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Kunstreligion um 1800

  • Albert Meier / Alessandro Costazza / Gérard Laudin (Hg.): Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner Entfaltung. Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2011. 269 S. EUR (D) 109,95.
    ISBN: 978-3-11-021780-3.

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Einführung

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Das literaturwissenschaftliche Interesse an der Kunstreligion, ihrer Entwicklung im 18. Jahrhundert und ihrer programmatischen Umsetzung im Kreis der Romantiker, ist – das zeigt ein Blick auf die Forschung – in den letzten Jahren in bemerkenswerte Höhen gestiegen. 1 Historisch und systematisch ausgerichtete Arbeiten wie die maßgebliche Studie von Bernd Auerochs mit dem Titel Die Entstehung der Kunstreligion 2 sind dabei nicht nur an der umfassenden Untersuchung der konzeptuellen Genese interessiert, sie bemühen sich vor allem auch um die »Konturierung eines terminologischen Status.« 3

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Die 16 vorliegenden Untersuchungen knüpfen an diese Forschungsleistungen an. Sie sind das Ergebnis einer zwischen 2009 und 2011 von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin geleiteten Tagungsreihe, 4 die das Ziel hatte, in drei Etappen der »Formulierung des Konzepts Kunstreligion um 1800«, seiner »Radikalisierung nach 1850« und der »Diversifizierung um 2000« nachzugehen. Von den drei geplanten Sammelbänden ist der erste, hier vorliegende, 2011 unter dem Titel Kunstreligion. Der Ursprung des Konzepts um 1800 erschienen. Insgesamt ist die Reihe unter dem Titel Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung zusammengefasst.

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Im Anschluss an die Unterscheidung zwischen Begriffs- und Konzeptgeschichte geht es dem Band um die Entwicklung der Kunstreligion vor ihrer begrifflichen Einführung in Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers 1799 anonym veröffentlichter Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Die Beiträge – von denen zwei ihren Blick vergleichend auf die italienische Literatur wenden – führen dabei die Ergebnisse der Forschung zusammen, zeichnen Großthesen im Detail nach, überprüfen und problematisieren sie. Damit wird zugleich die Untersuchungsperspektive auf den konzeptuellen Ursprung der Kunstreligion erweitert, was im Einzelnen dazu führt, dass neue Fragen für zukünftige Arbeiten angeregt werden.

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Die Artikel lassen sich in drei Gruppen unterteilen: 1) ideengeschichtliche Beiträge, die die konzeptuellen Entwicklungslinien der Kunstreligion bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen; 2) Artikel, die das Phänomen der Kunstreligion sowie das Verhältnis von Kunst und Religion um 1800 in einzelnen Fallstudien untersuchen; und 3) Beiträge, die sich einerseits auf programmatische Widerstände gegen die Kunstreligion und anderseits auf Skepsis innerhalb kunstreligiöser Texte selbst konzentrieren.

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Was ist Kunstreligion?

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Eingeleitet wird der Band von Heinrich Deterings grundlegender Antwort auf die Frage »[i]n welcher Weise […] von Kunstreligion sinnvoll die Rede sein [kann]« (S. 12); der Titel seines Beitrags lautet Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen. Mit der Beantwortung dieser Frage greift Detering auf seine Begriffsexplikation im von Thomas Anz herausgegebenen Handbuch Literaturwissenschaft zurück. 5 Demnach müsse die Rede von Kunstreligion drei Voraussetzungen erfüllen: Erstens eine »funktionale Ausdifferenzierung von Kunst und Religion zu voneinander nicht abhängigen gesellschaftlichen Teilsystemen« (ebd.); zweitens »eine emphatische Bezugnahme von Kunst auf Religion und auf das von dieser vorausgesetzte Heilige oder Numinosum« (ebd.); und drittens der Anspruch der Kunst, eine »Aufgabe [zu erfüllen], die vom jeweils vorausgesetzten religiösen System nicht oder nicht zureichend erfüllt zu werden scheint.« (Ebd.)

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Wesentlich für Deterings Explikation ist die Leitdifferenz Konkurrenz und Konvergenz, mit der zwei Extrempositionen der Bezugnahme von Kunst auf Religion bezeichnet werden. Entsprechend sei dann einerseits von Kunstreligion, andererseits von Kunstreligion die Rede. Als Beispiel für ein ausdrücklich konkurrierendes Verhältnis zwischen Kunst und Religion führt Detering Richard Wagners Forderung nach einer autonomen Kunst als »ästhetische ›Gegen-Kirche‹«(S. 15) an. Den Versuch, Kunst und Religion konvergieren zu lassen, jedoch ohne sie dabei gleichzusetzen, sieht Detering in Schleiermachers Reden über die Religion, denen er sich detailliert im historisch ausgerichteten Teil seines Beitrags zuwendet.

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Besondere Impulse für zukünftige Untersuchungen zur Kunstreligion gibt Detering mit seiner auf Emile Durkheim zurückgehenden religionssoziologischen Verwendungsweise des Begriffs ›Religion‹ als ein »solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.« 6 Diese Begriffsverwendung lenkt die Aufmerksamkeit vor allem auf die zweite der von Detering angeführten Voraussetzungen für die Rede von Kunstreligion. Nimmt man diese Bezugnahme der Kunst auf die Religion nun aber genauer in den Blick, dann ergibt sich daraus in erster Linie die »Notwendigkeit einer stärkeren Einbeziehung von Theologie und Religionswissenschaft in einen entsprechend erweiterten interdisziplinären Austausch.« 7 Nicht zuletzt werden damit aber auch literatursoziologisch und mediengeschichtlich zu rekonstruierende Aspekte ins Blickfeld gerückt.

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Konzeptuelle Entwicklungslinien der Kunstreligion

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Bernd Auerochs’ Hauptargument in seinem Beitrag Das Bedürfnis der Sinnlichkeit. Möglichkeiten funktionaler Äquivalenz von Religion und Poesie im 18. Jahrhundert ist folgendes:

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Man muss den Standpunkt der Philosophie beziehen, wenn man im 18. Jahrhundert die Idee der Austauschbarkeit von Religion und Kunst in den Blick bekommen will. Von diesem Standpunkt aus erscheinen Religion wie Kunst als sinnliche und populäre Versionen einer Wahrheit, die in ihrer reinen – unsinnlichen wie unpopulären – Gestalt nur der Philosophie zugänglich ist. (S. 30)
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Um zu verstehen, warum die Philosophie Religion und Kunst nicht einfach als falsch abtut, müsse man – so Auerochs – zum einen die »Aufwertung der Sinnlichkeit« (S. 36) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zum anderen »die jahrhundertealte Tradition der philosophischen Allegorese von Religion und Poesie« (S. 30, Anm. 3) in den Blick nehmen. Letztere erlaube es der Philosophie, die sinnlich-populäre Gestalt der Religion auf den philosophischen Gehalt hin auszulegen. Im Zusammenspiel von sinnlich-populärer Gestalt und philosophischer Wahrheit bestehe dann auch die »strukturelle Gemeinsamkeit der Religion mit der Poesie […]. Auch die Religion wäre […] eine Art von verzuckerter Pille, in der ›abgezogene Wahrheit‹ indirekt und sinnlich gelehrt würde.« (S. 35)

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Mit der Frühromantik komme es zu einer entscheidenden Änderung im Verhältnis zwischen Kunst, Religion und Philosophie. Nicht mehr Kunst und Religion arbeiten der Philosophie zu, sondern die Philosophie »wird zu einer Art Propädeutik, um zur Religion durchzustoßen.« (S. 42) Dies habe mit dem Wandel des Wahrheitsbegriffs zu tun; Wahrheit gelte nun prinzipiell als unaussprechlich. Als »Hort des Unaussprechlichen« gelte wiederum die Religion, und die Poesie »ist das geeignete Medium, die gefundene (unendliche) Religion (indirekt) zu artikulieren.« (Ebd.)

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Kunst erhalte ihren Vorzug gegenüber der Offenbarungsreligion dabei gerade durch ihre Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten in Bezug auf die universale Einheit. Doch bleibe – so resümiert Auerochs und schlägt damit den Bogen zurück zur Tradition der philosophischen Allegorese von Kunst und Religion – die Kunstreligion »ein philsophisches Konzept. Und dieses Konzept beruht auf einer esoterischen Interpretation von Poesie bzw. Kunst.« (S. 44)

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Mit der Frage nach der Genealogie des Konzepts der Kunstreligion geht Stefanie Buchenau in ihrem Beitrag Kunstreligion und Vernunftabstraktion. Zur Genealogie des Konzepts vor 1800 (Baumgarten, Kant, Schleiermacher) ebenfalls von einer »Dreieckskonstellation zwischen Kunst, Religion und philosophischer Vernunft« (S. 89) aus. Sie konzentriert sich dabei besonders auf die Kritik an der Abstraktheit der Philosophie von Seiten der mit Alexander Gottlieb Baumgarten aufkommenden Ästhetik und der Theologie. Die Philosophie – so Buchenau mit Baumgarten –»könne mit dem ihr zur Verfügung stehenden Werkzeug – der Sprache nämlich – nicht gleichzeitig Anschauung und logische Transparenz anstreben.« (S. 93) »Der Dichtung fällt damit die Aufgabe zu, bildlich und rhetorisch lebhaft zu denken und zu sprechen. Damit übernimmt sie auch wichtige homiletische und theologisch-praktische Funktionen.« (S. 94)

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Kant breche zwar mit der »Idee Baumgartens, allen religiösen Begriffen oder Themen eine poetische Anschauung zu unterlegen« (S. 97), indem er den Vernunftideen prinzipiell jede Art von sinnlicher Anschauung abspreche, doch gehe er immer noch – und darauf weist auch Auerochs hin (vgl. S. 36) – von einer »Erweckung und empirischen Belebung der abstrakten Vernunftideen« (S. 98) durch das Schöne und Erhabene in Natur und Kunst aus. Baumgarten und Kant seien damit in gewisser Hinsicht die Vorbereiter des Schleiermacher’schen Begriffs der Kunstreligion – jener, weil er »erstmals die Kunst gleichrangig neben die Philosophie stellt« (S. 99), dieser, weil er »die begrifflichen Waffen schmiedet, die Schleiermachers Angriff auf die Philosophie im Namen von Kunst und religiösem Gefühl erst ermöglichen.« (Ebd.)

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Dass die Aufwertung der Kunst und die Entstehung der Kunstreligion erst durch die Krise der Philosophie angestoßen, »Funktionen und Ansprüche [also] jeweils von außen an [die Kunst] herangetragen und in sie projiziert werden« (S. 101 f.), führt Buchenau zur folgenden weiter führenden Frage:

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[…] ob das Phänomen Kunstreligion, wie es sich um 1800 mit Schleiermacher ausbildet, nicht vielmehr von einer bestimmten historischen Konstellation abhängt, die in dieser Form nicht mehr existiert, ob es nicht nur eine spezifische, nämlich protestantische Form von Kunst betrifft, und ob die Entwicklung der modernen Kunst nicht vielmehr die allmähliche Erschöpfung und Entleerung der romantischen Paradigmas Kunstreligion belegt. (S. 102)
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Die Antwort auf den ersten Teil der Frage verlangt eine interdisziplinäre Betrachtung der Kunstreligion, bei der vor allem die Theologie einbezogen wird; die Antwort auf den zweiten Teil verlangt eine ausgedehntere Perspektive auf die Entwicklung der Kunstreligion im 19. und 20. Jahrhundert.

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Alessandro Costazza legt in seinem Beitrag Die Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis: von Baumgarten bis zum Frühidealismus den Fokus auf den Zusammenhang von Schönheit und Religion. Auch er bezieht sich dabei auf die Philosophie. Ausgangspunkt ist Friedrich Hölderlins Briefroman Hyperion und dort konkret das Konzept der ›intellektuellen‹ bzw. ›intellektualen Anschauung‹ und die Idee einer »intuitive[n] Auffassung der Natur« durch die Kunst (S. 73).

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In einem zweiten Schritt geht Costazza zeitlich noch einmal zurück, skizziert das im 18. Jahrhundert diskutierte Verhältnis von ästhetischer und göttlicher ›anschauender‹ Erkenntnis von Baumgarten bis Jakob Michael Reinhold Lenz und nimmt dabei besonderen Bezug auf den zeitgenössischen Genie-Diskurs. Er zeigt, wie es sukzessive zu einer »Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis« (S. 83) kommt, die in Karl Philipp Moritz kulminiere. Doch komme es dabei zugleich auch »zur Eliminierung des Genies selbst, das zum bloßen Werkzeug einer dunklen natürlichen Kraft wird, die durch ihn [sic] hindurch im Kunstwerk ihre höchste […] Erlösung im Schein feiert.« (S. 85) Damit zeige sich auf der Seite der künstlerischen Produktion eine ebensolche »Überwindung der Einschränkung des Subjekts«, ein ebensolches »pantheistisches Einswerden« wie auf der anhand von Hölderlin dargelegten Seite der Rezeption (S. 86). In dieser Entwicklungslinie stehe dann schließlich auch Schleiermacher mit seinem Begriff der Kunstreligion.

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Fallstudien zur Kunstreligion und zum Verhältnis von Kunst und Religion

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In seinem Beitrag ›…in einer andern Welt‹. Die Spannung zwischen religiösem und ästhetischem Weltbegriff bei Novalis untersucht Remigius Bunia Friedrich von Hardenbergs Begriff ›Welt‹ als »den Dreh- und Angelpunkt der Verschmelzung von Kunst und Religion« (S. 103). Er tut dies im Wesentlichen aus zwei Gründen: erstens weil »›Welt‹ im Christentum immer schon ein zugleich theologischer und weltlicher Begriff ist, der das irdisch-reale Hiersein einem transzendenten Ideal gegenüberzustellen erlaubt.« (Ebd.) Zweitens weil »›Welt‹ um 1800 [erlaubt] […], die Einheit in der Vielfalt der Erfahrungen und Denkzusammenhänge ebenso wie die Vielfalt in der Einheit der einen, einzigen Schöpfung zu sehen.« (Ebd.) Bunia lenkt damit die Aufmerksamkeit auf einen zentralen Aspekt im Denken Hardenbergs. Auf der Grundlage der Verbindung von Pantheismus und Entheismus wird in der Sehnsucht nach einer (in der Erkenntnis immer verfehlten) absoluten Ganzheit »der einen Welt« (S. 112) die Vielfalt weltlicher Erscheinungsformen erfahren. 8

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Marco Castellaris Beitrag ›Religion ist Liebe der Schönheit‹. Natur- und Kunstreligion in Hölderlins ›Hyperion‹ zeichnet sich besonders dadurch aus, dass er die Forschung zur Kunstreligion an Hölderlin anschließt. Dass dies bisher kaum geschehen ist, verwundere insofern, als – so Castellari – im Hyperion doch eine »regelrechte Religion der Schönheit [zu finden ist]« (S. 183). »Die Schönheit ist Manifestation der göttlichen Natur, deren vollkommen immanente Ganzheit dem Menschen […] nur ästhetisch erfahrbar ist.« (Ebd.) Hierbei besteht Einigkeit zwischen den Beiträgen Castellaris und Costazzas.

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Nicht um Kunstreligion, sondern um den Einfluss der Religion auf die Kunst geht es in Stefania Sbarras Beitrag Das Erlösende in der Poesie. Eine Parallele zwischen Zinzendorf und Goethe. Anhand des ersten und des zweiten Faust-Teils veranschaulicht sie, welche Bedeutung die durch die Jugendfreundin Susanna Katharina von Klettenburg vermittelten Anschauungen Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs und des Herrnhuter Pietismus für Johann Wolfgang Goethe hatten. Vor allem das »Verlangen nach Ursprünglichkeit« (S. 48), das sich bei Zinzendorf unmittelbar an die Lieddichtung knüpfe, lasse sich im Faust wiederfinden.

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Gerhard Lauers Beitrag Das bittere Leiden an der Kunst. Über die Sinnbildkunst in Clemens Brentanos »Das bittere Leiden unsers Herrn Jesus [sic] Christi« beschreibt den besonderen Fall eines romantischen Dichters, dem die »romantische Kunst selbst […] zum Problem [wird]« (S. 241), weil sie seiner Meinung nach zu wenig Religion beinhalte, und der sich deshalb entscheide, nicht mehr autonomer Dichter zu sein, sondern als »›Schreiber‹ […] nur noch Religion zu betreiben.« (Ebd.) Das Ergebnis dieser Tilgung der Kunst zugunsten der Religion seien dann Brentanos über viele Jahre »in Dülmer Abgeschiedenheit« angefertigten Aufzeichnungen der »›gottseligen Anna Katharina Emmerick‹ über das ›bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi‹« (S. 242). Doch kehre

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[a]uf der Rückseite des Wunsches kein Autor mehr zu sein, kein Werk mehr zu schreiben und keine Kunst mehr zu betreiben, sondern nur noch der Religion zu dienen, […] die spezifische moderne Ästhetisierung nur wieder. (S. 251)
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Im Rahmen einer sozialgeschichtlichen und literatursoziologischen Kontextualisierung von Brentanos Text weist Lauer auf die umfassende Ästhetisierung und Verbürgerlichung der Lebenswelt hin, die auch eine Ästhetisierung der Religion umfasse. Doch brauche nicht nur die Religion die Kunst, »um im Staat die vergesellschaftende Wirkung zu entfalten« (S. 238), ebenso brauche die Kunst auch die Religion, »um gesellschaftlich bedeutsam sein zu können. Das ist das neue Muster des 19. Jahrhunderts und auch das Muster Clemens Brentanos.« (Ebd.)

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Programmatische Widerstände gegen die Kunstreligion und Skepsis innerhalb kunstreligiöser Texte

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Sowohl Alexander Nebrig (Poesie oder Prosa? Hegels Literaturbegriff und die ästhetische Erfahrung des Absoluten) als auch Markus Ophälders (›eine schöne Religion stiften‹. Hegels Kunstreligion als ›moralische Anstalt‹) befassen sich mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kritik der Kunstreligion als »anachronistisch[es] und inadäquates Mittel der göttlichen Erfahrung.« (Nebrig, S. 161) Damit einher gehe die Etablierung der Philosophie »als modernes Leitmedium für die Selbsterfahrung des (göttlichen) Geistes.« (Nebrig, S. 162) Auffällig sei dabei, dass Hegel die im Programm der Frühromantik formulierten Möglichkeiten der Kunst als Form der Selbstbewusstwerdung des Geistes durchweg ignoriere.

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Nebrig führt dies auf Hegels Unterscheidung der Begriffe ›Poesie‹ und ›Prosa‹ in den Vorlesungen über die Ästhetik zurück (wobei es jedoch nicht klar sei, ob die strenge Unterscheidung als solche tatsächlich auf Hegel oder nicht zu einem gewissen Teil auch auf einen nachträglichen Hothos’schen Systematisierungswillen zurückgehe). »Kunst vermöge den Bereich der ›Anschauung‹, Poesie den der ›Vorstellung‹ nicht zu verlassen und müsse sich in zufälligen Formen des Lebens konkretisieren.« (Nebrig, S. 166) Die Prosa hingegen sei Inbegriff des Logos, des reinen Denkens. Die Unterscheidung von Poesie und Prosa stabilisiere Hegels Systemphilosophie und trage dazu bei, »einer eigentlichen Kunstreligion den Möglichkeitsraum in Gegenwart und Zukunft zu verschließen.« (Nebrig, S. 177) Hegel stehe sich hier mit seinem systemischen Denken gleichsam selbst im Weg, weshalb auch eine »Reflexion in einem Philosophie und Dichtung zusammenführenden Literaturbegriff« (ebd.), wie er in der Romantik zu finden sei, unterbleibe.

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René-Marc Pille konzentriert sich in seinem Beitrag Lob des ›Rein-Menschlichen‹. Weimarer Widerstände gegen die Kunstreligion auf das Konkurrenzverhältnis zwischen klassischer und frühromantischer Kunstauffassung. Er betont dabei zunächst die Gemeinsamkeiten beider Seiten, vor allem die gemeinsame »Verteidigung der Kunst gegen den ›Nutzen‹« (S. 137), d.h. die Kunstautonomie. Mit Blick auf die Zeitschriftenprojekte Europa und Propyläen lasse sich dann aber durchaus eine Art ›publizistischer Kriegsführung‹ erkennen. Anlass dazu hätten unter anderem die besprochenen Kunstgegenstände gegeben – wobei sich die Beträge in der frühromantischen Europa gezielt von der Weimarer Norm der griechisch-römischen Antike ab- und der christlich-religiösen Kunst des Mittelalters zuwenden.

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Christoph Deupmann befasst sich in seinem Beitrag Apostel oder Genie? Zu Johann Georg Hamanns eigensinniger Behauptung der Einheit von Kunst und Religion damit, wie Hamann das Primat der Religion und folglich die hierarchische Unterordnung der Ästhetik verteidigt. Nicht der Schriftsteller werde zum alter deus, sondern Gott zum primus scriptor. Dies habe weitreichende Folgen für die Kunst:

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Wenn Gott, vermittelt über die pneumatische Inspiration der Evangelisten, den Beruf des Schriftstellers ›erwählt‹ hat, dann steckt darin auch eine Aufwertung des Schriftsteller-Berufs bzw. eine religiöse Nobilitierung der Literatur, allerdings verbunden mit der ›Berufung‹ zur Bezeugung der Offenbarung, die ihrerseits über das Postulat der Nachfolge vermittelt wird. Dass das Christentum (wie das Judentum und der Islam) eine Buchreligion ist, verleiht dem Medium Buch bzw. der Schrift eine außerordentliche Dignität. (S. 66)
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Im Gegensatz zum zeitgenössischen Diskurs sei das Genie bei Hamann nicht autonom, sondern heteronom und in seiner künstlerischen Rede auf die »›primäre‹ Anrede Gottes gerichtet« (S. 68). Nicht mit Kunstreligion habe man es daher zu tun, sondern mit einem Festhalten »an der religiösen Bestimmung des Ästhetischen« (S. 66).

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In seinem Beitrag Kunstreligion und künstlerischer Atheismus. Zum Zusammenhang von Glaube und Skepsis am Beispiel Wilhelm Heinrich Wackenroders zeigt Marc Rispoli, wie die Subjektivität religiöser Erfahrung als Kern der Kunstreligion große Skepsis erzeugen kann. In der Gegenüberstellung des Klosterbruders und des Kapellmeisters Berglinger in Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders erscheine die Kunst einerseits als »religiöse[] Offenbarung«, andererseits aber auch als »dämonische[] Verführung« (S. 117). Die Kunstreligion des Klosterbruders erlange dabei gerade deshalb eine gewisse Stabilität, weil sie sich »auf eine Zeit bezieht, in der noch keine Kunstreligion möglich war« (S. 118), d.h. auf eine Zeit, in der die Kunst noch im Dienst der Religion stand.

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Das größte Problem liege im kunstreligiösen Relativismus. Berglingers »Enthusiasmus geht zugrunde, [als] er wahrnimmt, dass die Kunst beim Publikum nicht dieselben Gefühle wie bei ihm erweckt. […] Die Kunstreligion erweist sich als etwas höchst Asoziales, das nur im individuellen Gefühl wurzelt« (S. 125):

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Berglingers Elend hängt davon ab, dass das Kunstgefühl nicht zur öffentlichen Religion werden kann – es sei denn, diese bestünde in der Anmaßung einen einzelnen Künstlers und seiner Verführungskraft. Genau damit aber hört sie auf, eine Religion zu sein; sie kann kein Glaube mehr sein, sondern höchstens, wie Berglinger konsequent erkennt, ein ›Aberglaube‹. (S. 126)
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Auch Alain Muzelle beleuchtet dieses Problem in Wackenroders Herzensergießungen, stellt diesem Text in seinem Beitrag Das Bild des Künstlers im Werk Wackenroders und E.T.A. Hoffmanns vergleichend aber noch Hoffmanns Erzählung Die Jesuitenkirche gegenüber. Dort habe die aus der Opposition von Kunst und Leben resultierende Außenseiterposition des Künstlers weitaus drastischere Folgen: sie münde in den Freitod des Künstlers.

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Das Verdienst beider Beiträge besteht vor allem darin herauszustellen, dass bereits in Texten wie Wackenroders Herzensergießungen »als einer der frühesten und radikalsten Ausdrücke der modernen Kunstreligion […] zugleich eines der bedeutendsten Zeugnisse der modernen Skepsis gegenüber Sinn und Wert der Kunst [zu finden ist].« (Rispoli, S. 116)

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Fazit

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Der Leistung des Tagungsbandes liegt in erster Linie in der Zusammenführung, Überprüfung und Problematisierung der Forschungsergebnisse zur konzeptuellen Entwicklung der Kunstreligion und ihrer programmatischen Umsetzung um 1800. Er bildet dabei nicht nur einen sehr guten Überblick über die Komplexität des Konzepts, sondern auch einen Ausgangspunkt, denn er regt zu neuen, vor allem interdisziplinär ausgerichteten Untersuchungsperspektiven an. Die Rekonstruktion konzeptueller Entwicklungslinien der Kunstreligion (bei der ein hohes Maß an Einigkeit besteht) und auch ein Teil der Einzelanalysen (etwa zu Hölderlin, Novalis oder Hegel) werden in diesem Band im Wesentlichen von einer philosophiegeschichtlichen Analyseperspektive bestimmt. Darüber hinaus könnte man Fragen nach religiösen Autorschaftskonzeptionen aus literatursoziologischer Perspektive nachgehen – hier ließe sich an Deupmanns und Lauers Beiträge anknüpfen. Imitationen oder Adaptionen religiöser Praktiken (wie beispielsweise das Prinzip der Mündlichkeit im Kontext pietistischer Gemeinschaften) wären etwa mithilfe der Religionswissenschaft, konkret der Religionssoziologie analysierbar – Deterings Analyse von Schleiermachers Reden weist in diese Richtung. Spannungsfelder zwischen Offenbarungsreligion und einer philosophisch reflektierten Kunstreligion könnte man über eine theologische, kirchen- und sozialgeschichtliche Kontextualisierungen präziser beschreiben – hier ist es wieder Lauers Beitrag, der eine solche Beschreibungsperspektive einnimmt.

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Besonders hervorzuheben ist, dass sämtliche Beiträge in einer sehr gut lesbaren, transparenten Wissenschaftsprosa verfasst sind. Zur Klarheit der Darstellung trägt die stringente, sehr gut nachvollziehbare Argumentation aller Untersuchungen bei. Doch ist der Band auch im Zusammenhang der noch anstehenden Bände zur »Radikalisierung des Konzepts der Kunstreligion nach 1850« und zu seiner »Diversifizierung um 2000« zu sehen, auf die man angesichts der Qualität des vorliegenden Bandes sehr gespannt sein kann. Die Zusammenführung der kunstreligiösen Entwicklungslinien über einen Zeitraum von über 200 Jahren verleiht den Bänden dabei gleichsam den Charakter eines Kompendiums.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Kai Sina: Kunst – Religion – Kunstreligion. Ein Forschungsüberblick. In: Zeitschrift für Germanistik 21 (2/2011), S. 337–344.   zurück
Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. (Palaestra 323) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.   zurück
Kai Sina (Anm. 1), S. 337.   zurück
Vgl. die Dokumentation der Tagungsreihe auf der Website, URL: http://www.kunstreligion.uni-kiel.de/ (16.04.2012).   zurück
Heinrich Detering: Religion. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. 3 Bde. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 382–395.   zurück
Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übersetzt von Ludwig Schmidts. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 75.   zurück
Kai Sina (Anm. 1), S. 339.   zurück
Vgl. Ludwig Stockinger: Religiöse Erfahrung zwischen christlicher Tradition und romantischer Dichtung bei Friedrich von Hardenberg (Novalis). In: Walter Haug / Dietmar Mieth (Hg.): Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition. München: Fink 1992, S. 361–393.   zurück