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Karneval (nicht nur) in Venedig

  • Kristian Larsson: Masken des Erzählens. Studien zur Theorie narrativer Unzuverlässigkeit und ihrer Praxis im Frühwerk Thomas Manns. (Epistemata Literaturwissenschaft 718) Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. 264 S. Paperback. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-8260-4461-8.
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Über erzählerische Unzuverlässigkeit und Maskierungsstrategien im Frühwerk Thomas Manns

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Das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens ist ein vielgestaltiges Phänomen, das unterschiedlichen Zwecken dienen kann. Verbreitete Funktionen dieser narrativen Strategie liegen unter anderem in Spannungsaufbau und Überraschung. Auch karnevalistische Spiele mit der eigenen Identität, das Verstecken des eigenen Ichs hinter einer Maske, werden mit diesen Aspekten assoziiert. In seiner kürzlich veröffentlichten Dissertation will Kristian Larsson das Phänomen narrativer Unzuverlässigkeit in der frühen Prosa Thomas Manns auf Maskierungsstrategien des Autors zurückführen. Dabei nimmt er einerseits die im Subtext implizit enthaltenen Mitteilungen an den Rezipienten, der gleichfalls zwischen den Zeilen der Erzählung lesen muss, besonders in den Blick. Die Aktivierung des Lesers ist als wichtiger Aspekt unzuverlässigen Erzählens zu sehen, der durch diese Fokussierung besonders beachtet wird. Andererseits bindet Larsson auch die Möglichkeit einer mimetischen Unzuverlässigkeit in den Diskurs ein, indem durch die genaue Analyse der möglichen Maskierungsstrategien das Spiel mit den auktorialen Instanzen der Erzählungen offen gelegt wird.

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Unzuverlässigkeit im mimetischen Diskurs

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Folgende Fragen bilden das Substrat der Arbeit Larssons:

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• Kann das Maskenspiel in Manns Frühwerk erzählerische Unzuverlässigkeit konstruieren?

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• Welche unpersönlichen Aspekte des Phänomenbereichs sind feststellbar und ist es möglich, auch in einem unpersönlichen Erzähldiskurs mimetische Unzuverlässigkeit zu konstatieren?

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• Inwieweit muss das Verständnis von Mimesis für die adäquate Untersuchung von Manns Werk revidiert werden?

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• In welchem Verhältnis stehen Autor- und Erzählerironie zur Evaluierung der Reliabilität eines Erzählers?

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Ausgehend von Manns eigenem Verständnis seiner erzählerischen Masken (vgl. S. 7) will Larsson mit Blick auf die das Frühwerk abschließende Novelle Der Tod in Venedig die Entwicklung dieser Verhüllungstaktiken nachzeichnen und Assoziationen zu der narrativen Strategie des unzuverlässigen Erzählens dokumentieren.

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Erzählerische Unzuverlässigkeit wird gemeinhin über den Gegenstand dessen, was unzuverlässig vermittelt wird, in zwei Typen unterschieden. Einerseits kann der Erzähler die Vorgänge innerhalb der Geschichte falsch bewerten, genauer gesagt, er kann oder will die Vorgänge der Handlung nicht angemessen interpretieren; er ist in ideologischer (oder evaluativer) Hinsicht nicht zuverlässig. Andererseits kann der Narrator in Bezug auf die Beschaffenheit der fiktiven Welt unzuverlässig informieren, und wäre dann in mimetischer Hinsicht nicht reliabel. 1 Diese Form der Unzuverlässigkeit wird im Forschungsdiskurs oft auf den homodiegetischen Erzähler beschränkt, da heterodiegetische Erzähler als weltschaffend und allwissend gesehen werden und damit die Möglichkeit, dass ihre mimetischen Aussagen nicht der fiktiven Wahrheit entsprechen könnten, ausgeschlossen wird.

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Der Prototyp des unzuverlässigen Erzählers ist der in ideologischer Hinsicht unzuverlässige Ich-Erzähler, dessen Unzuverlässigkeit sich nach dem allgemeinen Verständnis in Diskrepanzen zwischen dem Wertesystem des Erzählers und dem des Gesamtwerkes manifestiert. 2 Auch wenn Larsson diese Form der Unzuverlässigkeit für Manns Werk nicht gänzlich zurückweisen möchte (vgl. S. 79), bleibt für ihn in höherem Grad der Bereich der unpersönlichen Unzuverlässigkeit, ohne die Notwendigkeit einer Anbindung an Charakteristika einer Figur, von Interesse. Ziel der Arbeit ist aufgrund der im Werk Manns auftretenden, auktorial anmutenden Er-Erzähler vornehmlich, »mit dem dominierenden Fokus auf Ich-Erzähler und persönliche Erzählerstimmen innerhalb der Unzuverlässigkeitstheorie [zu] brechen« (S. 31).

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Der im Forschungsdiskurs bis dato übliche Ausschluss des mimetischen Diskurses aus der Theorie der Unzuverlässigkeit in heterodiegetischen Erzählsituationen ist für Larsson korrekturbedürftig. Mit einem neuen Mimesisverständnis will er zeigen, dass im Werk Manns keine reine Weltabbildung, sondern vielmehr Weltsimulation vorzufinden ist, wodurch dieser Bereich für erzählerische Unzuverlässigkeit geöffnet werde (vgl. S. 20-23).

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Experimentelles Erzählen im Frühwerk

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Untersucht werden insgesamt 25 Früherzählungen Thomas Manns, wobei Larsson die Novellen Der Tod in Venedig, Tonio Kröger, Der kleine Herr Friedemann und Tristan aufgrund ihrer innerhalb des Frühwerks herausstechenden Komplexität als besonders eminent für seine Analysen hervorhebt (vgl. S. 37).

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Die Eingrenzung des Textkorpus auf die frühe Schaffensphase des Autors (1893 bis 1912) ist werkgenetisch bestimmt. Neben der zeitlichen Fokussierung waren Gattungskriterien der Novelle für die Textauswahl relevant, die Larsson als aufschlussreich im Bezug auf den Phänomenbereich erzählerischer Unzuverlässigkeit darstellt (vgl. S. 32). Während er auf dieser Argumentation basierend Romane wie den Erstlingsroman Buddenbrooks ausschließt, behandelt der Verfasser aber Skizzen, Studien und Kurzgeschichten. Der Auswahl des Textkorpus scheint neben der zeitlichen Abgrenzung somit das – für die Untersuchung eines erzähltheoretischen Phänomens nicht relevante – Kriterium des Textumfangs zugrunde zu liegen.

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Ein plausibleres Argument für die Fokussierung auf das Frühwerk als die Bezugnahme auf die Form der Novelle ist zwar nicht innerhalb der Dissertation, dafür aber im Abstract auf der Home­page der Universität Uppsala auffindbar. 3 Dort ist zu lesen, dass die Erzähltechnik Manns bis zum Tod in Venedig vorwiegend von experimentellem Erzählen gekennzeichnet sei. Während sein späteres Werk in aller Regel aus der Diegese schöpfe, werde im Frühwerk weit mehr mit Perspektivierung und Metafiktion experimentiert, wodurch die Festlegung auf das, was innerhalb der Fiktion als wahr anzusehen ist, oft erschwert oder gar verhindert würde.

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Sinnvoller als eine Fokussierung auf das Frühwerk wäre aber die Untersuchung der für das Phänomen prägnantesten Werke, und damit eine Eingrenzung nach Relevanz, gewesen. Gerade das Spätwerk Thomas Manns bietet mit den Werken Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Doktor Faustus und auch dem, noch nicht zum Spätwerk zu zählenden, Zauberberg hinlänglich Bezugspunkte zum Phänomen der narrativen Unzuverlässigkeit.

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Untersuchungsmethoden

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In einer systematischen Vorgehensweise werden die ausgewählten Texte Manns auf erzählerische Unzuverlässigkeit hin untersucht. Durch eine von Larsson angestrebte »Progression vom narrativen zum mimetischen Modus« (S. 34) wird der Untersuchungsgegenstand um den Komplex der mimetischen Repräsentation erweitert. Die vier von Larsson angeführten Maskierungs- und Unzuverlässigkeitsstrategien (narrative Inkompetenz, Pseudo-Auktorialität, simulierte Fokalisierung und Verschlüsselung von Sinnzusammenhängen auf der Ebene des Subtextes und der uneigentlichen Rede) bilden die Ausgangspunkte des praktischen Hauptteils, in dem Gruppen von Erzählungen unter Beachtung je einer der Strategien untersucht werden. Unter Auslassung der vier oben als zentral angeführten Erzählungen legt Larsson in diesem Teil die Konzeption der Parameter und deren Anwendung dar, während im darauf folgenden Passus unter einer »Einengung auf das auktorial-figurale oder reflektorisierte Erzählspektrum« (S. 37) die vier Erzählungen jeweils auf alle benannten Strategien hin analysiert werden.

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Hypothetischer Intentionalismus

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Larsson gibt an, dem Interpretationsprogramm des ›hypothetischen Intentionalismus‹ folgen zu wollen (S. 12). Damit wählt er eine theoretische Ausrichtung, die kontextuelle Faktoren als relevant für die Interpretation betrachtet und deshalb den »informierten Zeitgenossen« als Referenzpunkt annimmt. 4 Allerdings erwähnt Larsson dies nur kurz und beschreibt keineswegs, was unter dem ›hypothetischen Intentionalismus‹ zu verstehen ist, obgleich in der Debatte bisher kein Konsens erreicht wurde, 5 der es ermöglichen würde, dass ein einzelner Verweis auf den Begriff dem Leser sogleich das genaue Profil seiner Position offenbart. 6 Dass Larsson einen derartigen Ansatz vertreten will, kann und soll an dieser Stelle nicht kritisiert werden; eine Stellungnahme und weitere Explizierung des Programms wäre indes wünschenswert gewesen.

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Zudem scheint der Verfasser den Prämissen des gewählten Interpretationsprogramms innerhalb des praktischen Teils der Dissertation nicht konstant zu folgen. Einer Meinung sind die Vertreter der verschiedenen Strömungen des ›hypothetischen Intentionalismus‹ darüber, dass nicht alle für den heutigen Rezipienten zugänglichen Wissensgehalte verwandt werden dürfen, da der Referenzpunkt des »gut informierten Zeitgenossen« impliziert, dass nur zur Entstehungszeit des Werkes allgemein zugängliche Informationen für die Interpretation fruchtbar gemacht werden dürfen. 7 Larsson führt aber nicht nur die Rechtfertigung seiner Untersuchung der Maskierungsstrategien auf einen Brief Thomas Manns an Otto Grautoff zurück (vgl. S. 7), sondern zieht in seiner Analyse allzu oft die Tage- und Notizbücher Manns, sowie verschiedene Briefwechsel, die dem damaligen Rezipienten keineswegs offen standen, heran. Dieses Verfahren kommt den Interpretationen zugute, kongruiert aber nicht mit dem gewählten Interpretationsprogramm. Um ein Beispiel zu nennen:

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Um die Künstlerproblematik Manns auf seine Studie Schwere Stunde übertragen zu können, zitiert Larsson zum Glücksverständnis Manns einen Brief an Bruder Heinrich Mann und bewertet zudem »Manns Einbeziehen der Werbebriefe an Katja Pringsheim in Schwere Stunde« als »sehr bezeichnend« (S. 130, Fußnote 366). Dabei rekurriert er auf Teile dieser Briefe, die Mann in seinem Notizbuch aufbewahrt hatte.

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Mimesis als Simulation

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Ausgehend von der Analyse der Arbeit Dorrit Cohns 8 zu erzählerischer Unzuverlässigkeit im Tod in Venedig entwickelt Larsson das der Dissertation zugrunde liegende narratologische Konzept. Dabei erweitert er die Theorie Cohns, die für den Tod in Venedig und überhaupt für heterodiegetische Erzähler nur von der Möglichkeit einer ideologischen Unzuverlässigkeit ausgeht, um den Bereich der Mimesis. Unter Zuhilfenahme und Diskussion einiger Ansätze anderer NarratologInnen wie Marie-Laure Ryan, Tom Kindt aber auch der Kommunikationsmaxime nach H. Paul Grice kommt er zu dem Ergebnis, dass mimetische Unzuverlässigkeit in heterodiegetischer Fiktion nicht nur möglich, sondern auch zahlreich belegt sei (vgl. S. 79).

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Dabei sieht Larsson Mimesis nicht als reine Abbildung, sondern beachtet die Möglichkeit von Mimesis als Weltsimulation. Im Zusammenhang damit kommt er auch zu dem Ergebnis, dass die Leitmotivik im Werk Manns – als Ambivalenz betrachtet – auf das eigentlich Wesentliche der Geschichte hindeutet und damit unter »Auslassen von zentraler Information eines Geschehens« (S. 79) auf eine Maskierung des Autors hindeutet. Gemeint ist damit vor allem die Modellierung der fiktiven Welt mithilfe der Leitmotivik in einer Art und Weise, die ein zweifelsfreies Erkennen der Autor- oder Erzählerposition verhindert (vgl. S. 23, v.a. Fußnote 58). Auch »verhüllte Filtrierung, wo die Figurenperspektive auf den Diskurs projiziert wird, ohne unmittelbares Durchschauen des Rezipienten« (S. 79), bindet er als mögliche, in der Fokalisierung begründete Quelle narrativer Unzuverlässigkeit in seine Konzeption ein.

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Leider muss sich der Rezipient bei der Lektüre des Werkes die Informationen mühsam zusammensuchen, um sich ein Bild davon machen zu können, was Larsson letztlich genau unter unzuverlässigem Erzählen versteht. Zwar ist das erste Kapitel mit der Überschrift »Autorperspektive und Unzuverlässigkeit« versehen, nach einer Definition und einer direkten Auseinandersetzung mit dem narrativen Phänomen sucht man in diesem Abschnitt indes vergebens. Larsson definiert Unzuverlässigkeit nur in Abgrenzung zu anderen Phänomenen wie beispielsweise dem Textdefekt oder der Ambivalenz. Etwas konkretere Angaben findet man innerhalb der Metaanalyse zu Dorrit Cohns Studie. Es wäre für die Dissertation gewinnbringend gewesen, vor dem umfangreichen Analyseteil der Arbeit die zugrunde gelegte Ausdeutung der Theorie zu präzisieren.

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Unzuverlässigkeit und Ironie

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Larssons bringt Ironie und Unzuverlässigkeit miteinander in Verbindung. »[I]m Falle nicht-ironischer Kommunikation wird die unzuverlässige Struktur erst im Laufe der Erzählung wahrgenommen. Bei ironischer Kommunikation wird die Unzuverlässigkeit mehr oder minder direkt aufgefasst, ironisch gebrochen« (S. 246). Der rezeptionsorientierte Ansatz zur Beschreibung der Wahrnehmung narrativer Unzuverlässigkeit unter Zuhilfenahme des Zeitpunktes der möglichen Naturalisierung und Kohärenzstiftung ist ein interessanter Ansatz.

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Allerdings ist nicht offenbar, ob das, was Larsson unter einem ironisiert-unzuverlässigen Erzähler versteht, dem Phänomenbereich des unzuverlässigen Erzählens überhaupt noch zugeschrieben werden kann. Wenn der Erzähler ironisiert wird, könnte dies die vermeintliche Unzuverlässigkeit des Erzählerberichtes gewissermaßen aufheben und die Erzählung wäre somit insgesamt als ›zuverlässig‹ einzustufen. Da Larsson unter einem ironisiert-unzuverlässigen Erzähler aber zu verstehen scheint, dass der Erzähler vom Autor entlarvt oder vorgeführt wird (vgl. S. 16-20), könnte diese Form der Ironie durchaus als ein Verfahren gesehen werden, das Unzuverlässigkeit ironisch bricht und den von Fludernik hervorgehobenen »Aha-Effekt« beim Leser hervorruft. 9 Larsson arbeitet in seiner Dissertation aber mit unterschiedlichen Formen der Ironie und die Grenzziehung gerät etwas schwammig.

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Weiterhin ist die Zuordnung der im Werk auftretenden Ironie zu einer Instanz mit Problemen verbunden, sodass die Unterscheidung zwischen einem ironischen und einem ironisierten und gleichzeitig unzuverlässigen Erzähler Schwierigkeiten bereitet, die auch Larsson nicht immer umgehen kann (vgl. S. 20).

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Simulierte Fokalisierung

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Die von Larsson eigens konstruierte Strategie der ›simulierten Fokalisierung‹ wird in seinem Werk konsistent erarbeitet und auf verschiedene Erzähltexte angewandt. ›Simulierte Fokalisierung‹ als explizite Maskierungsstrategie soll als Beschreibung der narrativen Verfahren dienen, für die bisher der Ausdruck ›beobachtender Erzähler‹ bemüht wurde, und ist besonders in Korrelation mit impliziten Maskierungen auf der Ebene des Subtextes wirkungsvoll. Hierbei hält der Verfasser fest, dass beispielsweise die in Manns Prosa verwendete Farbcodierung auf keinen Reflektor zurückzuführen sei, weshalb er ›simulierte Fokalisierung‹ annimmt.

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Larsson weist im Hinblick auf die ›simulierte Fokalisierung‹ einige beachtenswerte Ergebnisse vor, die die Möglichkeit der unzuverlässigen Erzählung in auktorial erzählten Texten auch auf der mimetischen Ebene belegen. Insbesondere am Beispiel der Erzählung Tonio Kröger exemplifiziert Larsson, dass inauthentisch repräsentierte Figurenfokalisierung als selbstentlarvende oder selbsttrügerische Rede irreführend und damit unzuverlässig sein kann (vgl. S. 199).

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Begriffliche Verwirrung

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Essenziell für die Dissertation wäre eine Kontrastklärung zwischen Homo- und Heterodiegese gewesen. Vor allem deshalb, weil Larsson für sich beansprucht, »mit dem dominierenden Fokus auf Ich-Erzähler und persönliche Erzählerstimmen« (S. 31) brechen zu wollen, ist es schade, dass er bei seinen Beobachtungen vergisst, dass die Unterscheidung zwischen Ich- und Er-Erzähler beziehungsweise Homo- und Heterodiegezität nicht abschließend geklärt ist. Er verwendet beide Begriffsfelder, ohne auf die Feinheiten einzugehen. Da er sowohl die Theorie Stanzels als auch die Genettes verwendet (beispielsweise in Fußnote 299 und 300, S. 107), ist nicht manifest, wie die Begriffe für ihn zu verstehen sind.

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Dass Larsson insgesamt eher Genettes Definition folgt, wird offenbar, wenn er im Kontext der Erzählungen Luischen und Tobias Mindernickel von einem heterodiegetischen Ich-Erzähler ausgeht (vgl. S. 154). Nach Stanzels Theorie könnte es diese Form des Erzählers nicht geben, denn wenn der heterodiegetische Narrator nicht Teil der erzählten Welt sein kann, kann er nicht figürlich als ›Ich‹ auftreten, da er keine Figur – auch keine, die außerhalb der Geschichte steht – sein kann. 10 Folgt man andererseits Genettes Definition, können heterodiegetische Erzähler als Figur in der fiktiven Welt erscheinen, sie dürfen lediglich nicht Teil der von ihm präsentierten Geschichte sein. 11 An anderer Stelle definiert Larsson Homodiegezität demgegenüber im Sinne Stanzels, wenn er schreibt: »homodiegetische Erzähler – Erzählerfiguren, die innerhalb der Fiktionswelt existieren« (S. 81). Hier und an anderen Stellen ist Larsson inkonsistent in der Begriffsverwendung.

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Fazit

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Die Herausarbeitung der verschiedenen Maskierungsstrategien im Werke Manns erweist sich in Larssons Dissertation als fruchtbar für die Erfassung narrativer Unzuverlässigkeit. Durch die Beachtung auktorialer Erzählinstanzen im Zusammenhang mit Strategien der Maskierung tritt eine Struktur des »Spiels mit der Auktorialität und dem Verhältnis zwischen Autor-Erzähler-Figur« (S. 245) zutage, die verdeckte Sinnstrukturen der Erzähltexte zu offenbaren vermag. Die übereilte Annahme, dass heterodiegetische Erzähler weltschaffend und allwissend sein müssten, hat schon des Öfteren für Verwirrung gesorgt. Wenn man von dieser Hypothese ausgeht, ist Unzuverlässigkeit beim heterodiegetischen Erzähler unmöglich. Im Rahmen der Dissertation wird jedoch gezeigt, dass ein heterodiegetischer Erzähler nicht ohne Weiteres die auktoriale Perspektive einnimmt (vgl. S. 50).

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Vor allem durch diese Beobachtung und die Annahme, dass auch Figurenperspektive als Bezugspunkt erzählerischer Unzuverlässigkeit in die Untersuchungen eingebunden werden müsse, etabliert Larsson beachtenswerte Neuerungen innerhalb der theoretischen Debatte um das erzähllogische Phänomen.

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Die Verbindung von Unzuverlässigkeit und Maskierungsstrategien im Werk Manns kann besonders deshalb hervorgehoben werden, weil Larsson hiermit und durch die eingehende Untersuchung der Früherzählungen auf der Ebene des Subtextes interessante Verbindungen innerhalb des Œvres herstellt. Auf diese Weise ist es denkbar, den Tod in Venedig nicht nur als Erzählung eines in seinen Werten und Normen schwankenden Erzählers zu lesen, wie Cohn es vorgeschlagen hat. Die Möglichkeit der mimetischen Unzuverlässigkeit und die besondere Berücksichtigung der Entwicklung der Erzählweise Manns bis zu dieser, das Frühwerk abschließenden Novelle, bietet für die Mann-Forschung neue Ansätze der Interpretation.

 
 

Anmerkungen

Vgl. hierzu unter anderem Silke Lahn/Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. (BA: Studium) Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, S. 183 und Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck 20077 (C.H. Beck Studium), S. 100-107.   zurück
Siehe schon Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago [u.a.]: University of Chicago Press 19832.   zurück
Vgl.: Kristian Larsson: »Abstract« (21.04.2010). In: DiVA. URL: http://urn.kb.se/resolve?urn=urn:nbn:se:uu:diva-122884 (Letzter Zugriff: 05.01.2012).   zurück
Vgl.: Larssons Angabe in Fußnote 18 (S. 12). Hier verweist der Verfasser auf die Beschreibung des ›hypothetischen Intentionalismus‹ durch Tom Kindt und Hans-Harald Müller in: Tom Kindt/Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concept and Controversy. (Narratologia; 9) Berlin, New York: De Gruyter 2006.   zurück
Vgl.: Carlos Spoerhase: »Hypothetischer Intentionalismus. Rekonstruktion und Kritik«. In: Journal of Literary Theory  1.1 (2007), S. 81-110. Hier werden die unterschiedlichen Ansätze, die sich dem ›hypothetischen Intentionalismus‹ zurechnen lassen, dargelegt.   zurück
Zur Kritik am ›hypothetischen Intentionalismus‹ siehe beispielsweise ebd. und Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. (Studien zur deutschen Literatur; 184) Tübingen: Niemeyer 2008, S. 20-24.   zurück
Vgl.: ebd. S. 20.   zurück
Vgl.: Dorrit Cohn: »Discordant Narration«. In: Style 34.2 (2000), S. 307-316 und ders.: The Distinction of Fiction. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 2000, hier besonders S. 132-149.   zurück
Vgl.: Monika Fludernik: »Unreliability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit«. In: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: Edition Text&Kritik 2005, S. 39-59, hier S. 40.   zurück
10 
Vgl.: Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (UTB; 904) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 20017, S. 110-115. Stanzel verwendet an diesem Ort nicht die Begriffe der Homo- und Heterodiegese, sondern unterscheidet zwischen Ich- und Er-Erzähler, was die Thematik des innerhalb der erzählten Welt stehenden Ich-Erzählers gegenüber dem außerhalb stehenden Er-Erzähler schon verdeutlicht.   zurück
11 
Vgl.: Gérard Genette: Die Erzählung. (UTB; 8083) München: Fink 1994, S. 174-181.   zurück