen zu hinterfragen.« (S. 36). Ähnlich sprach Klaus Briegleb, W.G. Sebalds gedenkend, von seiner »einstigen Blindheit bei der Lektüre der Romane« Anderschs. 1

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Eine neue Zusammenfassung

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Der vorliegende Band versammelt wichtige Kontrahenten (z.B. St. Reinhardt, R. Seubert), referiert aus verschiedenen Perspektiven den Gang der Andersch-Kontroverse und bietet neue Quellen in Verbindung mit methodischen Neuüberlegungen (z.B. Textphilologie, historische Quellenkritik, intertextuelle Interpretation, feldtheoretische Analyse, Diskursanalyse). Er formuliert so den neuesten Forschungsstand, der freilich kein einhelliger ist und wohl auch nicht sein kann. Natürlich wäre es hervorragend gewesen, hätte man auch das Urteil des Herausgebers der Gesammelten Werke von Andersch, Dieter Lamping, aber auch das Urteil von z.B. Volker Wehdeking, Irene Heidelberger-Leonhard, Stephan Braese oder Helmut Peitsch expliziter vernehmen können, als es durch viele Fußnotenverweisungen geschehen ist. Auch hätte strenggenommen der die Debatte auslösende Aufsatz von W.G. Sebald, »Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung« (1993), dazu gehört.

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Es bleibt das Verdienst des Bandes, so wie er vorliegt, dass er den beiden Phasen der Andersch-Debatte, die es in Wahrheit gibt und die nicht ohne weiteres miteinander vermengt werden dürfen, Rechnung trägt.

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Die zwei Phasen der Andersch-Debatte

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Grundlage der ersten Phase der Debatte war die umfassende Monographie St. Reinhardts, Alfred Andersch. Eine Biographie (1990). Die dort mitgeteilten neuen Fakten über Anderschs Bemühungen, als Schriftsteller in die NS-Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden und sich (deswegen?) von seiner ›halbjüdischen‹ Frau Angelika Andersch 1943 scheiden zu lassen sowie sein nicht unopportunistisches Verhalten im amerikanischen Kriegsgefangenenlager Fort Hunt motivierten Sebald 1993 zu seiner Attacke auf die moralisch-ästhetische Integrität Anderschs. Es folgte die im Feuilleton ausgetragene Debatte, in der der Angreifer mehr und mehr zum Attackierten wurde, wie zuletzt die Andersch-Werkausgabe (2004) belegte. Dabei mochte auch der überraschende Tod Sebalds (2001) eine Rolle gespielt haben, denn wehren konnte Letzterer sich nicht mehr.

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2008 kam es jedoch zu einem neuen Schub in der Andersch-Debatte, die als zweite Phase zu betrachten ist. Sie wurde wiederum durch neue, gewichtige Aktenfunde und darauf basierende Quelleninterpretationen ausgelöst. Auf der einen Seite edierten die Andersch-Tochter Annette Korolnik-Andersch und ihr Mann, Marcel Korolnik, den Sammelband Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt in Texten, Bildern und Dokumenten (München 2008) mit neuen Blicken u.a. auf Anderschs Verhalten vor 1945. Hier ragt der Aufsatz »Alfred Andersch im Nationalsozialismus« (S. 30–41) des Historikers Johannes Tuchel heraus. Auf der anderen Seite warf die Veröffentlichung und Auswertung von bisher unbekannten Dokumenten durch J. Döring/R. Seubert (2008) und F. Römer (2010), auf die noch eingegangen wird, ein neues Licht auf Anderschs Scheidungsgeschichte bzw. auf sein Verhalten als Kriegsgefangener in den USA.

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Diese Publikationen stimulierten die Frankfurter Tagung »Andersch ›revisited‹«am 19.11.2010, aus der das Gros der Beiträge des vorliegenden Bandes (Döring, Seubert, Römer, Ritter, Joch, Reinhardt, Williams) hervorging. Damit ist jedoch auch, das sei vorweg bemerkt, ein Problem bezeichnet, das für die Tagung wie für den Band gilt: Nur etwa ein Drittel der Aufsätze sind neue Beiträge, die restlichen zwei Drittel sind (argumentative, nicht wörtliche) Wiederaufnahmen, etwa aus den Jahren 2000–2010. Nicht zuletzt diese Genese führt zu gewissen Redundanzen bzw. Überschneidungen, bietet aber auch bemerkenswerte Verfeinerungen der Argumentation (z.B. bei Seubert und Joch). Wenn im Folgenden die Hauptergebnisse des Bandes referiert werden, bleiben diese Doppelungen und auch die Rückverweise auf frühere Veröffentlichungen unberücksichtigt.

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Die Kirschen der Freiheit: Was die Handschrift verrät

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Jörg Döring zeigt in seinem Beitrag »Zur Textgenese von Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit. Eine Autopsie ausgewählter Passagen des handschriftlichen Befundes« (S. 13–45), wie aufschlussreich (und wie sträflich bisher vernachlässigt) die philologische Untersuchung der in Marbach greifbaren Handschriften von Anderschs Werken ist. Die Überprüfung der Entwürfe in der Handschrift zu Die Kirschen der Freiheit ergab folgende Erkenntnisse: Anderschs ursprüngliche Absicht war es, mit diesem Bericht einen Lebensabriss zu bieten, der von den Münchener Anfängen bis etwa 1948 reichen und dabei auch die Ehe-/Scheidungsgeschichte enthalten sollte. Änderungen und Streichungen signalisieren einen einschneidenden Konzeptionswandel und führten zu einer Druckfassung, in der nun – als »unsichtbarer Kurs« – alles auf den Akt der Desertion (militärisch, existentiell) zugespitzt wurde. Andersch ließ aus diesem Grund weg und strich, was dem entgegenstand – und sei es die faktische Wahrheit wie z.B. Details aus dem KZ Dachau, die Ehescheidung, den Aufnahmeantrag in die RSK, Details der Desertion. Die von Andersch »bis zuletzt als die gültige und exklusive Form seiner autobiografischen Selbstmitteilung« (S. 13) angesehene Darstellung, von D. Lamping als zulässig authentischer autobiographischer Bericht noch in den Gesammelten Werken, Bd. 5, behandelt, ist daher in entscheidenden Punkten eine Dichtung ohne historische Wahrheit. Auch wenn jeder autobiographische Text per se Auslassungen, Irrtümer, Fehldeutungen, Schönfärbereien, wunschbiographische Modellierungen und Hinzugedichtetes bis hin zu dem enthält, was Walter Moßmann in seiner Autobiographie als »wahrheitsgetreu gefälschte Erinnerungen« bezeichnet hat – darf das und mehr freundlich akzeptiert werden, wenn ein Autor sich nach 1945 aus Gründen, die er verschweigt, eine veränderte Identität zulegte? (Be)schützt Schriftstellersein denn vor allem?

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Was die Historiker den Andersch-Germanisten bieten

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Der Beitrag von Rolf Seubert »›Mein lumpiges Vierteljahr Haft…‹ Alfred Anderschs KZ-Haft und die ersten Morde von Dachau. Versuch einer historiografischen Rekonstruktion« (S. 47–146) ist mit 100 Seiten der längste des Bandes. Die akribische Nachforschung in den einschlägigen Archivalien der Bayerischen Politischen Polizei, der Haftanstalten Stadelheim und Landsberg sowie dem KZ Dachau bringt ans Licht: Andersch war nicht, wie er angab, ein führendes Mitglied im Kommunistischen Jugendverband Südbayerns, sondern »kaum mehr als ein aktives Mitglied seiner kleinen Neuhauser Gruppe« (S. 53); ein nach seiner Verhaftung am 10.3.1933 erfolgter, späterer Aufenthalt in Landsberg und im KZ Dachau ist aus verlässlichen Quellen nicht belegbar. Weiter: Die Haftdauer war nicht, wie Andersch angab, ein »lumpiges« Vierteljahr, sondern es waren maximal 6 Wochen (so schon Tuchel 2008). Seuberts Fazit über Anderschs Darstellung in den Kirschen: »Es sieht so aus, als habe die Erzählung seiner KZ-Haft und der angeblichen Verfolgung während der gesamten NS-Zeit vor allem dazu gedient, die spätere Desertion aus der Wehrmacht mitsamt der Begründung als Konsequenz echter ›antifaschistischer‹ Haltung erscheinen zu lassen.« (S. 138).

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In der knappen »Respondenz zum Beitrag von Rolf Seubert: ›Mein lumpiges Vierteljahr …‹« (S. 147–151) unterstreicht Johannes Tuchel Seuberts Ergebnisse, auch als wichtige Ergänzungen seiner 2008 veröffentlichten Nachforschungen. Er hält Anderschs Fehldarstellungen in vielen Fällen sogar für noch »gravierender« (S. 148), will sich aber auf eine Interpretation möglicher Gründe nicht einlassen. Wie schon für Seubert ist auch für ihn Reinhardts entsprechende Darstellung in dessen Andersch-Biographie nicht mehr aufrechtzuerhalten.

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Dem schließt sich der Historiker Felix Römer in seinem Beitrag »Literarische Vergangenheitsbewältigung. Alfred Andersch und seine Gesinnungsgenossen im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt« (S. 153–188) an. Er kommt bei der Beurteilung seines Quellenfundes in den Vernehmungsakten von Fort Hunt zu einem kritischen Ergebnis: Andersch hatte 1941 seinen Ausschluss vom Kriegsdienst selbst initiiert (mit Hinweis auf seine Ehe mit einer ›Halbjüdin‹), verschwieg dann aber in Fort Hunt die Scheidung und nahm auch (noch) nicht in Anspruch, desertiert zu sein, so dass Römer das Faktum der Desertion als »nicht mit Gewissheit zu beurteilen« (S. 167) einstuft. Auch für die von Andersch in den Kirschen formulierte antimilitaristische Haltung gibt es für ihn weder in den Akten von Fort Hunt noch in der Zeitschrift Der Ruf Belege.

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Zwischenfazit und die Frage: Kommt noch mehr?

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Im Blick auf diese ersten Beiträge, die ja auch »im Zeichen der Sebald-Debatte« zu positionieren sind, lässt sich mit J. Döring knapp formulieren: »Sebald wußte gar nicht, wie recht er hatte« (S. 40), denn alle diese neuen Fakten kannten weder er noch der Andersch-Biograph Reinhardt. War es bis dahin, also bis etwa 2008, noch irgendwie möglich, die Andersch-Kritik als biographistisch zurückzuweisen, so geht das jetzt nicht mehr so einfach. Und wenn noch weitere Funde hinzukommen sollten, etwa aus amerikanischen und deutschen Militärakten zu den Kämpfen in Mittelitalien 1944, die erhalten sind, dann umso mehr.

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Ob man Alexander Ritters Beitrag »Zur Causa Andersch: Symptome einer verschwiegenen Adaption« (S. 189–252) bereits zu solchen Entdeckungen hinzurechnen sollte, ist vorerst wohl noch nicht sicher. Hat Andersch seinen Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957) wirklich nach dem negativen Vorbild des Romans Mein Freund Sansibar (1938) der NS-Erfolgsautorin Kuni Tremel-Eggert verfasst? Die akribisch aufgefundenen intertextuellen Bezüge vom Titel über Schauplatz bis zu Personen und Handlung können letztlich erst dann den Vorwurf der »verschwiegenen Adaption« rechtfertigen, wenn sich das Leseexemplar und entsprechende Notizen in dem Teil des Andersch-Nachlasses auffinden ließen, der bisher noch nicht der Öffentlichkeit zugänglich ist.

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Ein neuer Ansatz

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Den gewichtigsten Beitrag zum Thema liefert Markus Joch mit seinem Aufsatz »Erzählen als Kompensieren. Andersch revisited und ein Seitenblick auf die Sebald-Effekte« (S. 253–296). Joch bringt die von Sebald angestoßene Debatte über die moralisch-ästhetische Qualität des Schriftstellers Andersch auf ein neues Niveau – nicht zuletzt durch seinen expliziten Widerspruch zu den Urteilen des Gesammelte Werke-Herausgebers Dieter Lamping, der 2004 Sebald ›erledigt‹ zu haben schien. Man darf auf dessen Reaktion gespannt sein. Jochs zentrale These ist: Anderschs Werk und Worte speisen sich bis 1957 aus einer fragwürdigen Kompensation seiner Verfehlungen vor 1945, mit der er sich eine »Aura des Widerständlerischen« (S. 254) zuschrieb, die ihm nicht zustand angesichts der Formen tatsächlichen Widerstandes gegen Hitler-Deutschland. Ab 1958, mit dem Umzug ins Tessin und dem Rückzug aus dem literarischen Betrieb der Bundesrepublik, wich diese angemaßte Aura einer zu respektierenden »Ästhetik der Scham« (S. 254). Diese These belegt Joch durch textnahe Interpretationen des Essays Deutsche Literatur in der Entscheidung (die er eine »faktuale Erzählung« nennt, S. 253), des Berichts Die Kirschen der Freiheit und Sansibar oder der letzte Grund einerseits sowie des Romans Efraim (1967) andererseits. Er sieht die Zwecklügen bis 1945 und die Erfindung der Desertion (Joch nennt sie »freiwillige Gefangennahme«, S. 266) 2 mit Bourdieu als gezielte Konstruktionen ex post zur Erlangung eines Alleinstellungsmerkmals (»symbolisches Kapital«), das der junge Autor im neu entstehenden literarischen Feld der Bundesrepublik zu haben wünschte – was ihm dann auch erfolgreich gelang. Der Preis war die Verdrängung der Fakten und auch des Makels (»Schuld«), dem er sich aber in den 1960er Jahren mehr und mehr überzeugend stellte (vgl. S. 290f.). Eine Überprüfung am späteren Werk steht aber noch aus.

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Die Antwort der Verteidiger und das Sebald-Problem

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Stephan Reinhardts Entgegnung (»Das Erproben von Alternativen, aber nicht ›Transsubstantiation von Schuld bzw. Mitschuld in Schuldfreiheit‹«, S. 297–315) auf die Kritik an Teilen seiner Andersch-Biographie ist dagegen wenig ergiebig. Er antwortet auf Vorwürfe, die ihm im Band nicht gemacht werden (vgl. seine Polemik gegen Willi Winkler), stellt sich unbeeindruckt auf Lampings Seite in der Sebald-Kritik und nimmt letztlich auch die Kritik der beiden Historiker Tuchel und Römer nicht an, von Seuberts Ergebnissen ganz zu schweigen. Das ist enttäuschend, denn gerade Reinhardt schlägt sich ohne Not auf die Seite der allzu nachsichtigen Andersch-Verteidiger, obwohl er in seiner Biographie Wichtiges und Kritisches formuliert hatte.

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Rhys W. Williams erklärt in seinem Beitrag »Andersch und Sebald: die Dekonstruktion einer Dekonstruktion« (S. 317–330) Andersch zum Opfer von Sebalds Ressentiments und »Selbststilisierung« (S. 322), sich als anspruchsvoller Autor gegenüber einer von ihm verachteten deutschen Literaturszene zu etablieren (»Sebalds Bombardierung einer ganzen Generation«, S. 319). Er sieht Sebald als Konkurrenten von Andersch und hält die moralischen Vorwürfe gegenüber Letzterem für übertrieben angesichts der von ihm, Williams, konstatierten problematischen literarischen und moralischen Mängel Sebalds.

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Auch Thorsten Hoffmanns »In weiter Ferne, so nah. W.G. Sebalds Stilkritik an Alfred Andersch« (S. 331–356) hebt auf die Analogie/Konkurrenz zwischen Sebald und Andersch ab, lotet aber die aufregenden Konvergenzen/Divergenzen beider Autoren viel ausgewogener, zugleich aber auch detaillierter aus, ohne den einen gegenüber dem anderen zu schonen (z.B. beim Kitsch-Vorwurf). Beide Sebald-Kritiken wirken mehr als Nachträge zur ersten Phase der Andersch-Debatte, da sie auf die neueren Fragestellungen nicht oder kaum eingehen (können).

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Das geschieht ansatzweise in Hans-Joachim Hahns Beitrag »Andersch, Klüger, Sebald: Moral und Literaturgeschichte nach dem Holocaust – Moral im Diskurs« (S. 357–379). Hahn rückt das Thema in den historischen Kontext der Nachkriegsliteraturgeschichtsschreibung, in der schon immer der moralische Wahrheitsanspruch von Literatur ein zentraler Aspekt war, wobei die (Nicht-)Darstellung von jüdischen Personen sowie die (Nicht-)Thematisierung des Holocaust mehr und mehr zum Prüfstein wurde. In diesem Sinne entwickelte sich die kritische Prüfung deutscher Nachkriegsautor(innen) zu der Frage Ruth Klügers: »Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur?« (1986), ehe sie sich u.a. zu der Andersch-Debatte verengte, die sich für manche dann als Sebald-Problem erledigte. Hahn zeigt das in einer detailreichen Interpretation von Efraim. Wenn es denn in der Andersch-Frage so sein sollte, wie er meint, dass »weniger die Faktenlage umstritten als die Bewertung« (S. 365) sei, so könnte die wohlverstandene Kritik von Klüger bis Sebald weiterhin Anlass sein, »die literaturästhetischen Voraussetzungen von Autor und Kritik und deren erinnerungspolitische Implikationen stärker in die Analyse der Texte einzubeziehen […]«(S. 377).

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Noch kein Schlusswort

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Der Sammelband formuliert darüber hinaus keine konkreten Forschungsfragen zu Andersch bzw. zur Germanistik der Nachkriegsliteratur. Die Herausgeber beschränken sich auf die Erwartung einer sachlichen Auseinandersetzung. Immerhin besteht die Hoffnung: Solange es noch ein Interesse daran gibt zu ergründen, auf welche Weise es nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland gelang bzw. misslang, die mit dem Ende des NS-Reiches nicht vergangene Vergangenheit zu ›bewältigen‹, dürften Vita und Werk von Alfred Andersch eines der Exempel sein, aus denen Aufschlüsse zu gewinnen wären. Klar dürfte auch sein, dass eine punktuelle, auf die Einzelperson (Andersch, Sebald) beschränkte Diskussion zu wenig ist. Der vorliegende Band neigt noch dazu. Anschließbar und auch sehr zu wünschen wäre eine engere Verknüpfung von Anderschs Distinktionsstrategie (bis 1957) mit der Entwicklung der Gruppe 47, die ja ebenfalls ab Ende der 1950er Jahre (mit dem Abtritt vieler Urmitglieder, mit dem Gewinn der Marktbeherrschung und der ›Bundesrepublikanisierung‹ der Gruppe, mit der damit einsetzenden Dominanz von Günter Grass (an dem sich Andersch heftig stieß) u.a.m. in eine neue Phase trat. Schließlich hängen ja die inzwischen längst begonnene Dekonstruktion der Gruppe 47-Legende (vgl. die Sammelbände von Fetscher 1991 und Braese 1999 sowie die Streitschrift von Briegleb 2003) 3 und die Andersch-Debatte nicht von ungefähr miteinander zusammen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: »Wie antisemitisch war die Gruppe 47?«, Berlin, Wien: Philo 2003, S. 253.   zurück
Das Faktum der Desertion bezweifelte bereits E. Mather: ›Vielleicht ist unter allen Masken, aus denen man wählen kann, das Ich die beste‹. Über die Entstehung einer Legende auf der Grundlage einer Autobiografie: Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit. In: Neophilologus 84, 2000, S. 443–455.   zurück
Vgl. die Sammelbände von Justus Fetscher/Eberhard Lämmert/Jürgen Schutte (Hg.): Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik, Würzburg 1991, von Stephan Braese (Hg.): Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47, Berlin 1999, sowie die Streitschrift von Klaus Briegleb (wie Anm. 1).   zurück