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Theatergeschichte an der Schwelle
zur Postmoderne

  • Wolf Gerhard Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 01.07.2009. 800 S. 37 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-476-02309-4.
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Keine leeren Schubkästen

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»Es ließe sich fraglos ein umfangreiches wissenschaftliches Werk über die Situation des Dramatikers deutscher Sprache nach dem Kriege abfassen. [...] Es ist nicht wahr, daß die Schubkästen leer sind.« 1
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Programmatischer noch als der Titel der umfangreichen Habilitationsschrift Wolf Gerhard Schmidts, fasst diese Feststellung Rolf Italiaanders, welche der Verfasser als Eingangszitat seinen Ausführungen voranstellt, das Programm und angestrebte Ziel der vorliegenden Untersuchung zusammen. Entgegen den einschlägigen Forschungsparolen von »Dürrezeit« und »relativem Nullpunkt« will Schmidt mit seiner 800seitigen, durch und durch detailreich recherchierten Studie aufzeigen, dass die künstlerische Bilanz der Nachkriegszeit keineswegs so mager ist, wie häufig behauptet.

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(Bühnen-)Autoren, deren literarische Karrieren in der Nachkriegszeit begannen (Heinrich Böll, Trankred Dorst, Günter Grass, Peter Hacks, Wolfgang Hildesheimer, Heinar Kipphardt, Heiner Müller, Peter Weiss, Herbert Asmodi, Ernst Wilhelm Eschmann, Hans-Joachim Haecker, Richard Hey, Peter Hirche, Alfred Matusche, Hermann Moers, Egon Vietta) oder deren Arbeit sich weiterentwickelte und neu konzipierte (Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer, Nelly Sachs, Friedrich Wolf, Carl Zuckmayer) dienen Schmidt dabei ebenso als Garanten für die Ausbildung eines eigenständigen dramaturgischen Stils im ersten Nachkriegsjahrzehnt wie die Theatergrößen Jürgen Fehling, Gustaf Gründgens, Fritz Kortner, Erwin Piscator und Gustav Rudolf Sellner oder im Bereich der »Frauendramatik« Ingeborg Drewitz, Elisabeth Flickenschildt, Marie Luise Kaschnitz, Ilse Langner, Hedwig Rohde oder Ingeborg Strudthoff.

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Entstanden ist in doppelter Hinsicht, sowohl was die Systematik, als auch den Anspruch auf Vollständigkeit betrifft, ein Werk mit Handbuchcharakter, welches – die besonders im Bereich des Schauspiels »defizitär[e] Forschungssituation« ebenso kritisch betonend wie das »selektive« und »ungenaue Lesen« der gegenwärtigen Literatur- und Kulturwissenschaft – für einen »flächendeckenden« Zugriff einhergehend mit einer »diskursiven Analyse ästhetischer Polyvalenz« plädiert (S.4) und, als eine umfassende Bestandsaufnahme des deutschen Nachkriegstheaters, zwischen 1945 und 1961 »über 500 Zeitstücke unterschiedlichster Inhalte, Tendenzen und Formen« darlegt und untersucht (siehe Klappentext). »Sinn und Zweck der Studie ist jedoch keineswegs nur die philologische Aufarbeitung des deutschen Nachkriegstheaters«, wie Schmidt in der Einleitung nachdrücklich hervorhebt, »sondern auch der Versuch seiner Einordnung in die Geschichte der Moderne und demnach die Neubewertung der Epoche«, um damit eine Grundlage für weitere Spezialstudien zum Drama und Theater der Nachkriegszeit bilden zu können (S. 5).

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Aufbau und Ordnung(en)

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Die These Fischer-Lichtes, dass alle kulturellen Systeme der Erzeugung von Bedeutung dienen, 2 zum Ausgangspunkt nehmend, sucht Schmidt im Aufbau seiner Schrift den Wechselbezügen von Geschichte, Inhalt und Form gerecht zu werden (vgl. S. 25).

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Im Zentrum von Teil A stehen die soziokulturellen Ordnungen, welche den Rahmen bilden zu dem sich die im Mittelpunkt von Teil B bzw. Teil C stehenden semantischen und ästhetischen Ordnungen verhalten müssen, ohne dass sie von diesem konkret zu trennen wären (vgl. S. 25). Den Teil A in die Unterpunkte »Globalperspektive und Theaterpolitik«, »Topographie und Repertoire« und »Medialisierung und Performanz« gliedernd, gibt Schmidt in diesem ersten Teil seiner Arbeit einen umfangreichen Überblick über die Entwicklung der deutschen Theaterlandschaft in Ost und West zwischen 1945 und 1961, erläutert – Wiederaufbau und Neuausrichtung der Bühnen in einen internationalen Kontext rückend – die Einflussnahme der Besatzungsmächte ebenso wie jenen der staatlichen Institutionen und beleuchtet an Hand des Werdegangs führender Nachkriegsregisseure und Intendanten (Fehling, Gründgens, Sellner/Koch, Hilpert, Schalla, Stroux, Piscator u.a. in der BRD; Langhoff, Brecht u.a. in der DDR) die unterschiedlichen Inszenierungskonzepte in Nachkriegsdeutschland.

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Der zweite Teil der Schrift befasst sich mit den semantischen Ordnungen, d.h. der Vielzahl an Narrativen, speziell den Narrativen der Repräsentation, der Ethik, der Transzendenz, des Marxismus und Absurdismus, die mit Kriegsende aktualisiert wurden, fortbestanden oder sich erst ausbildeten.

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Den Weg der Separatbetrachtung von Inhalt und Form, wobei er die Rückwirkung des einen Faktors auf den anderen stets präsent zu halten bestrebt ist, schlägt Schmidt, wie er einleitend erläutert, auf Grund der Möglichkeit zur klareren Konturierung der einzelnen Aspekte ein. Gleichzeitig weist er, eine Äußerung Günther Weisenborns von 1947 zitierend, auf eine Symptomatik der Nachkriegsjahre hin, deren mühevolle Handhabung in Schmidts Arbeit deutliche Spuren hinterlassen hat: »niemals haben mehr Denksysteme, Schlagwortfronten und Begriffsschwärme ihre Sprachschlachten geschlagen als heute.« 3 Obgleich dieser Entwicklung gewärtig, bemüht sich Schmidt um eine konkrete Einordnung der Autoren und Regisseure, sieht sich aber bereits auf Grund der Interferenzen und Strukturhomologien zwischen verschiedenen Narrativen gezwungen, manche Vertreter in mehreren Kapiteln aufzuführen und stellt sich am Schluss von Teil B der Anforderung, die eben aufgestellte Ordnung wieder in Frage zu stellen.

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Im Teil C stehen, nach einer gattungstypologischen Einordnung der untersuchten Autoren und Regisseure, die Fragen nach der Einpassung der in Teil B aufgeführten Narrative in verschiedene Formenkonzepte von Drama und Theater und deren Bedeutung für die Sinnstiftung, sowie nach der Funktion der Modelle und ihrem Verhältnis zu den Vorgaben der deutschen bzw. internationalen Tradition, im Mittelpunkt der Betrachtung.

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Dass sich an diesen letzten Teil der Ausführungen kein Fazit, jedoch ein 150seitiger bibliographischer Anhang mit ausführlichem Personen- und Dramenregister anschließt, unterstreicht den Handbuchcharakter des Werkes, erschwert es dem Leser aber die von Schmidt mit der Leidenschaft des ambitionierten Sammlers zusammengetragenen und beschriebenen Konzepte, Diskurse und Modelle zu einem komplexen Gesamtbild der deutschen Theaterlandschaft in der Nachkriegszeit zwischen Antimoderne und Postmoderne zu kombinieren.

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Das Ende großer Erzählungen?

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Als 2007 Günther Rühles umfassender Band zum »Theater in Deutschland. 1887 bis 1945« erschien, schrieb Rolf Hochhuth in seiner Rezension in der »Berliner Literaturkritik«, er halte es nicht für vorstellbar, dass außer Rühle selbst »jemand kommen wird, der es wagt, die Sisyphus-Arbeit zu ergänzen oder fortzusetzen, die sich Rühle mit diesem schon jetzt als Standardwerk für viele Generationen anerkannten Opus aufgehalst hat.« 4

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Ließe sich »Zwischen Antimoderne und Postmoderne« als Fortsetzung von Rühles Werk begreifen? Die Gründlichkeit, mit der Schmidt sein Thema recherchiert und analysiert hat, ist zweifellos mit Rühles »Sisyphus-Arbeit« vergleichbar, doch fehlt Schmidts Schrift das, was Hochhuth – übrigens ebenfalls »Untersuchungsobjekt« der Schmidtschen Studie –»den epischen Atem« nennt. Dies liegt freilich nicht in einem Mangel an Erzählkompetenz, sondern vielmehr in der Aufdröselung des Roten Fadens der (Theater-)Geschichte begründet; in der Aufspaltung jenes »Handlungsstrangs« an dem entlang Rühle noch sein »gewaltiges Panorama« 5 der Geschichte des deutschen Theaters vom Kaiserreich bis zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur entwirft, in die von Weisenborn beschriebenen »Denksysteme, Schlagwortfronten und Begriffsschwärme«, welche die Entwicklung des Theaters nach dem Ende der Antimoderne-Bewegung und dem Zweiten Weltkrieg auf dem Weg in die Postmoderne charakterisiert. Ist mit der Epochenschwelle 1945, an welcher Rühles Ausführungen schließen und Schmidts Studie beginnt, also das von Lyotard beschworene »Ende der großen Erzählungen« im Zeitalter der Postmoderne erreicht? Schmidts Verzicht auf eine rein theaterhistorische Verlaufsgeschichte und die bewusste Anlage seiner interdisziplinären Betrachtung als Nachschlagewerk scheint diese Annahme zu rechtfertigen.

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Im Übrigen versteht sich das vorliegende Buch nur als erster Band einer umfassenden Darstellung zum Drama und Theater im deutschsprachigen Europa der Nachkriegszeit. Der zweite soll bereits das nachholen, was im ersten Band noch ausgespart und bei der Lektüre an einigen Stellen vermisst wurde, nämlich die Grenzüberschreitung hin nach Österreich und der Schweiz (vgl. S.19). Schmidts Arbeit, die Welt des Nachkriegstheaters zu analysieren und sie in die Geschichte der Moderne »zwischen Antimoderne und Postmoderne« einzuordnen, hat also erst begonnen.

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Wie schrieb Friedrich Dürrenmatt seinerzeit in seinen Theaterschriften? »Durch die Arbeit entsteht aus einem Einfall eine Welt. Eine Welt ist entstanden, wenn ihre Bausteine in Beziehung gesetzt worden sind.« 6 – – Schmidt wird diesem Anspruch gerecht werden.

 
 

Anmerkungen

Rolf Italiaander: Der Bühnenschriftsteller der Gegenwart und das heutige Theater. In: Hamburger Jahrbuch für Theater und Musik (1951), S.132–141.   zurück

Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Tübingen 1983, Bd.1, S.8.

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Günther Weisenborn: Von Tod und Hoffnung der Dichter. In: Der Autor (1947), H.8, S.5–9, S.6.   zurück

Rolf Hochhuth: Von Ibsen bis Frisch. Günther Rühles umfassender Band zur Geschichte des deutschsprachigen Theaters von 1887 bis 1945. In: Die Berliner Literaturkritik (19.03.07).

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Rolf Michaelis: Bühne des Wahnsinns. Günther Rühle hat ein großes Werk vorgelegt über das Schauspiel in Deutschland von 1887 bis zum Ende der Diktatur. In: Die Zeit (21.03.2007).   zurück
Friedrich Dürrenmatt: Theaterschriften und Reden, Bd.1, Zürich 1966, S.87.   zurück