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Erzählfrakturen

Die deutsche Gegenwartsliteratur im Schatten des 11. September

  • Heide Reinhäckel: Traumatische Texturen. Der 11. September in der deutschen Gegenwartsliteratur. (Lettre) Bielefeld: transcript 2012. 261 S. Kartoniert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-8376-1953-9.
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Verhältnisse

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Mit dem 11. September 2001 begann eine umfangreiche Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Gegenwartsliteratur beziehungsweise der Kunst allgemein. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob und wie die Literatur/Kunst auf ein Ereignis dieser Tragweite reagieren kann beziehungsweise zu reagieren hat. Die zahlreich auftretenden normativen Ansprüche, die ›der Literatur‹ (wer und was das auch immer sein mag) bei dieser Gelegenheit angetragen wurden, beschwerten die Debatte zusätzlich und frischten das argumentative Durcheinander der gerade abgeklungenen Nachwendedebatte wieder auf. Deren Grundstein war – wie man sich erinnern wird – der Begriff des ›Verhältnisses‹. Er verschaffte dem Reaktions-Diskurs erst seine problematische Gestalt, wie man im Nachgang des Anschlags an problematisierten Verbindungen wie Politik-Literatur, Ereignis-Literatur, Realität-Fiktion oder Distanz-Nähe (als Distanz des Erzählens zum Erzählten) sehen konnte. Das ›Verhältnis‹ gilt als Chiffre eines Theoriemodells, demzufolge in einer differenzierten Gesellschaft stets Verhältnisse auftreten zwischen prinzipiell verschiedenen Teilsystemen (Luhmann) oder Feldern (Bourdieu). Mit dem 11. September 2001 stand dieses Modell auf dem Spiel. Das Ereignis wurde so totalisiert, dass es die Differenzierungsthese der Moderne auf einmal schwer hatte. Der Rekurs auf entsprechende Beschreibungsformeln (Gut/Böse, Freund/Feind) bestätigte den dazu gehörenden backlash.

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Literarisierungen des Medienereignisses
11. September

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Auch der vorliegenden Untersuchung liegt der Verhältnischarakter der Literatur zu Grunde. »Im Mittelpunkt […] stehen die literarischen Bezugnahmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auf das Medienereignis 11. September und dessen weltpolitische Folgen.« (S. 7) Dem entsprechend versteht die Verfasserin ihre Arbeit als Teil einer kulturwissenschaftlich wie medienwissenschaftlich orientierten transdisziplinären Literaturwissenschaft in internationaler Perspektive. Methodisch wendet sich die Verfasserin den »medialen Repräsentationsmodi und Deutungsmustern zu (S. 13), nimmt die »literarischen Bezugnahmen« (ebd.) in Augenschein, mit dem Anspruch, der Komplexität der Themen, Motive, Repräsentationen und Disziplinen gerecht zu werden – womit sich die Verfasserin von der Literaturkritik abwendet, der sie eine Verengung des Themas vorwirft.

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Ihren literarischen Beispielen und Analysen schickt sie ein politisches Bild voraus, das dem apostrophierten ›Verhältnis‹ Ausdruck verleiht. Demnach haben wir es mit einem »Jahrzehnt der Unsicherheit« zu tun,

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in dem die politische Angst in die Öffentlichkeit zurückkehrte. Neue politische Rhetoriken und Bilderwelten, intensivierte nationale und internationale Sicherheitsdiskurse kennzeichnen die zurückliegenden zehn Jahre. Um die Literarisierungen der vom Medien und Terrorereignis 11. September ausgelösten weltpolitischen Folgen zu erfassen, untersucht die Studie Romane, Erzählungen und Essays aus dem Zeitraum 2001–2010 und fragt nach den dominanten Themen, Textverfahren und Narrativen der Literatur nach dem 11. September. In den Blickpunkt rücken dabei das Verhältnis von Literatur und Medienereignis, die literarischen Darstellungen von Politik, Terrorismus und Krieg sowie die deutschen Amerikabilder seit 2011. Mit der Untersuchung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit dem 11. September wirft die Studie die Frage nach den Funktionen von Literatur angesichts eines globalen, krisenhaften Medienereignisses im Internetzeitalter auf und thematisiert das Verhältnis von Literatur und Zeitgeschichte. (S. 8)
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Narrative des Medienereignisses 11. September

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Das erste Kapitel bietet den Erfordernissen der Fragestellung entsprechend einen Überblick zu den »Narrativen, Bildern und Topoi des Medienereignisses 11. September«. In fünf Abschnitten wendet sich die Verfasserin der »Krisenberichterstattung« (S. 1), den »kulturellen Krisenerzählungen« (S. 2), »Global Village, Ground Zero und Wounded New York« (S. 3), »WTC Bildkomplex und Bilderkrieg« (S. 4) sowie der »Medialen Urszene, Wound Culture und Erinnerungskultur« (S. 5) zu. Die thematisch einleuchtende Einteilung ermöglicht der Verfasserin, die umfangreiche Forschungsliteratur pointiert zusammenzufassen und mit Beispielen zu versehen. Deutlich wird, dass die Medien-, Kultur- und Literaturwissenschaften eine erstaunlich breite und komplexe Antwort auf den 11. September und dessen Medialisierung gefunden haben. Das wird beispielhaft an ›Ground Zero‹ ausgeführt, das zum einen den Ort des Schreckens bezeichnet, zugleich aber Leerformel zahlreicher Erzählweisen und Theorieversuche ist. So gesehen stehe die Literaturwissenschaft vor der Aufgabe, sich der interdisziplinären und intermedialen Gestalt des 11. September gleichermaßen zu nähern. »Denn das literarische Erzählen über den 11. September ist immer an den Informationshorizont einer globalen Mediengesellschaft gebunden, die das Ereignis minutiös dokumentierte« (S. 72).

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Die Verfasserin bezieht sich auf ein reichhaltiges Angebot wissenschaftlicher Sekundärerklärungen. Am Beispiel der Krisenberichterstattung etwa orientiert sie sich zustimmend an den Studien von Daniel Dayan und Eliku Katz beziehungsweise von Stephan Alexander Weichert, 1 um die den Fernsehwissenschaften entliehenen Analysen durch Überlegungen der Erzähltheorie zu erweitern. Auf diese Weise gelangt sie sowohl zu anwendungsorientierten Theoremen als auch zu eher allgemein gehaltenen literarischen Funktionsdiagnosen. Demnach bedürfen Ereignisse, Krisen und ähnliches nicht nur einer bestimmten narratorialen Abkühlung, sondern werden dadurch erst als solche greifbar und – womöglich – handhabbar. Das übergeordnete Forschungsinteresse der disziplinären Synthese liegt dabei im Wechsel vom ›Wie‹ zum ›Was‹ (des Erzählens). »Bei der Analyse ist der titelgebende Begriff der traumatischen Texturen insofern leitend, als dass nicht […] literarische Traumadarstellungen […] im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr die literarischen Bezugnahmen auf das spannungsvolle Verhältnis von Medienereignis und kulturellem Trauma« (S. 72).

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Traumatische Texturen

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Was versteht die Verfasserin unter ›traumatischen Texturen‹? Das ›Trauma‹ dient dem Gedächtnisdiskurs der 90er Jahre und der post 9/11-Kultur als Theorieanker – die Verfasserin spricht auch von einem »Deutungsmuster« (S. 56). Beispielhaft zitiert sie aus Arbeiten von Görling, Theweleit, Seltzer oder Bronfen / Erdler / Weigel, um die Bedeutung des Traumabegriffs zu belegen. 2 Das Trauma verbinde

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über die Figur der Wunde Körper und Psyche, Individuum und Kollektiv sowie Privatsphäre und Öffentlichkeit. […] Als Modus individueller und kollektiver Selbstrepräsentanz stiftet das Trauma Evidenz und Identität in einer entgrenzten und entgrenzenden Öffentlichkeit, indem es auf die Beschädigung der körperlichen, seelischen, symbolischen oder kulturellen Integrität verweist. (S. 58)
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So »zeigen sich die Effekte des kulturellen Traumas vor allem in drei Bereichen: in den translokalen Rhetoriken der Wunde, der Verletzung und der Zäsur, in der Kopplung von Medienereignis und Trauma-Narrativ sowie im Verhältnis von Bild und Trauma« (S. 56). Die theoretische Grundlage stiftet Sigmund Freud, auf den sich die Verfasserin nicht nur diskursiv, sondern auch methodisch zustimmend bezieht. Insbesondere der von Freud beschriebene ›Schock‹ lasse sich im Inszenierungsmodus des Ereignisses entdecken und tauche folgerichtig in den anschließenden (therapeutischen) Debatten (als ›Wiederholungszwang‹) wieder auf.

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Dazu eine kritische Anmerkung, die den Anspruch der Traumaforschung betrifft und von Helmut Lethen bereits treffend vorgetragen worden ist. 3 Lethen bemängelt, dass sich die Kulturwissenschaften vom 11. September nicht irritieren ließen, sondern gewissenhaft ›jetzt erst recht‹ ihr Erklärungsarsenal aktivierten. Warum auch nicht? – könnte man sagen. Es ist Aufgabe der Kulturwissenschaften, dies zu tun. Allerdings bringt Lethen mit seinem Einwand einen Verdacht zur Sprache: dass dem Differenzierungshunger der Kulturwissenschaften eine Allmachtsphantasie zu Grunde liegt – für alles bereits eine Erklärung zu haben. Dafür verantwortlich ist unter anderem ein vager Begriff von Kultur. So stellt sich bei allen Vorzügen der vorliegenden Arbeit ein gewisses Unbehagen ein, wenn der Traumabegriff über die Maßen universalisiert wird. Etwa hier:

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Zusammenfassend ist das kulturelle Deutungsmuster des Traumas mit dem Medienereignis 11. September besonders kompatibel [Hervorhebung C. M.], da es mit seiner bei Freud angelegten Medialität der Urszene an die wirkmächtige Visualität des Medienereignis anschließt, die Figur der Verletzung mit kulturellen Rhetoriken der Zäsur, der Verwundung des Stadtkörpers und der narzisstischen Kränkung eines Nationalkollektives korrespondiert und das Trauma in seiner Doppelfigur als identitätskonstituierendes Individual- und Kollektiv-Phänomen anschlussfähig für die Affektstimulanzen und Vergemeinschaftungseffekte des Medienereignisses ist. (S. 66 f.)
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Man weiß nicht genau, was die Verfasserin mit solchen verallgemeinernden Formulierungen erreichen möchte. Aber sie irritieren die anregenden Einzelanalysen und schlüssigen Theoretisierungen, die ihnen vorausgehen. Und sie schaffen auf Seiten der Traumatheorie jene Normalisierung und Konsolidierung des Ereignisses, das sie eigentlich vermeiden möchte.

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Der Terminus ›Textur‹ bleibt etwas unscharf, bezeichnet aber wohl jenes ›Gewebe‹ der verschiedenen Erzähl- und Präsentationsweisen, die an das Ereignis 11. September anknüpfen beziehungsweise es konstituieren. Augenfällig ist die Metaphorisierung des Texturbegriffs auf dem Einband, der unter anderem nach einer Idee Michel de Certeaus gestaltet ist. 4 Wir sehen die brennenden Türme des World Trade Centers und ein Flugzeug, das sich von links nähert. Alle Elemente sind aus Buchstaben zusammengesetzt. Die Türme, der 11. September – so die Botschaft – sind zu Büchern geworden. Damit visualisiert die Verfasserin eine Hypothese ihrer Arbeit, die sie konzeptionell von Moritz Baßler übernimmt. »Mit Moritz Baßler geht die Studie von einer kulturpoetischen Funktion der Literatur aus und versteht literarische Texte als Teil eines kulturellen Archivs, dessen Formationen sie nicht nur widerspiegeln, sondern selbst mitschreiben. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur über den 11. September ist damit Bestandteil eines 9/11-Diskurses« (S. 72). 5

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Lektüren

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Kommen wir zum zweiten Abschnitt der Arbeit. »Lektüren« liefert paradigmatische Einsichten in die deutsche Gegenwartsliteratur nach dem 11. September 2001. Hier finden wir ein chronologisch und thematisch vorgehendes 3-Phasenmodell vor. Abschnitt I, »Literatur als Echtzeit-Inszenierung zwischen Blogosphäre, New Journalism und Dokumentarismus«, befasst sich unter anderem mit Else Buschheuers New York Tagebuch (2001) und Kathrin Rögglas really ground zero (2001); Abschnitt II, »Literarische Schauplätze und Amerikabilder«, reicht von Ulrich Peltzers Bryant Park (2002) bis zu Thomas Pletzingers Bestattung eines Hundes (2008); Abschnitt III versammelt »Terrorismus-Narrative seit 2001« und behandelt literarische Beispiele aus den Jahren 2007 (Ulrich Peltzers Teil der Lösung) bis 2010 (Thomas Lehrs September Fata Morgana). Alle drei Abschnitte schließen mit einem Fazit, das die gewonnenen Einsichten zusammenfasst und unter Berücksichtigung weiterer Beispiele in den literarischen Diskurs einpasst.

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Die Einzelanalysen sind problemorientiert und präzise. Das ist auch deshalb beachtlich, weil es der Verfasserin gelingt, die im Einführungskapitel umfassend referierten oder anzitierten Themen und Theorien des 9/11-Diskurses wieder aufzunehmen beziehungsweise um weitere zu ergänzen. ›9/11‹ – auch das wird deutlich – war und ist ein Megadiskurs, der das verstreute Wissen der Kulturwissenschaften zusammenführt. Das provoziert die Verfasserin zu gelegentlichen Verkürzungen und terminologischen Phrasen, die aber weitgehend neutralisiert werden durch eine zitierfreudige Diskussion der literarischen Texte. In deren Mittelpunkt steht 1. die Transformation des 9/11-Stoffes (einschließlich der politischen und medialen Diskursivierungen des Ereignisses). Grundlegende Einsicht ist, dass im Zuge des literarischen Aneignungsprozesses »die Türme […] zu Büchern geworden« sind. Das heißt:

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Die Buchwerdung der Twin Towers kann als Ausdruck der kulturellen Bedeutungsproduktion interpretiert werden […], um das kulturelle Trauma des 11. September zu verarbeiten. Wenn hinsichtlich der politischen Erzählungen nicht nur von einer Verarbeitung des kulturellen Traumas, sondern auch von der Weitergabe der traumatischen Gewalterfahrungen zu sprechen ist, die Medienerzählungen vor allem aktuelle Deutungsangebote lieferten und gemeinschaftsstiftende Funktion besaßen, leisteten die literarischen Erzählungen dagegen eine eigenen künstlerisch-ästhetischen Aspekten unterliegende Vertextung des 11. September. (S. 217)
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Zur stofflichen Transformation – verarbeiten, weitergeben, (be-)deuten, anbieten und Gemeinschaft stiften – tritt damit 2. die ›künstlerisch-ästhetische Vertextung‹. Darunter versteht die Verfasserin insbesondere die »Textverfahren« (S. 108) oder auch Erzählweisen der Literatur. Dazu ein erstes Beispiel, Kathrin Rögglas really ground zero. 6 Zunächst sichert die Verfasserin die durch die Literaturkritik in Frage gestellte Literarizität des Textes ab. Die ergebe sich durch Rögglas »Textstrategie […], vor allem die medialen Rahmungen und sprachlichen Diskursivierungen des Medienereignisses« zu ›thematisieren‹. Das sind die »politischen, öffentlichen und massenmedialen Rhetoriken« (S. 97 f.). Zu den Techniken der Thematisierung zählt die Verfasserin »Techniken der Verdoppelung, der Distanzierung und der Relationierung«, die schließlich in einer an Hubert Fichte und Michel Foucault anknüpfenden Perspektive »die Inszenierungslogiken und medialen Rahmungen« des Diskurses in den Blick nimmt. 7 Besonders deutlich werde dies an den Gesprächen, die Röggla wiedergibt, nacherzählt oder mit sich selbst führt. Sie führten das »sprachliche Diskursgeflecht« (S. 99) noch einmal auf, um qua Wiederholung die traumatische Textur des Ereignisses aufzurufen, die (ohnmächtige) Terminologie der Macht zu verfremden und schließlich jene »Begriffsverschiebung« (S. 100) herbeizuführen, von der Röggla selbst spricht. »Letztendlich unterliegt«, so die Verfasserin, »das gesamte Buch dem Leitverfahren der medialen Verschiebung«, das auch Rögglas im Buch hinterlegte Bilder einbeziehe. So stelle really ground zero textsortenspezifisch »ein Hybridgenre dar, das sowohl dem Phänomen des New Journalism als auch dem Phänomen der neuen Dokumentarliteratur zugeordnet werden kann« (S. 104).

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Ein zweites Beispiel: Ulrich Peltzers Bryant Park spielt in der Literatur des 11. September eine besondere Rolle, weil es das Vorher und Nachher der Anschläge thematisch und erzählsituativ angeht. Peltzers Buch wird gleich zweimal diskutiert, zum Ende des ersten und zu Anfang des zweiten Abschnitts. Es steht also zwischen den Kategorien »New Journalism/Dokumentarismus« und »Literarische Schauplätze/Amerikabilder«. Wie bei den anderen »Lektüren« auch schafft die Verfasserin eine stabile literaturwissenschaftliche Ausgangslage: Sie fasst die Handlung zusammen, liefert ein bündiges Referat zur literaturkritischen Rezeption, analysiert die Erzählweise und ordnet sie in die Erzähltradition ein (hier Großstadt- und Amerikaroman). Die herangezogenen Textbelege geben vor allem Peltzers produktionsästhetische Selbstthematisierungen wieder. Zwei Aspekte stehen im Vordergrund: Zunächst, wie der vielfach vorgetragene ›Einbruch der Realität‹ durch Bryant Park durchgeführt respektive aufgenommen wird. Peltzer war kurz davor, sein Buch abzuschließen, als ihn der Anschlag auf das WTC nötigte, seinen Text umzubauen. Mit dem Sturz der Tower meldet sich das Autor-Ich zu Wort und unterbricht die Erzählung, um unter anderem in einen Email-Wechsel mit Kathrin Röggla zu treten. Das Schreiben im Zeichen des Terrors wird auf diese Weise unmittelbar Gegenstand der Erzählweise und -haltung. Hinzu tritt die beschriftete Stadt, New York als »Textparadigma« (S. 119) oder als »Topos der lesbaren Zeichenstadt« (S. 118). Auf einmal erhält das von Peltzer vor dem 9.11. entwickelte Reflexionsmotiv eine andere, dramatisierte Richtung. Der Sache entsprechend bezieht die Verfasserin strukturalistische Theoreme Roland Barthes’ und Juri Lotmans ein und stellt Verbindungen her zu Klassikern der Stadtsemiotik respektive der subversiven Handlungstheorie wie Jean Baudrillards Kool Killer oder Certeaus Kunst des Handelns. Nun ist Peltzers Text nicht nur zeichentheoretisch befrachtet, sondern auch ethnologisch. Aber auch darauf weist die Verfasserin hin, indem sie Bryant Park als literarischen Beitrag zur Gentrifizierungsdebatte liest. Deutlich wird, dass die Verfasserin verwandte Themen der Gegenwartsliteratur wesentlich umfangreicher einbezieht als dies in anderen, vergleichbaren Studien zur 9/11-Literatur der Fall ist. So wird verständlich, warum sich der dritte Abschnitt mit Terrorismusnarrativen befasst. Sicherheit/Unsicherheit, Angst, Medienwandel – die von der Verfasserin annotierten Elemente der politischen Gegenwart (siehe oben) gehen vom 9/11 aus, setzen sich aber in ganz andere Richtungen fort.

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Fazit

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Fassen wir zusammen: Die Verfasserin legt eine gelungene Arbeit zur 9/11-Literatur vor, die das vielfältige Ineinander medialer Präsentationsformen und Inszenierungspraktiken am Beispiel literarischer Darstellungsformen angemessen untersucht. Zwischen Reaktion und Transformation, Autonomie und Heteronomie erweist sich ›die Literatur‹ als Medium des Verhältnisses. Funktion der Literatur ist, am sogenannten kulturellen Archiv mitzuschreiben, dem Spielplatz der Kulturwissenschaften. Selbst wenn man mit den vorgelegten politischen Einsichten und Einzelanalysen nicht immer einverstanden sein wird, sie liefern ausreichend Material und Argumente, um die ›traumatischen Texturen‹ der Literatur als Gegenwartsdiagnose fortan ernst zunehmen.

 
 

Anmerkungen

Daniel Dayan/Elihu Katz: Media Events. The Live Broadcasting of History. Cambridge Mass./London: Harvard University Press 1992; Stephan Alexander Weichert: Die Krise als Medienereignis. Über den 11. September im deutschen Fernsehen. Köln: Halem 2006.   zurück
Reinhold Görling: Die Schreckensseite der Sichtbarkeit: Traumabilder. In: Antje Kapust / Bernhard Waldenfels (Hrsg.): Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick. Merleau-Ponty zum Hundertsten. München: Fink 2010, S. 117–133; Mark Seltzer: Serial Killers. Death and life in America’s Wound Cultur. New York, London 1998; Klaus Theweleit: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell. Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld/Roter Stern 2002; Elisabeth Bronfen / Birgit R. Erdler / Sigrid Weigel (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1999.   zurück
Helmut Lethen: »Bildarchiv und Traumaphilie. Schrecksekunden der Kulturwissenschaften nach dem 11.9.2001«. In: Klaus R. Scherpe / Thomas Weitin (Hg.): Eskalationen von Kultur, Recht und Politik. Tübingen, Basel: Francke 2003, S. 3–14.   zurück
Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns (1980). Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié. Berlin: Merve 1988, S. 179; vgl. dazu die Bemerkungen der Verfasserin auf den Seiten 156 und 217.   zurück
Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen: Francke 2005.   zurück
Kathrin Röggla: really ground zero. 11. September und folgendes. Frankfurt/M.: Fischer 2001.   zurück
Die Verfasserin bezieht sich damit unter anderem auf Christine Ivanovic: Bewegliche Katastrophe, stagnierende Bilder. Mediale Verschiebungen in Kathrin Rögglas really ground zero. In: Kultur & Gespenster 2 (2006), S. 108–117.   zurück