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Was ist Die deutsche Gegenwartsliteratur?

Popularität, Problematik und Produktivität eines literaturwissenschaftlichen Konzepts

  • Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. (UTB 3352) Köln, Weimar: Böhlau 2010. 247 S. Broschiert. EUR (D) 16,90.
    ISBN: 978-3-8252-3352-5.
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Gegenwartsliteratur –
›Schlüssel‹- oder ›catch-all-Begriff‹?

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Was nach der Wende im Literaturstreit um den gesellschaftlichen und ästhetischen Stellenwert von Literatur 1 begonnen hatte und bis zum Jahrtausendbeginn in literaturwissenschaftlichen Debatten anhielt, war eine grundsätzliche Diskussion um den »aktuellen Stand und Standpunkt der deutschen wie deutschsprachigen Literatur« 2 . Demnach gilt Gegenwartsliteratur seit jeher als Gradmesser für den derzeitigen Zustand der Literatur – und als Blaupause ihrer Gesellschaft.

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In den vergangenen Jahren jedoch vollzog sich innerhalb der Literaturwissenschaft eine bemerkenswerte Akzentverschiebung. Fortan rückte verstärkt die Beschäftigung mit dem Begriff selbst in den Vordergrund, weniger seine diskursive Einlassung im Spannungsverhältnis zwischen Politik, Gesellschaft und Literatur. Allein im Zeitraum zwischen Dezember 2011 und März 2012 widmeten sich drei Tagungen 3 dem Versuch, das Verhältnis von Gegenwart und Literatur anhand unterschiedlicher Fragestellungen und Perspektiven zu konzeptualisieren. 4 Die vorliegende Publikation Die deutsche Gegenwartsliteratur (2010) von Michael Braun geht diesen jüngsten Konjunkturen zeitlich voraus. Als erste Einführung auf dem Gebiet der Gegenwartsliteraturforschung leistet der Autor eine beachtliche Bestandsaufnahme der Forschungsdiskussion innerhalb der vergangenen Dekade. Auf dieser Grundlage werden Entwürfe einer Begriffsbestimmung von ›Gegenwartsliteratur‹ vorgeschlagen und diskutiert, die maßgebende Denkansätze und Analyseparadigmen für weitere Arbeit auf diesem Feld bereitstellen.

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Der Autor reagiert mit diesem Definitionsversuch auf einen signifikanten Mangel innerhalb der Forschung. Auffällig viele Arbeiten (siehe hier ebenfalls in der Reihe UTB erschienen) 5 neigen dazu, den Begriff unhinterfragt als gattungsspezifisches und literaturhistorisches Periodisierungsinstrument zu übernehmen, ohne die Frage nach den begrifflichen Grundlagen und damit nach notwendigen Eingrenzungs- und Bestimmungskriterien zu stellen. So wird der Begriff allgemein »auf zwar meist selbstverständliche, aber auch durchgehend uneinheitliche, definitorisch unpräzise und teilweise sogar widersprüchliche Weise verwendet.« (S. 10) Je nach Perspektive diene ›Gegenwartsliteratur‹ verkaufsstrategisch als medienwirksame Marke im Literaturbetrieb, als Beschäftigungsgegenstand der Literaturkritik oder als Forschungsparadigma der Literaturwissenschaft, insbesondere als Eingrenzungsinstrument der Literaturgeschichtsschreibung.

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Ohne der Verpflichtung zu einer begrifflichen, d.h. damit vor allem zu einer fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung läuft der Begriff so jedoch Gefahr, zu einem griffigen, zugleich groben ›catch-all-Begriff‹ mit offenen Bedeutungsrändern zu avancieren. Er verliert dadurch seine distinktive Funktion, um ein breites Spektrum von Phänomenen abgrenzend und differenziert beschreiben zu können.

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Dabei ist das Problem der Begriffsunschärfe wohl nicht ausschließlich auf die Popularität innerhalb einer breiten Diskurspraxis reduzierbar. Der Versuch jener Bestimmung scheint vielmehr, so schreibt Oliver Jahraus, ein Grundproblem der Literaturwissenschaft widerzuspiegeln, die als historische Wissenschaft mit dem Begriff ›Gegenwartsliteratur‹ vor ein »systematische[s] Problem« 6 gestellt wird. Demnach ist der Versuch schwierig, einen Begriff in seinem Bedeutungspotential fixieren zu wollen, der sich alles andere als greifbar statisch verhält. Gegenwartsliteratur als Epochenbezeichnung kennzeichnet Braun zufolge »keine in sich abgeschlossene Epoche«, sondern einen Zeitabschnitt, der »[m]it dem Fortschreiben der Gegenwart, d.h. mit dem permanenten Verwandeln von Zukunft in Gegenwart« (S. 21) ihre Grenzen in einem stetigen Prozess ständig neu aushandelt. Dieses charakteristische Grundproblem der Zeitlichkeit bringt Braun wie folgt auf den Punkt: »Im Gegensatz zu früheren (abgeschlossenen) Epochen hat die Gegenwartsliteratur einen wandelbaren Anfang und ein unabsehbares Ende.« (ebd.)

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Genau an dieser Stelle wird eine wesentliche Leistung der vorliegenden Publikation wirksam. Im Format einer ›Einführung‹, also zwischen Fachwissenschaft und Studium, arbeitet Braun sowohl die Problematik als auch Produktivität dieses Begriffs überzeugend heraus, indem zunächst seine diskursive Praxis aufgefächert und besprochen wird. Darauf aufbauend unternimmt der Autor den Versuch einer Begriffsbestimmung, bei dem sowohl Kriterien einer Definition dargelegt als auch historische Eingrenzungsversuche und methodische Zugriffe vorgestellt werden. Ziel der Einführung ist es, wie der Autor eingangs formuliert, zu zeigen,

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was gemeint ist, wenn wir von Gegenwartsliteratur sprechen, wie Gegenwartsliteratur im Kulturbetrieb funktioniert, wie man sie exemplarisch analysieren und interpretieren kann. Die Einführung will Wege zur Gegenwartsliteratur bahnen und Orientierungsmarken aufstellen. Sie will eine informierende Grundlage aufbauen, zum Kontakt mit dem literarischen Leben und zum kritischen Umgang mit belletristischen Neuerscheinungen ermuntern. Das Lesen der Gegenwartsliteratur kann und soll durch diese Einführung nicht ersetzt werden. (S. 7)
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Im Folgenden soll jene vom Autor eingeschlagenen ›Wege‹ und ›Orientierungsmarken‹, die das Profil einer ›Gegenwartsliteraturwissenschaft‹ zu konturieren versuchen, ausschnittartig vorgestellt und diskutiert werden. Auch wenn sich die vom Autor eingeschlagenen ›Wege‹ streckenweise als unterschiedlich steil und steinig herausstellen, führen diese stets zu produktiven Fragestellungen und methodischen Anregungen, um das breite Feld der Gegenwartsliteratur perspektivisch näher einzugrenzen.

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Was ist Gegenwartsliteratur? – Argumentation und Diskussion

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In dem ersten, für den Einführungsband zentralen Kapitel stellt sich der Autor der eingangs thematisierten Frage der terminologischen Bestimmung: Was ist Gegenwartsliteratur? Die Annäherung an den Begriff verläuft zunächst induktiv. In einem ersten Schritt wird danach gefragt, wie der Begriff in die Praxis unterschiedlicher Diskursen, er nennt hier ›Wissenschaft‹ und ›Literatur‹, eingelassen ist (S. 9–12). Im zweiten Unterkapitel Begriffliche Grundlagen (S. 12–19) benennt und bemängelt der Autor die blinden Flecken der bisherigen Lexikalisierung. So weisen einschlägige Fachlexika der Literaturwissenschaft kein eigenständiges Lemma zu ›Gegenwartsliteratur‹ auf. Braun kommt zu dem Schluss: »[D]ie Lexika sind sich ihrer Sache nicht sicher und scheuen in diesem Falle offenbar Realdefinitionen« (S. 12). Den Ankerpunkt seiner Überlegungen zu den begrifflichen Grundlagen bildet hingegen der Beitrag Lothar Bluhms im Metzler Lexikon Literatur. Dort wird Gegenwartsliteratur, synonym zu ›zeitgenössische Literatur‹, grundsätzlich aufgefasst als

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ein relationaler Begriff, der eine Teilmenge des Gesamtbereichs ›Belletristik‹ bezeichnet. Seine Bestimmung ist abhängig davon, was der Betrachter als eine Gegenwart erfährt und wie er ›Gegenwart‹ definiert. 7
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An diese weite Bestimmung schließt Braun drei Kriterien von ›Gegenwartsliteratur‹ an. Mit der »Wandelbarkeit« ist vorab ein konstitutives Merkmal aufgerufen: Gegenwart bezeichnet demnach einen »mit der Zeit wandelbare[n] Begriff, bestimmt durch die Differenz zu dem, was nicht mehr Gegenwart ist«. Soziologisch betrachtet ist Gegenwartsliteratur ferner ein zeitlicher Abschnitt, der Autor, Kritiker und Leser als Zeitgenossen verbindet (vgl. S. 14). Demzufolge ist Gegenwartsliteratur als eine Literatur zu verstehen, die das Subjekt während seiner Lebenszeit als »neue Literatur« und im Kontext seiner Erfahrungswelt als »Ausdruck seiner Zeit« wahrnimmt (ebd.). Anders gewendet ist Literatur demnach Produkt einer »literarisch gestalteten Gegenwart« (ebd.). Dieses zweite Kriterium kennzeichnet der Autor mit »Zeitgenossenschaft«. Als drittes Merkmal nennt Braun die »Zukunftsorientierung«. Vielleicht terminlogisch etwas ungünstig gewählt, beschreibt diese Eigenschaft ein Phänomen, das die Literatur der Gegenwart erst in der Zukunft als solche zu erkennen gibt. Als Beispiel zieht Braun den Autor Reinhard Jirgl heran, dem seinerzeit die staatliche Zäsur in der DDR das Veröffentlichen erschwerte. Sein Werk konnte demnach von einer breiten Leserschaft erst nach der Wende wahrgenommen werden (vgl. S. 15).

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Neben diesem Entwurf von Kriterien einer Realdefinition geht der Autor einen zweiten Schritt. Im Sinne einer Nominaldefinition werden für das Verhältnis von Literatur und Gegenwart zwei Bedeutungsdimensionen geltend gemacht, die mit dem Begriffspaar »Subjekt« und »Objekt« beschrieben werden:

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1. Die Gegenwart ist Objekt der Literatur: die Zeit, in der die Gegenwartsliteratur entsteht, in der ihre Autoren schreiben, egal, ob sie sich mit dieser Gegenwart befassen oder in einer vergangenen Zeit spielen (z.B. historischen Romanen). So gesehen, ist Gegenwartsliteratur Literatur in der Gegenwart.

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2. Die Gegenwart ist Subjekt der Literatur: als Impuls, als Motiv und als Thema, manchmal sogar als Akteur der Gegenwartsliteratur. So verstanden, ist Gegenwartsliteratur Literatur über die Gegenwart. (S. 15)

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Diese Unterscheidung trägt zu einer deutlichen Konturierung des Begriffs bei. Sie dient einer grundsätzlichen Differenzierung zwischen den Koordinaten einer als außertextuell verstandenen Wirklichkeit und denen der fiktionalen Welt des Textes. Kritisch ist anzumerken, dass die Unterscheidung in ›Objekt‹ und ›Subjekt‹ etwas unglücklich gewählt ist und dazu einlädt, verwechselt zu werden. So könnte das stofflich-thematische Material in fiktionalen Texten oder die Ebene literarischer Verfahrensweisen (z.B. Verfremdungen wie Symbole/Tropen) durchaus als ›Objekt‹ gelesen werden. Wünschenswert wären demnach Begriffspaare, die zwischen der produktionsspezifischen als auch poetologischen Eingrenzung auf der einen Seite (literatursoziologische Dimension) und der stofflich-thematischen Eingrenzung auf der anderen Seite (materielle Dimension) trennscharf unterscheiden.

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Auf der Grundlage dieser Überlegungen unternimmt der Autor im dritten und letzten Unterkapitel des ersten Teils (S. 19–34) den Versuch einer zeitlichen und räumlichen Eingrenzung. Unter Rückgriff auf Bluhm schreitet Braun die unterschiedlichen Etappen der Literaturgeschichte seit 1945 ab, die für die Forschung als Beginn von Gegenwartsliteratur in Betracht kommen. Braun unterstützt dabei das vorgeschlagene Datum der Wiedervereinigung (1989/90) 8 als jüngste Epochenzäsur, an dem eine argumentativ nachvollziehbare Konzeptualisierung für ein heutiges Verständnis von Gegenwartsliteratur anzusetzen sei (vgl. S. 28). Dieses Datum markiere ein einschneidendes historisches Ereignis, das einen Zeitabschnitt im westdeutschen als auch ostdeutschen Literatursystem abschließen und neue Paradigmen (vgl. Kapitel 4) im Spannungsverhältnis von Literatur und Gesellschaft hervorbringen konnte.

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An dieser Stelle gewährt der Autor Einsicht in seinen methodischen Werkzeugkoffer: die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Feldtheorie Pierre Bourdieus (Vgl. S. 20–21). Werden diese Werkzeuge im ersten Kapitel zunächst vorgestellt, bilden sie hingegen im zweiten (›Gegenwartsliteratur im Kulturbetrieb‹) und dritten Kapitel (›Gegenwartsliteratur als Skandal‹) das Analyse- und Beschreibungsinstrument, um Gegenwartsliteratur als Sozial- und Symbolsystem (Luhmann) und als literarisches Feld (Bourdieu) zu untersuchen, auf dem Akteure wie z.B. Autoren und Leser, Kritiker und Wissenschaftler ihre Positionierungskämpfe austragen und um ihr ökonomisches, soziales und symbolisches Kapital streiten (vgl. 20–21). Was das Format der ›Einführung‹ aufgrund dieser methodischen Eingrenzung nicht liefern kann, wären denkbar weitere Zugänge, wie die Literatur der Gegenwart u.a. aus textanalytischen Perspektiven, die sprachliche Besonderheiten und literarische Verfahrensweisen in den Fokus rücken, zu untersuchen wäre. Die durchaus spannende Frage, wie z.B. ein ›Erzählen der Gegenwart‹ anhand narratologischer Kategorien beschrieben werden könnte, bleibt aufgrund dieser literatursoziologischen Engführung unbeantwortet.

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Aufbau und Inhalt

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Die vorliegende Publikation gliedert sich in sieben Kapitel, an die ein umfangreicher Anhang anschließt, der neben Anmerkungen zu den Kapiteln ein für die Praxis hilfreiches Personen- und Sachregister an die Hand gibt. Die Konzeption der Einzelkapitel überzeugen dabei in Aufbau und Systematik: Jedes eröffnet mit einer Kurzdarstellung des Themas und schließt mit einer Zusammenfassung der Kernaspekte. Eine Kommentarleiste am Rand dient ferner als Orientierungshilfe und bilanziert absatzweise thematische Eckpunkte. Am Ende folgt ein Katalog an Arbeitsfragen, die zur Wiederholung und Reflexion angeboten werden. Eine kommentierte Auswahlbibliografie bietet weitere Anregungen zur thematischen Vertiefung.

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Der Aufbau der Publikation, der die thematischen Akzente erkennen lässt, sei hier kurz vorgestellt:

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1. Was ist Gegenwartsliteratur?

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2. Gegenwartsliteratur im Kulturbetrieb

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3. Gegenwartsliteratur als Skandal

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4. Gegenwartsliteratur erzählt Geschichte

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5. Gegenwartslyrik im Dialog

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6. Gegenwartsliteratur und Film

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7. Wie studiere ich Gegenwartsliteratur?

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Die Kapitel lassen sich thematisch wiederum in drei Gruppen einteilen: Aufbauend auf den begrifflichen und methodischen Grundlagen liefern das zweite und dritte Kapitel eine Analyse des Literaturbetriebs. Mit Luhmanns System- und Bourdieus Feldtheorie diskutiert der Autor einzelne Mechanismen des Buchmarktes, der Medien und der Literaturkritik und erläutert ihren funktionalen Zusammenhang. Einer Einführung angemessen erarbeitet der Autor wertvolle Definitionen (siehe z.B. ›Literaturkritik‹), die – anders als z.B. bei einem lexikalischen Recherchezugriff – anhand von Beispielen anschaulich hergeleitet und nachvollziehbar gemacht werden.

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Am Beispiel des ›Skandals‹ erkundet das dritte Kapitel den Wirkungszusammenhang von Autor und Literaturbetrieb. Braun betrachtet den Skandal (›Zürcher Literaturstreit 1966‹ / ›Literaturstreit um Christa Wolf 1990‹ / ›Walser-Debatte 2002‹) als modellbildend für ein Phänomen, das die Ordnung des literarischen Feldes irritiert. Durch die von ihm ausgelösten Debatten vermag der Skandal in »die Struktur der Elemente im literarischen Feld einzugreifen« und eine »Um- oder Neuordnung dieser Elemente« (S. 83) zu provozieren. Skandale sind dem Autor zufolge »Lehrstücke über den Kulturbetrieb« (S. 99), die unverblümt offenlegen, »wie der Kulturbetrieb funktioniert, wenn die Gegenwartsliteratur einmal nicht so funktioniert, wie es normalerweise von ihr erwartet wird.« (S. 78)

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Dass diese ›Erwartungshaltung‹ – einmal anders gewendet – ein wesentliches Potential der Literatur verdeckt, wird hier jedoch nicht eigens produktiv gemacht. Der analytische Zugriff ist stets einer, der aus der literatursoziologischen Perspektive auf den Text zugreift, und nicht umgekehrt aus ihm heraus das Textpotential für gesellschaftliche Diskussionen aktiviert. Die jüngst ausgetragenen Debatten 9 um Christian Krachts Roman Imperium und deutlicher noch die Diskussionen 10 über das von Günter Grass veröffentlichte Gedicht Was gesagt werden muss böten dabei einen interessanten Ansatzpunkt, wie der literarische Text im Beziehungsgeflecht von Autor und Kulturbetrieb am Beispiel des Skandals konstitutive Paradigmen der Gegenwartsliteratur freilegen kann. Gerade dort, wo die Grenzen zwischen Fiktionalität und außertextueller Wirklichkeit durchlässig, wo durch Literatur ausgelöste Skandale als Normalitätsverletzung wirkmächtig werden, liegt ein Potential der Gegenwartsliteratur verborgen, das für weitere Auseinandersetzungen fruchtbare Anknüpfungspunkte bereitstellt.

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Die an diesen ersten Themenblock anschließenden drei Kapitel rücken die Gattungen Prosa und Lyrik als auch das Verhältnis von Gegenwartsliteratur und Film in den Mittelpunkt. Zum Nachteil dieser Einführung bleibt das Gegenwartsdrama, wie der Autor in der Einleitung eingesteht, unberücksichtigt.

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Mit den Begriffen ›kollektives Gedächtnis‹ und ›Erinnerungskultur‹ sind im vierten Kapitel »Gegenwartsliteratur erzählt Geschichte« (S. 109–140) zwei zentrale Leitbegriffe der Gegenwartsliteratur aufgerufen, die seit Ende der 1980er Jahre in den Kulturwissenschaften Konjunktur haben. 11 Der Autor arbeitet dabei das Paradigma ›Erinnerungsliteratur‹ im Kontext der Gegenwartsliteratur anhand von Themen, Fragestellungen und theoretischer Konzepte systematisch überzeugend heraus. Leitfragen zur Textanalyse von Erinnerungsliteratur eröffnen einen wertvollen Arbeitskatalog für den methodischen Zugriff auf Texte der Gegenwartsliteratur: Wer erinnert? Wann wird erinnert? Wie wird erinnert? Wo wird erinnert? Damit sind die Koordinaten benannt, an denen der Autor anschließend die Beispieltexte, darunter Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang, Christoph Heins Kurzgeschichte Moses Tod und Ulrike Draesners Roman Spiele, abarbeitet. Ferner ergeben sich zwischen den Kapiteln (vgl. 2. Gegenwartsliteratur als Skandal) interessante und weiterführende Kopplungseffekte, die am Beispiel der Novelle Im Krebsgang den Autor Günter Grass als ›Tabubrecher‹ zwischen literatursoziologischen und textanalytischen Fragestellungen einspannt.

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Das fünfte Kapitel ›Gegenwartslyrik im Dialog‹ fokussiert zeitgenössische Lyrik als luhmannsches Kommunikationsmedium und als integraler Bestandteil des Sozialsystems Literatur: Der Autor untersucht folglich die »Dialogizität« (S. 143) von Lyrik in Beziehung zu gesellschaftlichen Themen ihrer Zeit (»Lyrik im Dialog«), ›Dialogizität‹ als Kommunikation zwischen Text und Leser (»dialogische Lyrik«) und ›Dialogizität‹ als Funktionselement des Literaturbetriebs (»Dialog über Lyrik«), das über ›Lyrikskandale‹ als auch über Poetikvorlesungen, Poetry Slams und Lyrik-Festivals sichtbar wird (vgl. S. 143–145). Der Autor wirft dabei einen Blick auf zwei Traditionslinien der Lyrik, wie sie sich innerhalb der gegenwärtigen Lyrikproduktion abzeichnen. Am Beispiel des ›politischen Gedicht‹ und der ›Liebeslyrik‹ zeigt er sowohl historische Kontinuitäten als auch Transformationen auf. Daneben eröffnet Braun weitere methodische Lesarten. Mit Luhmanns Ansätze zur historischen Semantik der Liebe, wie er sie u.a. in Liebe als Passion 12 untersuchte, rückt der Autor das Konzept ›Liebe‹ als »codierte Intimität« (S. 159) in den Mittelpunkt. An lyrischen Texten von Durs Grünbein diskutiert der Autor abschließend das Verhältnis von Lyrik und Natur-/Neurowissenschaft und ruft damit ein drittes Paradigma der Gegenwartslyrik auf.

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Das sechste Kapitel unternimmt eine Kurzeinführung in den Zusammenhang von Gegenwartsliteratur und Film. Diese Perspektivierung hat dem Autor zufolge in den vergangenen Jahren im Kontext von Schule und Hochschule zunehmend an Bedeutung gewonnen, was sich u.a. in Lehrplänen und Leselisten 13 widerspiegelt. Im Rahmen eines knappen, aber pointierten Rundgangs zu filmischen Fachbegriffen wie ›Adaption‹, ›Intermedialität‹ und dem Begriffspaar ›Medien‹/›Medium‹ erklärt Braun zunächst das Wechselverhältnis von Literatur und Film und thematisiert kurz zwei wesentliche Vektoren der Literaturproduktion, die mit ›novelization‹ und ›Literaturverfilmung‹ benannt sind (vgl. S. 179). Dass diese verkürzte Darstellung dem Gegenstandsbereich nicht gerecht werden kann, da lediglich die Bereiche »Filmische Adaptionen von Literatur« (Bsp. Patrick Süskind Das Parfüm) und »Film in der Literatur« (Bsp. John Fords Western/Patrick Roths Johnny Shines) thematisiert werden, versteht sich. Das Kapitel ist neben den Anregungen zur weiteren thematischen Vertiefung vor allem als Standortbestimmung zu lesen. Es verortet das Medium ›Film‹ in seinem spezifischen Verhältnis zur Gegenwartsliteratur als wichtiges Paradigma aktueller Gegenwartsliteraturforschung.

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Das siebte Kapitel »Wie studiere ich deutsche Gegenwartsliteratur« markiert den dritten Schwerpunkt der Publikation. Es erfüllt in der vorliegenden Konzeption einer Einführung ein für das Germanistikstudium geeignetes Hilfsmittel zu Nachschlage- und Recherchezwecken. Der Autor bietet ein beachtliches Spektrum an Recherchetipps, das einen nachvollziehbar auffälligen Akzent auf das Leitmedium Internet erkennen lässt. Was dieser sonst lobenswerte Abschnitt jedoch vermissen lässt, sind – in Anbetracht auf das hier verwendete Medium – die in den letzten Jahren immer wichtiger gewordenen Rezensionsforen wie literaturkritik.de und IASLonline, die als Informations- bzw. Reflexionsmedium eine für das Literaturstudium beachtenswerte Gelenkstelle zwischen Fachwissenschaft und Literaturkritik einnehmen können.

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Fazit

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Gegenwartsliteratur war und ist, so erstaunlich dies für Nicht-Germanisten klingen mag, kein etablierter Gegenstand der Literaturwissenschaft. 14
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Mit diesem Urteil bilanziert ein Tagungsband aus dem Jahr 2003 die derzeitige Lage der Literaturwissenschaft, die – so die Herausgeber – das Betätigungsfeld damals noch »großzügig der Literaturkritik« 15 überließ. Sowohl die vorliegende Publikation als auch der aktuelle Stand der Forschung zeigen, dass sich dieser Gegenstandsbereich mittlerweile zu einem anerkannten Arbeitsfeld der Literaturwissenschaft etabliert hat. Braun legt mit dieser Einführung einen profunden Sockel zukünftiger Gegenwartsliteraturwissenschaft und markiert damit ein Gegenstandsfeld zeitgenössischer Forschung, das es weiter zu profilieren gilt. 16 Der Autor trägt damit wesentlich zu einer literaturwissenschaftlichen Konzeptualisierung des Begriffs bei, die über eine Begriffskonturierung und methodische Perspektivierung hinaus eine nachhaltige Mittlerfunktion zwischen Fachwissenschaft und Studium gewinnbringend integriert. Entgegen der Kritik, die »zwei gewählten Zäsuren (1968 und 1989) [seien, J.O.] weniger glücklich« 17 gesetzt, arbeitet Braun einer Einführung angemessen den Epocheneinschnitt 1989 als Beginn eines Paradigmenwechsels überzeugend heraus und kann damit an aktuelle Positionen der Forschung 18 anschließen. Die methodische Engführung auf einen literatursoziologischen Zugang bleibt dabei konsequent in ihrer Reichweite. Weniger als Schwäche, sondern vielmehr als Anregung böte dieser Ansatz der Forschung vielfältige Anreize, den Radius anhand von methodischen Zugriffen zu bereichern, um der Popularität, Problematik und Produktivität dieses literaturwissenschaftlichen Konzepts zukünftig weiter beizukommen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Clemens Kammler: Deutschsprachige Literatur seit 1989/90. Ein Rückblick. In: Ders./Thorsten Pflugmacher: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg, Synchron Verlag 2004, S. 13–35, hier S. 13–19.   zurück
Werner Jung: Was war? Was bleibt? Was wird? Unfrisierte Thesen zur Gegenwartsliteratur. In: Mariatte Denmann u.a. (Hg.): Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 31, H. 124. Stuttgart, Metzler 2001, S. 6–13, hier S. 12.   zurück
Hier sind folgende Tagungen zu nennen: »Was ist die Gegenwart von Literatur und wie viel Gegenwart verträgt die Literatur? Zur Literatur nach 1945«, 09.-10. Dez. 2011/Bielefeld: http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/forschung/sfb584/TagungGegenwartLiteratur.pdf (letzter Zugriff vom 02.09.2012); »Die Unendlichkeit des Erzählens. Poetiken des Romans in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989«, 28.-30. März 2012 / Karlsruhe: http://www.germanistik-im-netz.de/wer-was-wo/25083 (letzter Zugriff vom 02.09.2012); »Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier: Poetologien des deutschsprachigen Gegenwartsromans«, 13.-15. März 2012: http://gegenwartspoetologien.wordpress.com/about/ (letzter Zugriff vom 02.09.2012)   zurück
Zu nennen sind hier zwei weitere aktuelle Publikationen auf diesem Gebiet: Johanna Bohley und Julia Schöll (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg, Königshausen & Neumann 2011; Heribert Tommek und Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen. Heidelberg, Synchron Verlag 2012.   zurück
Vgl. Dieter Hoffmann: Arbeitsbuch Deutschsprachige Prosa seit 1945, 2 Bd. Tübingen, Francke 2006; Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Gegenwartsprosa seit 1970. Tübingen, Francke 2001; Wieland Freund: Der deutsche Roman der Gegenwart. München, Fink 2001.   zurück
Oliver Jahraus: Die Gegenwartsliteratur als Gegenstand der Literaturwissenschaft und die Gegenwärtigkeit der Literatur. Vortrag auf der Tagung des Literaturbeirats des Goetheinstituts in München am 14.1.2010; Abrufbar unter: http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/allgemein/allgemein_pdf/jahraus_gegenwartsliteratur.pdf (letzter Zugriff vom 02.09.2012)   zurück
Lothar Bluhm: Gegenwartsliteratur. In: Dieter Burdorf u.a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3. Aufl.. Stuttgart, Metzler 2007, S. 267.   zurück
Vgl. ebd.   zurück
Einen Überblick über die kontroversen Reaktionen innerhalb der Literaturkritik gibt folgender Beitrag aus Die Zeit vom 28.02.2012: http://www.zeit.de/lebensart/essen-trinken/2012-02/kokosnuss-imperium (letzter Zugriff vom 02.09.2012)   zurück
10 
http://www.sueddeutsche.de/kultur/gedicht-zum-konflikt-zwischen-israel-und-iran-was-gesagt-werden-muss-1.1325809 (letzter Zugriff vom 02.09.2012). Siehe auch den thematischen Schwerpunkt ›Literatur und Politik‹ auf www.literaturkritik.de, der einen Überblick über Pro- und Contrapositionen der Debatte aufzeigt und das Gedicht aus literaturwissenschaftlichen Perspektiven fokussiert: http://www.literaturkritik.de/public/inhalt.php?ausgabe=201205#toc_nr1432 (letzter Zugriff vom 02.09.2012)   zurück
11 
Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. In: Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, Metzler 2008, S. 156–247, hier S. 156.   zurück
12 
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M., Suhrkamp 1982.   zurück
13 
Als Beispiel für diese Hochschulentwicklung sei hier die Empfehlungsliste des Instituts für deutsche Sprache und Literatur der Technischen Universität Dortmund genannt: http://www.studiger.tu-dortmund.de/index.php?title=Lesebiographie_-_Empfehlungslisten_/_Nachschlagewerke_/_Basisbibliothek (letzter Zugriff vom 02.09.2012)   zurück
14 
Reto Sorg, Adrian Mettauer und Wolfgang Proß: Zurück in die Gegenwart. Eine Einleitung. In: Ders. (Hg.): Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. München, Wilhelm Fink 2003, S. 7–11, hier S. 7.   zurück
15 
16 
An dieser Stelle soll nochmals auf die Tagung »Was ist die Gegenwart von Literatur und wie viel Gegenwart verträgt die Literatur? Zur Literatur nach 1945« (vgl. Anm. 2) aufmerksam gemacht werden, die in ihrer Ankündigung drei Problemstellungen der Literatur nach 1945 aufzeigt und damit weiterführende interessante Fragestellungen über das Verhältnis von Literatur und Gegenwart anstößt.   zurück
17 

Corinna Dziudzia: Ein weites Feld – Eine Einführung in die Gegenwartsliteratur. In: KULT_online, Ausg. 27, Gießen 2011; http://kult-online.uni-giessen.de/wps/pgn/home/KULT_online/27-2/ (letzter Zugriff vom 02.09.2012)

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18 
Bluhm: Gegenwartsliteratur, S. 267. (Anm. 7)   zurück