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Die Neugestaltung des bayerischen Bibliothekswesens zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Beispiel Regensburgs

  • Manfred Knedlik / Bernhard Lübbers (Hg.): Die Regensburger Bibliothekslandschaft am Ende des Alten Reiches. (Kataloge und Schriften der Staatlichen Bibliothek Regensburg 5) Regensburg: Universitätsverlag Regensburg 2011. 200 S. 2 farb., 4 s/w Abb. Broschiert. EUR (D) 19,95.
    ISBN: 978-3-86845-081-1.
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Untersuchungsgegenstand und Erkenntnishorizont

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Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes haben sich zum Ziel gesetzt, die kulturelle Umbruchszeit des beginnenden 19. Jahrhunderts im Fokus der Regensburger Bibliotheksgeschichte zu beschreiben und über die in dem Band vereinte »Bestandsaufnahme« hinaus »Anregungen für eine weitere, intensivere Beschäftigung mit der Regensburger Bibliothekslandschaft am Ende des alten Reiches zu geben« (S. 8).

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Vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches war Regensburg eine Stadt mit vielen Gesichtern. Als Sitz des Immerwährenden Reichstages beherbergte sie Diplomaten aus ganz Europa, als protestantische Reichsstadt und katholischer Bischofsitz zugleich war sie geprägt vom Gegensatz der Konfessionen, mit ihren verschiedenen Bibliotheken, allen voran der Klosterbibliothek des Reichsstifts St. Emmeram, war sie aber auch von der Zeit des Humanismus bis hin zur Aufklärung Anziehungspunkt für Intellektuelle und Wissenschaftler.

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Die napoleonische Ära brachte der Stadt Jahre massiver politischer Umbrüche: Mit dem Reichsdeputationshauptschluss wurde 1803 die Säkularisation in Gang gesetzt und das Fürstentum Regensburg geschaffen, das Napoleon 1810 dem Königreich Bayern zuschlug. In diese Zeit fielen auch das Ende des Immerwährenden Reichstages und die Eroberung Regensburgs durch französische Truppen im fünften Koalitionskrieg. Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf das geistige Leben der Stadt beleuchten zwölf Aufsätze Regensburger Bibliothekare, Archivare und Historiker, die sich nach einem einführenden Beitrag der beiden Herausgeber, der die Geschichte aller Regensburger Bibliotheken kurz umreißt, vor allem mit ausgewählten Bibliotheken und deren Entwicklung seit der frühen Neuzeit beschäftigen.

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Die zersplitterte Regensburger Bibliothekslandschaft

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Am Anfang der Einzeluntersuchungen steht ein weiterer gewissermaßen einleitender Beitrag der Herausgeber Manfred Knedlik und Bernhard Lübbers, der sich mit der »Beschreibung verschiedener Bibliotheken in Europa« durch den Bibliothekar und Büchersammler Adalbert Blumenschein (gest. 1781) befasst. Diese für die Bibliotheksgeschichte des 18. Jahrhunderts hochinteressante Quelle ist in den Handschriften Cod. Ser. n. 2807–2810 der Österreichischen Nationalbibliothek überliefert; die Passage über Regensburg wird hier zum ersten Mal in Transkription wiedergegeben. Blumenschein nahm mehrere Bibliotheken in Augenschein und beschrieb sie hinsichtlich ihres Bestandes, ihrer Aufstellungssystematik und ihrer Kataloge; auch behandelte er Themen wie die Einrichtung und Beleuchtung der Leseräume und zeichnete damit insgesamt ein lebendiges Bild der Regensburger Bibliothekskultur im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts.

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Maria Rottler, die sich bereits in ihrer Magisterarbeit mit dem St. Emmeramer Bibliothekar und Historiker Roman Zirngibl befasst hat, skizziert das Ende der Klosterbibliothek, deren Handschriftenbestand 1812 unter dem Bücherkommissar Bernhart fast vollständig in die königliche Hofbibliothek abtransportiert wurde, während die übrigen Bände den Grundstock der 1816 errichteten Kreisbibliothek in Regensburg bildeten. Zu den Beständen dieser Kreisbibliothek gehörten auch die Überreste der Bibliothek des Jesuitenkollegs. Diese Bibliothek war spezialisiert auf Predigt- und Missionsliteratur, sie erwuchs aus der Büchersammlung des Jesuitengymnasiums und wurde vermutlich, wie Michael Drucker mit guten Gründen darlegt, weitestgehend während des Koalitionskrieges zerstört.

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Klöster vor den Toren der Stadt waren bereits 1803 von der Säkularisation betroffen. So gelangten die wichtigsten Handschriften- und Bücherbestände der von Rosa Micus untersuchten Kartause Prüll wie des von Stephan Kellner behandelten Klosters Prüfening bereits in diesem Jahr unter Federführung des Bücherkommissars Johann Christoph von Aretin in die königliche Hofbibliothek. Die von Aretin nicht abtransportierten Bände wurden hingegen auf die Provinzialbibliothek Straubing, die Universitätsbibliothek Landshut oder die Regensburger Stadtbibliothek verteilt. Die Bücherbestände aus Prüfening wurden sogar gewissermaßen zweifach säkularisiert, als 1812 Bücherkommissar Bernhart aus der Stadtbibliothek Regensburg ehemalige Prüfeninger Bände nach München schaffen ließ.

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Von der Säkularisation nicht betroffen waren das Schottenkloster St. Jakob und das Stift zu unserer Lieben Frau. Restbestände ihrer Bibliotheken finden sich heute in der Bischöflichen Zentralbibliothek in Regensburg, wohin sie erst in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts überführt wurden. Paul Mai rekonstruiert anhand von Katalogen des 17. und 18. Jahrhunderts den Handschriftenbestand der Schottenklosterbibliothek, während Werner Chrobak den Handschriften- und Inkunabelbesitz der Stiftsbibliothek anhand zweier Kataloge des 19. Jahrhunderts nachzeichnet.

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Von der Säkularisation auf zweifache Weise profitierte die Hofbibliothek Thurn und Taxis, die aus der Privatbibliothek des Fürsten Alexander Ferdinand, dem kaiserlichen Vertreter auf dem Immerwährenden Reichstag, hervorgegangen war. Sie war seit 1782 öffentlich zugänglich, musste aber zwischenzeitlich aufgrund finanzieller Schwierigkeiten des Fürstenhauses 1808 geschlossen werden, bevor sie durch den Umzug in die leeren Bibliotheksräume der ehemaligen St. Emmeramer Klosterbibliothek und den Zuwachs durch verschiedene säkularisierte Klosterbibliotheken einen erneuten Aufschwung erfuhr. Peter Styra stützt sich in seinem Beitrag zur Hofbibliothek vor allem auf die Briefe des fürstlichen Bibliothekars Albrecht Christoph Kayser, die den bibliothekarischen Alltag mit all seinen Widrigkeiten höchst anschaulich beleuchten: So klagt Kayser unter anderem über kalte Räume, den Gestank der Thurn und Taxis’schen Brieftauben und seinen Ärger mit dem Buchbinder.

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Auf Kaysers Anregung entstand die erste Lesegesellschaft in Regensburg, deren Mitglieder sich Biographien, Reiseliteratur und Fachbücher aus den Bereichen Politik und Wirtschaft teilten. Nach Umlauf wurden die Bücher der Stadtbibliothek zur Verfügung gestellt. Nachfolgerin dieses Lesezirkels wurde die 1801 gegründete Gesellschaft »Harmonie«, die von Manfred Knedlik einer genaueren Untersuchung unterzogen wird. Sie hatte über 100 Mitglieder aus allen Ständen, zu denen auch Fürst Alexander von Thurn und Taxis zählte. Offensichtlich sahen sich die gebildeten Regensburger von den öffentlichen Bibliotheken nicht ausreichend mit aktuellem Schrifttum versorgt und behalfen sich auf diese Weise, um Zeitschriften und neu erschienene Bücher lesen zu können. Die Gesellschaft wurde regelrecht zu einer kulturpolitischen Institution, sie unterhielt ein Lesezimmer und -kabinett mit Präsenzbestand und verfügte über eine Büchersammlung, deren Bände nach Hause entliehen werden konnten.

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Die Geschichten der städtischen Büchersammlungen stehen im Zentrum der Beiträge von Hermann Hage zum Regensburger Bibliothekar Carl Theodor Gemeiner und von Alois Schmid zur Bibliothek des Gymnasium poeticum. Vor 1783 gab es drei kommunale Bibliotheken: die Ratsbibliothek mit administrativ-juristischem Schrifttum, die Gymnasialbibliothek mit wissenschaftlicher Literatur und die von dieser seit 1698 losgelöste Ministerialbibliothek für die protestantische Stadtgeistlichkeit. Unter Gemeiner wurden diese Bibliotheken in die Stadtbibliothek überführt. Unter seiner Ägide entstand nach Auflösung der Stadtbibliothek schließlich auch die 1816 gegründete königliche Bibliothek für den Regenkreis, wohin diejenigen Bände gelangten, die die königlichen Bücherkommissare nicht für die Hofbibliothek in München beschlagnahmt hatten.

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Zusammenfassung

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Die Bibliothekslandschaft Regensburgs vor der Umbruchsphase in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch ein Nebeneinander verschiedener Büchersammlungen unterschiedlicher Institutionen, die jeweils auf einen ganz bestimmten Nutzerkreis ausgerichtet, aber in den meisten Fällen in irgendeiner Form öffentlich zugänglich waren. Für die offensichtlichen Probleme, die durch eine solche dezentrale Versorgung der gebildeten Bevölkerungskreise mit Literatur entstanden, wurden bereits vor der Säkularisation auf der Ebene der kommunalen Bibliotheken Lösungen gesucht. Die wertvollsten und reichsten Bestände befanden sich jedoch in den Klosterbibliotheken, die ihre wichtigsten Bände in der Regel an die Hofbibliothek nach München abtreten mussten, während die neu geschaffene Kreisbibliothek, aus denen die heutige Staatliche Bibliothek in Regensburg hervorgegangen ist, sich mit den Restbeständen begnügen musste. Den Verlust von Kulturgut in einem so großen Ausmaß konnte auch die neue, verbesserte Organisation des Bibliothekswesens nicht wettmachen.

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Mehr als eine Bestandsaufnahme

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Eine von Alexander Krisch zusammengestellte Bibliographie zur Regensburger Bibliotheksgeschichte schließt den Sammelband ab, dessen Beiträge oft über eine reine »Bestandsaufnahme« hinausgehen. Besonders die Beiträge der beiden Herausgeber und die Untersuchungen von Peter Styra und Paul Mai bringen viel Neues, weil sie nicht nur den Forschungsstand zusammenfassen, sondern auf der Auswertung bislang nicht oder nur wenig beachteter, ungedruckter Quellen basieren. Umso bedauerlicher ist es, dass dem Sammelband kein Verzeichnis der benutzten Handschriften und Archivalien beigefügt ist; auf ein Personen- und Namensregister wurde leider ebenfalls verzichtet, was gerade bei einem Sammelband, dessen Beiträge auf so vielschichtige Art und Weise miteinander korrespondieren, besonders bedauerlich ist.