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Das Anliegen
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Wie wird man einer Epoche gerecht, deren philosophische und literarische Ideen und Texte auch heute höchst interessant und spannend sind? Wie kann man fassen, was an Potential für eine Bildung des Menschen aus dieser Epoche erkennbar ist und bis heute höchst bedeutsam zu sein scheint? Marja Rauch hat in ihrer Arbeit den Versuch unternommen, das Romantische an »der Romantik« zu klären, sie hat das Ziel, im Begriff der ›Einbildungskraft‹ dessen Bedeutung für die Entstehung und Etablierung eines schulischen Literaturunterricht zu zeigen, ja die Wirkmächtigkeit und Bedeutsamkeit dieses romantischen Begriffs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in literaturdidaktischen Konzeptuierungen der 1970er bis 1990er Jahre zu belegen. Ein wahrlich kühnes Unterfangen.
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Der Aufbau der »Studie«
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Folgende Intentionen lassen die Teile erkennen:
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1. Der Titel Die Schule der Einbildungskraft weist deutlich auf die Epoche literar-ästhetischer und philosophischer Reflexion und poetischer Produktion zwischen Spät-Aufklärung und Romantik hin, der Sattelzeit um 1800 mit ihrem Anspruch, die Autonomie des Menschen zu festigen und die Autonomie der Literatur zu gewinnen. Teil I, 1 verspricht hier Klarheit zu bringen.
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2. Der Untertitel Zur Geschichte des Literaturunterrichts in der Romantik signalisiert einen spezifischen Einblick in die reale Geschichte des deutschen Unterrichts in einem von der Literaturgeschichtsschreibung etwa mit »zwischen Klassik und Biedermeier« bezeichneten Zeitraum. In diesem Zeitraum setzt sich bekanntlich der deutsche Unterricht durch, auch als Unterricht mit literarischen Texten. Daraus entwickelt sich die These:
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3. Förderung der »Einbildungskraft« an Dichtung, die selbst durch Einbildungskraft entstand, wird ein Ziel des Deutschunterrichts, ja fundiere ihn, denn diese sei als »romantischer Begriff der Bildung als einer vollständigen und ausgewogenen Konstituierung des Individuums« (S. 172) zu verstehen (Teil I,2). Dazu ist es nötig, der Bedeutung des Begriffs (und seiner Begleitbegriffe) näher nachzugehen, von der Spätaufklärung über Kant bis zu Fichte und Friedrich Schlegel. Die Überschrift S. 11, »Zur Entstehung des Literaturunterrichts aus dem Geist der romantischen Literatur«, braucht aber von solcher philosophischen Warte aus zwei weitere Schritte:
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4.1 In der Einleitung wird unter Berufung auf vorliegende Forschungen zum Literaturunterricht konstatiert, dass mit Hilfe des Begriffs »Einbildungskraft« Literaturdidaktik als Reflexionswissenschaft begründet worden sei (S. 17–18). Dieser mögliche Strang der Untersuchung wird jedoch nicht weiter verfolgt.
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4.2 Ausführlicher wird nach romantischen Texten im Literaturunterricht dieser Epoche gesucht. Doch es zeigt sich: Es ist nicht die romantische Literatur selbst, die den Unterricht erreichte, vor allem nicht die Auswahl von fünf Prosatexten der Romantik zwischen 1796 und 1841 (Kunstmärchen und Novellen), die in Teil II dennoch ausführlicheren Interpretationen unterzogen werden. Dass die philosophische und vor Kant schon psychologische Fundierung der Einbildungskraft mit dem »Interesse an der Freisetzung der Einbildungskraft« in der Literatur »der« Romantik (S. 91) identisch sei, wird behauptet, wobei parallel auch andere Begriffe wie Phantasie, Gefühl, Stimmung an vielen Stellen einfließen. Wieweit diese legitime oder illegitime Abkömmlinge des Begriffs »Einbildungskraft« sind oder eine andere Herkunft haben, wäre bei genauerer Lektüre der Quellen zu klären.
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4.3 So bleibt für die Entdeckung des »Geistes« der Romantik nur so etwas wie eine allmählich sich herausbildende Einstellung oder mentale Haltung der Verantwortlichen (Lehrer, Hochschulgermanisten und der an Literatur und Bildung interessierten Bürger), überhaupt Dichtungen in den Unterricht einzubeziehen. Zwar erfährt man im Teil III, dass ein sich kommunikativ ausbildender Kanon bis auf einen späteren Text (Eichendorffs Taugenichts von 1826) keine romantische Prosa enthielt. Aber eine bestimmte Haltung zur Literatur verfestigte sich, sicher auch über die vom Lehrplan vorgeschriebenen Literaturgeschichten.
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Das unterrichtliche Ziel schließlich wird von Rauch einmal gefasst im Begriff einer »Imaginationsleistung« des Lesers (S. 167), einem modernen Begriff der Literaturdidaktik.
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5. So ist schließlich der kritische Blick von der Gegenwart aus eingenommen; dies nicht erst im letzten Abschnitt (III.3), sondern schon mehrfach an Nahtstellen. Zum Beispiel wird in den Teilen I, 2.5 und III, 2 (S.171 f.) auf die aktuelle Diskussion des Literaturunterrichts und einige deren Konzepte, schließlich auch auf die aktuelle Kompetenzdebatte geblickt mit der Warnung, das Modell »Die Schule der Einbildungskraft« nicht leichtfertig zu verspielen (S.61 und Anm. 61; S.217–222). Anders gewendet: Der zuvor entdeckte ›Deutschunterricht der Romantik‹ dient (auch) als Vorbildsmodell für die Gegenwart.
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Diese Intentionen ergeben, zumindest sieht es so aus, ein überschaubares und tragfähiges Detail aus der komplizierten Geschichte des Deutschunterrichts bzw. eines Teils oder Lernbereichs. Dennoch bleibt das Thema noch so komplex, dass es unumgänglich ist, eine Strategie der Perspektuierung zu suchen.
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Die vorrangige Zielsetzung und ihre Forschungsschneisen
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»[D]ie Bedeutung der Romantik« habe »für die Genese des Deutschunterrichts in der Fachgeschichte bisher kaum Beachtung gefunden«. (S. 205) Es sei erweisbar, ja mit der vorliegenden Arbeit erwiesen, dass »die „Neuausrichtung des Deutschunterrichts als Literaturunterricht auf ein romantisches Konzept der Bildung und auf die Bedeutung der Phantasie zurückgeht« (S. 205). Von hier aus werden dann Schneisen in die komplexe Geschichte philosophisch-ästhetischer und literarischer sowie wirkungsgeschichtlicher und bildungstheoretischer Überlegungen gelegt, schmale Schneisen, deren Kreuzungen – um im Bilde zu bleiben – durch Wege anderer Forschungen tunlichst mit geschlossenen Augen übersehen werden, denn die eigenen Markierungen sind ja erst einmal zu setzen.
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Das Verständnis der Einbildungskraft zwischen Spätaufklärung und Frühromantik
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Die wachsende theoretische Bedeutung der Einbildungskraft, ihre zunehmende Hochschätzung zwischen Spätaufklärung, Kant und den ersten Texten der Frühromantiker, Friedrich Schlegel, Fichte (und Novalis), wird relativ ausführlich dargestellt.
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Zwar ist unbestritten, dass diese Diskussion philosophisch wie anthropologisch allmählich zu grundlegenden Haltungsänderungen in ästhetischer und literaturtheoretischer, anthropologischer und psychologischer und in der Folge auch bildungstheoretischer Hinsicht führte. Dennoch ist die These der Verfasserin, es sei »die Romantik« gewesen, die die zentralen Anstöße gegeben hätte, nicht nur zu einer neuen romantischen Literatur, sondern auch zur Begründung des Literaturunterrichts aus dem Geist einer solchen Romantik, sehr problematisch.
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Die Verfasserin sucht dazu eine poetische Schneise zu schlagen, in der sie einige von Tiecks und Hoffmanns romantische Erzählungen verortet, zudem auch auf die zeitgenössische Diskussion um die Bedeutung der (Volks-)Märchen hinweist. Erstere kommen nicht in den entstehenden Kanon, die letzteren sind aber eher dem Unterbau der Jugendbildung zuzuweisen – unbestritten Anregungspotential für die Kunstmärchen (worauf aber nicht hingewiesen wird).
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Notwendige Ergänzungen
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Wie aber sieht es denn in der Bildungsdiskussion der Epoche aus? An dieser Stelle muss man festhalten, dass die Verfasserin reichlich leichtfertig mindestens 60 Jahre in den Blick nimmt, in denen sich enorme Wandlungen vollzogen haben.
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Triade der Seelenvermögen
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Die Spätaufklärung in Philosophie und Anthropologie versucht ein neues Verhältnis der Triade von Seelenvermögen (Denkkraft, Willenskraft und Gefühl oder Phantasie) zu bestimmen. Die Entdeckung der Entwicklung des Menschen und die Entdeckung der Poesie werten den Bereich der Phantasie auf, zunächst vor allem für die Kinder. Für eine Bildung als Stärkung aller Seelenkräfte wird gerungen, aber für eine Bildung kann es keine Isolierung einer Kraft geben. Gefühl und Gemüt bedürfen der Stütze der Denkkraft, so wie der charakterlich gedeuteten Willenskraft (vielfach Gesinnung genannt). Es geht dann in der Folgezeit um das rechte Zusammenspiel gerade für schulische und vorrangig für die gymnasiale Bildung.
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»Einbildungskraft« als Zentralbegriff kommt nun, wie die Verfasserin ausführlich zeigt, über die Kantsche Philosophie zu den Frühromantikern, zu Fichte und Schlegel. Dort habe er seinen Entfaltungsort und seine Erweiterung.
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Romantische Phantasie
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Woran wäre das Anliegen besser erkennbar als an der Poesie? Dass es nicht die oben genannten Theoretiker sind, deren Poesie konsultiert wird, hat schon (nicht genannte) Gründe. Aber sei’s, die Verfasserin arbeitet in Textinterpretationen zu Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann nach, welche Weiterungen der Phantasieraum dort erfahren hat, der Unbewusstes und »Krankhaftes«, des Geistes wie der »Seele«, neugierig machendes Fremdes und Bedrohliches einschließt. Dass sie dann feststellen muss, dass solche Texte weder überhaupt genannt wurden noch gar Kanontexte der Schule wurden, hätte sie mit Gründen zum einen schon in zeitgenössischen Kritiken (zu Hoffmanns Nussknacker etwa) nachlesen können.
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Wichtiger aber wäre jedoch eine Klärung des Phantasiebegriffs. Auf Jean Pauls klare Differenzierung für »Einbildungskraft« weist Rauch (etwas verkürzt) hin (S. 136):
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Einbildungskraft ist die Prosa der Bildungskraft oder Phantasie. Sie ist nichts als eine potenzierte hellfarbigere Erinnerung […] Aber etwas Höheres ist die Phantasie oder Bildungskraft, sie ist die Welt-Seele der Seele und der Elementargeist der übrigen Kräfte, z.B. des Witzes, des Scharfsinns usw. […].
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Aufgegriffen wird die Unterscheidung nicht. Doch hilfreicher für das Anliegen der Verfasserin hätte sein können, mit Wolfgang Isers triadischer Beziehung von Realem, Fiktivem und Imaginärem zu arbeiten, weil die Begrenzungen der anthropologischen Kräftelehre stören, die die Debatte des 19. Jahrhunderts mit Oppositionen wie kindlich – erwachsen, weiblich – männlich, höhere versus niedere Triebe, vor allem aber mit Verstand versus Gefühl, bestimmte. Ehe aber hierbei über Synthesen nachzudenken wäre, müsste vorrangig bei der Phantasieleistung selbst angesetzt werden: Während nach Iser das Fiktive das ist, was sich immer im Gegenüber zum Realen ereignet, »ohne sich in deren Bezeichnung zu erschöpfen«
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, zielt das Imaginäre auf etwas Freies, Ungebundenes, das Reales aus seinen Bezügen herausnimmt und so eine neue Gestalt entsteht, eine Form, die man mit der romantischen Theorie die Autonomie der Literatur nennen könnte.
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Schlegels berühmtes Athenäumsfragment, das die Autorin ausführlich zitiert, arbeitet nicht mit dem Begriff »Einbildungskraft«, sondern spricht von »progressiver Universalpoesie«. Iser lehnt den Begriff ebenso ab
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und setzt an dessen Stelle ›das Fiktive fingieren‹, nicht als Kraft, sondern als Tätigkeit, mit einer doppelten Grenzüberschreitung, einer Neubestimmung von Wirklichkeit für andere Ziele und einem Realwerden von Imaginärem in neuer Gestalt.
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Nur das Fiktive – nach dieser Deutung – bleibt für die Zeitgenossen in der Nähe der geeigneten Literatur, für deren Akzeptanz schon die pädagogischen Aufklärer Horazens Satz »aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.«
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reklamieren. Rauchs Blick auf die Debatten um Lesebeginn (Rousseau), Lesestoffe, Lesesucht und Leselust in ihrer pädagogischen Wertung (Teil I, 2) macht klar, was in der Folge theoretisch und praktisch dominant wird: Das klassische Konzept der Ästhetik.
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Einbildungskraft und individuelle Bildung
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Für Kant ist »Einbildungskraft« nicht nur ein produktives Vermögen des Künstlers, sondern ein »Grundvermögen des Menschen«.
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Die Frühromantiker verstehen aber diese »Einbildung« als eine Leistung des Genies, in der Intellektualität immer mitwirkt. Durch Poesie könne eine »Vorstellung« (wie man heute sagen darf) auch zu den (gewöhnlichen) Lesern transferiert werden, eine Formung seines Gemüts oder Gefühls erreicht werden. Das zeitgleiche didaktische Programm »Dichter kann man nicht bilden«
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reduziert aber folglich die Möglichkeiten des Schülers auf die nachrangige Rezeption. Es ist demnach nur indirekt ein bildungsrelevanter Begriff, wenn denn Bildung mit »einbilden« als einem aktiven Prozess jedes Einzelnen zu tun hat, um die »Herkunft« des »Bildes«, das »eingebildet« werden soll, gewissermaßen seine »Anteile«.
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Mit einem Blick in die zeitgenössische Diskussion wäre es ein Leichtes, den Prozess der Verfestigung dieses Konzepts nachzuzeichnen, und zwar schon mit Äußerungen aus der Zeit, in der die Frühromantiker sich an der Debatte beteiligt haben. Ich nenne zwei Gymnasiallehrer, den Freund (und Schwager Tiecks) August Ferdinand Bernhardi, der 1811 eingehend auf die Bedeutung des Begriffspaars Verstand und Gefühl (und dazu Gesinnung) eingeht
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, auf August Arnold, der 1825, an Hegels Dreierschritt zum Aufstieg erinnernd, Gefühl, Verstand und Vernunft als Grundprinzipien ansieht
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. Robert Heinrich Hieckes Didaktik und den nicht genauer benannten Schulmann von 1845, der die Reihe, Gemüth, Phantasie und Denkkraft’
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als die bestimmenden Größen bildenden Handels bezeichnet, erwähnt Rauch, aber wundert sich über das Vergessen des Romantischen. Eine Lektüre des einflussreichen August Hermann Niemeyer wäre zu empfehlen gewesen.
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Diese zumindest für die höheren Bildungsanstalten immer festgehaltene Triade, die – das ist sicher richtig – gegen die strengen Altphilologen durchgesetzt werden musste, hat auch Wurzeln in der Philosophie um 1800. Gilt aber den Pädagogen immer die Leistung der Verstandes-, ja der Vernunftbildung als die Spitze, so haben sie in der Ästhetik ihre theoretische Fundierung, und die ist die wirklichkeitszugewandte Ästhetik des Schönen und Erhabenen, und nicht die Ästhetik des Hässlichen, auch nicht die der umfassenden Wahrnehmung alles Imaginären. Das hielten die Pädagogen dann erst recht im Blick auf die Erziehungsprinzipien fest.
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Der Gymnasiallehrer C.F. Falkmann, stellt 1823 über den Wert des Schönen für den deutschen Unterricht folgende Sätze auf:
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»Die Macht des Schönen ist erklärlich. Kein andrer Einfluß umfaßt so den ganzen Menschen; keiner setzt das Sinnliche und das Geistige in so enge Verbindung mit einander. […] Die Gewalt des Schönen ist süß. […] Darum mag das Schöne mächtig wirken. […] Aber das Schöne soll nicht überschätzt werden. […] Darum ist denn die Anlage zur Darstellung des Schönen, und wäre sie die höchste und seltenste, kein so schätzenswerthes Geschenk des Himmels, als Liebe zur Wahrheit und zur Tugend. […] Ja, der Mann, dessen intellectuelle Kräfte durch tiefes Studium, durch mannichfache Arbeiten geübt worden sind, der reich ist an den verschiedensten Kenntnissen, taugt vielleicht besser zum Dichter, als der, welcher ohne bestimmtes Studium und Beruf nur in den Träumen seiner Phantasie lebt. […] Und die Kunst soll nicht gemißbraucht werden.«
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Aber, gerade im Blick auf die gegenwärtige Didaktik fehlt ein zweiter Gesichtspunkt: der der Produktivität. Nur ganz am Rande des zeitgenössischen Diskurses wird über dichterische Versuche der Schüler geschrieben. Ein Blick auf die Etablierung des Aufsatzunterrichts könnte zeigen, wie schnell produktive Vorschläge, etwa bei Welcker
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, zugunsten einer sich etablierenden Aufsatzlehre verdrängt wurden. (Die damit aber angestrebte Formung des inneren Menschen und seines »Ausdrucksvermögens« – wie sie Abraham herausgearbeitet hat
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–, ist jedenfalls nicht das Ziel, das sich die genannten Romantiker gewünscht hatten.)
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Es ist die Literatur der klassischen Autoren, die zuerst auf der Woge der neuen Ästhetik und Bildungslehre Eingang in den sich etablierenden Deutschunterricht findet, allmählich, d.h. nach dem Ende der romantischen Literaturepoche, ergänzt wird um eine Auswahl romantischer Texte, die gewissermaßen die stimmungsvolle und gemütsstärkende Basis für jüngere Schüler mit dem Ziel der eigentlichen literarisch-rezeptiven Bildung bilden. Die Literatur aber wird in diesem halben Jahrhundert einer strengen Prüfung unterzogen, zu der die bei Falkmann gefundene Ästhetik gehört, aber immer – das Fiktive an Wirklichkeit gemessen – auch die Gesinnung, der Stolz auf das nationale Erbe und – spätestens mit dem Schub der Freiheitskriege (und seiner Schiller- und Körnerverehrung) – der Sinn für das Nationale. Es handelt sich um Verschiebungen in der Wertung, wie sie auf Kosten eines kritischen Reflexionsbewusstseins sich durchsetzen, wie es sich Novalis oder Schlegel gewünscht hätte.
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Zur Kanonbildung bezieht sich die Verfasserin auf aktuelle Forschungen, die aber noch keine ausreichenden Ergebnisse erbracht hätten. So fehlen auch genauere Angaben. Außer Eichendorffs Taugenichts fände sich nur Lyrik (von Uhland). Weitere Kanonforschung und Lesebuchuntersuchungen würden auch eher weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts führen. Ist das der Weg einer mentalen Veränderung im »Geist der Romantik«?
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Romantisches an den Rändern pädagogischen Handelns
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Dass an den Rändern auch etwas von Romantischem Eingang in das pädagogische Handeln findet, sortiert die Verfasserin wenigstens mit folgenden Bemerkungen ein:
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Es ist vor allem die Entdeckung der Kindheit als eigenständige Lebensphase (auch mit der Freiheit des Lesens in bürgerlichen Kreisen) im Kontext der Entwicklung der Seelenkräfte, die den Märchen, mancher Kindergeschichte und manchem Vers Ansehen verschaffte, bis hin zu Wackernagels Vision vom schönen Garten – aber das ist in der Geschichte der Schule randseitig, auch in den niederen Klassen. Es wird allerdings später, wohl über den Diltheyschen Erlebnisbegriff, zu einem problematischen Programm bis weit über die Hälfte des 20. Jahrhundert hinein.
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Und die Rezeption von Eichendorffs Taugenichts, als des einzigen Prosatextes der Romantik, wird kurzerhand (im Anschluss an das Referat von Untersuchungen, die Hermann Korte vorgelegt hat) mit den frühromantischen Begriffen Phantasie und Einbildungskraft verbunden, allerdings mit Hinweisen auf die verfehlte Deutung und die Dominanz von Stimmung und Emotionalisierung der Lektüre. Die tatsächliche Verknüpfung der Begriffsvorstellungen aber und deren Verschiebungen werden nicht gezeigt. Die Ursachen für diesen Mangel der »Studie« liegen nicht nur darin, dass die anderen Deutungswege der Epoche, nämlich die Veränderungen innerhalb der Literatur (auch die Interpretation von Waldeinsamkeit von Tieck aus dem Jahr 1841 wird dazu nicht genutzt), vor allem aber weder die religiösen noch die nationalen Zielsetzungen zureichend untersucht werden, noch auch Veränderungen im Umgang, also in der Methode des Unterrichts nachgefragt wurden.
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Renaissance der »Einbildungskraft« im aktuellen Literaturunterricht?
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In einem letzten Abschnitt (Teil III, 3) schlägt die Verfasserin eine Brücke zu aktuellen Diskussionen um Begründungen des Literaturunterrichts. Interessant ist an dieser Stelle, dass Rauch eine entscheidende Weichenstellung der Praxis des Deutschunterrichts nach 1800 erstmals benennt: die schon weiter oben nachgefragte Trennung von Lesen und Schreiben, genauer die Trennung literarischen Unterrichts von der Praxis eigenen Schreibens. Dass damit wiederum eine neue Schneise im Wald der Geschichte der Schule kurz betreten wird, zeigt allerdings, wie wenig bis zu diesem Punkt die Hauptintention des historischen Teils der Studie tragfähig war. Es ist der Geniegedanke, der im Kontext der Polemik gegen Regelpoetik und Rücknahme rhetorischer Belehrung das Lesen vom Schreiben und das Aufsatzschreiben von der Phantasiebewegung des Lesers trennt. Es ist die Verehrung des Hohen, Erhabenen und Schönen, die jeden »Zugriff« auf Texte, jeder »Eingriff« in sie durch »produktive Vernunft«, wie dies Müller-Michaels genannt hat oder »phantasiertes Handeln«, wie der Verfasser dieser Rezension, auch methodisch verhindert. Es wäre sinnvoll gewesen, schon bei der Vorstellung Kants darauf einzugehen, nicht erst hier. (S. 209)
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Auf acht Seiten wird knapp eine Reihe von Konzepten verschiedener Literaturdidaktiker vorgestellt, die sich mit den Begriffen Vorstellungsbildung, Phantasieentfaltung, Imaginationsfähigkeit explizit oder implizit auf den Begriff der Einbildungskraft zurückbeziehen oder beziehen lassen. Während in manchen dieser Konzepte der Gegensatz von Imagination und Ratio, in anderen die Suche nach zwei parallelen Wegen zu einer »Erkenntniskraft« erkennbar ist, ohne dass deren Verrechnung möglich wäre, bleiben weitere Fragen durchaus ebenfalls brennend, die nach der Auswahl der Texte (und der Methoden, von denen bei Rauch keine Rede ist) ebenso wie die nach dem Bildungs»-wert« des handelnden Umgangs mit Texten. Ist es eher einer für das Individuum, als Emotion beschreibbar oder doch als Selbstaufklärung – und mit welchen Folgen? Rauch resümiert nach knapp acht Seiten:
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Die Ansätze von Kaspar H. Spinner, Ulf Abraham, Gerhard Haas und Karlheinz Fingerhut weisen damit zwar in ganz unterschiedliche Richtungen. Ihnen gemeinsam ist aber der Rückbezug auf die Begriff der Einbildungskraft, der Imagination und der Phantasie, die schon die literaturdidaktischen und pädagogischen Überlegungen des frühen 19. Jahrhundert geleitet haben. Wie bereits angedeutet, spricht das keineswegs dafür, die zeitgenössischen literaturdidaktischen Konzeptionen unmittelbar auf die Romantik zurückzuführen. Vielmehr zeigt sich anhand der diskutierten Konzepte, dass der Begriff der Einbildungskraft immer dann an Relevanz gewinnt, wenn es um Fragen der Bildung geht. (S. 215)
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Es wäre im historischen Teil Gelegenheit gewesen, eben diesen Begriff der Einbildungskraft in seinen Facetten klarer zu fassen – auch um Bezüge zur und Kritik an der gegenwärtigen Literaturdidaktik (auch über die genannten lautesten Stimmen hinaus) klarer herauszustellen. Ob allein die Beschwörung des Begriffs »Einbildungskraft« genügt, um »Fragen der Bildung« zu klären, bleibt angesichts der Fallen ungewisse, mindestens weiterhin ein Forschungsprogramm.
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Der Erkenntniswert der Arbeit
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Es ist durchaus ein tragfähiger Gedanke, vom Begriff der »Einbildungskraft« aus die Entstehung und Entwicklung des Umgangs mit Dichtung im Unterricht bis in die Oberstufe des Gymnasiums im 19. Jahrhundert hinein zu verfolgen und mögliche Anknüpfungspunkte daran auch in der Gegenwart zu suchen. Dass dazu ein weites Feld verschiedener Forschungsfelder der Literaturwissenschaft und ihrer Geschichte, der Kanongeschichte, der Schulgeschichte, der Unterrichtstheorien, der Pädagogik und Psychologie, der Philosophie zu durchschreiten war, versuchte die Verfasserin zu lösen, indem sie von der These ausgeht, dass die (früh-)romantischen Autoren der eigentliche Anstoß zu Verankerung der Notwendigkeit literarischen Unterrichts im Denken der Verantwortlichen für Schullektüren und Lehrziele waren. Dies aber führte zu einer nicht tragfähigen Fehleinschätzung der Wirksamkeit frühromantischer Ideen. Literaturunterricht zwischen 1820 und 1850 kann nicht abgebildet werden ohne eine genauere Untersuchung der Diskurse und der schulischen Praxis und ihrer Texte. Der Leser der Arbeit wird dies an vielen Stellen selbst erkennen, überdeutlich in den Einleitungs- und Schlussabschnitten der Einzelkapitel, die in knappen Strichen die Kenntnis der Epoche aus der Forschungsliteratur besser abbilden und die Kernthese korrigieren oder unterlaufen.
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Die vorsichtige Selbstbezeichnung »Studie« erweist sich im Rückblick als Versuch, ein Mosaik verschiedener, vielleicht gar unabhängig voneinander entstandener Teile, die dann durch Überleitungen zusammensetzt wurden, als ein Ganzes zu formen. Grundlage sind im Wesentlichen Überblicks- und Summierungsdarstellungen zur Epoche und zu Einzelfragen (Kanon- und Literaturgeschichtskonzepte), wie sie etwa zwischen 1970 und 2005 publiziert wurden. Doch weder ein Abgleich zwischen unterschiedlichen Aussagen in verschiedenen Teilen noch eine Überprüfung an Quellentexten der Epoche selbst (abgesehen von den Interpretationen der romantischen Erzählungen) ist versucht. Es wird mir auch nicht klar, ob ein Teil der in den beiden Literaturverzeichnissen (bisweilen auch in Anmerkungen) genannten Publikationen wirklich in ihrer Intention und ihrem Erkenntniswert für die Arbeit Verwendung gefunden haben.
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