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Fallbasierte Wissensproduktion im »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« (1783-1793)

  • Sheila Dickson / Stefan Goldmann / Christof Wingertszahn: Fakta, und kein moralisches Geschwätz. Zu den Fallgeschichten im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793). Göttingen: Wallstein 2011. 288 S. Kartoniert. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-8353-0992-0.
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Der auf einer Tagung der Universität Potsdam und der Karl Philipp Moritz-Arbeitsstelle im Januar 2010 basierende Sammelband schreibt sich in eine seit einigen Jahren rege Forschungsdiskussion um die Fallgeschichte als disziplinenübergreifende Darstellungsform ein, die in paradigmatischer Weise das Verhältnis von Literatur und Wissen beleuchtet. Entsprechend steht auch hier die Fallgeschichte, wie sie sich ausgehend von Medizin und Recht in den Humanwissenschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts ausformt, im Zentrum epistemologischer und darstellungsästhetischer Fragen. Mit dem Blick auf das von Karl Philipp Moritz und anderen herausgegebene »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« (1783–1793) schließt der Band insofern eine Lücke, als das proto-psychologische Zeitschriftenprojekt des Magazins, das neben François Gayot de Pitavals Causes célèbres et intéressantes (1734–43) als zweites großes Archiv von Fallgeschichten im 18. Jahrhundert gelten kann, zwar häufig in Zusammenhang mit Moritz’ Roman Anton Reiser diskutiert wird, ihm aber bisher auffallend wenig alleinige Aufmerksamkeit zuteil wurde. Monographien und Sammelbände, die sich exklusiv den zehn Bänden des Magazins zuwenden, ließ die kultur- und literaturwissenschaftliche Forschung bisher weitestgehend vermissen. 1

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Ästhetische Theorien des Falles?

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Der recht schmalen Einleitung folgt ein Beitrag von Nicolas Pethes, der dem Band mindestens in zweifacher Hinsicht eine ergänzende thematische Einführung vorausschickt. Zum einen umreißt sein Beitrag zur »Ästhetik des Falls« die zentrale Problemstellung einer »Koevolution« (S. 15) von Literatur und Wissen(schaften) vom Menschen, wie sie sich in der gleichzeitigen Konstellierung des Magazins als Fallarchiv einerseits und dem psychologischen Roman Anton Reiser andererseits zeigt. Apostrophiert wird diese Problemstellung hinsichtlich des Verhältnisses von Epistemologie und Ästhetik der Spätaufklärung, für die das Genre der Fallgeschichte gleichermaßen das Inventar bereit stelle wie ihre Ausdifferenzierung vorantreibe (S. 14). Zum anderen eröffnet der Beitrag anschließend an diese Zuspitzung ein Angebot vielseitiger Forschungsperspektiven, die etwa auf die disziplinenspezifischen wie -übergreifenden Gattungsstrukturen der Fallgeschichte sowie auf ihre Gebundenheit an paratextuelle Rahmungen und ihre Einbettung in historisch spezifische Medienformate, wie der Sammlung oder Zeitschrift, abheben.

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Obschon es grundsätzlich nahe liegt, die Frage nach einer Koevolution von Literatur und Wissen im 18. Jahrhundert an die »Theorie einer literarischen Ästhetik zwischen Aufklärung und Klassik« (S. 16) rückzubinden, welche notorisch »auf die doch eigentlich nicht zum kunstphilosophischen Diskurs gehörige Kategorie des ›Falls‹« (S. 16) rekurriere, bleibt zu fragen, inwieweit sich durch diese Rückbindung das Spezifische des fallbasierten Erzählens herausstreichen lässt. Wenn die Verwendung des Fall-Begriffes etwa in Lessings Abhandlungen über die Fabel (1759) im Sinne einer »Ästhetik des Falls« (S. 24), die auf unmittelbarer Konkretheit und »empirisch Besondere[m]« (S. 24) fußt, ernst genommen wird, so ließe sich einwenden, dass Lessing einen vorgängigen allgemeinen moralischen Satz zur Anschauung zu bringen sucht, der gerade dann am besten zutage treten kann, wenn der Fall in aller Kürze, also ohne narrative Ausschweife erzählt wird. 2 Eine Epistemologie des Falls ließe sich hingegen doch gerade dadurch konturieren, dass das Regelwissen erst noch produziert werden muss, es also gewissermaßen aufgeschoben ist.

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Der Versuch, die Orientierung am konkreten Einzelnen und Besonderen, »oder noch allgemeiner formuliert: an der Wirklichkeit« (S. 26), wie sie in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts virulent ist, mit einer Ästhetik des Falls zu verschränken, würde dann doch eher Konturen verwischen. Wie Nicolas Pethes anfangs zu Recht feststellt, sei die Verwendung des Begriffes des Falls in der Ästhetikdebatte nicht an »rechtliche, medizinische oder psychologische Zusammenhänge« (S. 23) gebunden, doch sind es nicht gerade diese wissenshistorischen Kontexte, die als epistemische Rahmung die Darstellung des einzelnen, individuellen Lebens überhaupt erst zum Fall machen?

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Robert Leventhal versucht, sich dem Verhältnis von ästhetischer Theorie und der Darstellungsform der Fallgeschichte von einer anderen Seite zu nähern, indem er die »innige Beziehung zwischen Seelenheilkunde und Ästhetik« (S. 65) konkret anhand der von Karl Philipp Moritz im Umkreis des Magazins publizierten Texte in den Blick nimmt. Dabei unternimmt Leventhal die äußerst gewinnbringende Verschränkung der im Magazin avisierten »anthropologischen ›Seelensorge‹« als einer regulativen »Sorge um das ›Selbst‹« mit einer bereits in der Ästhetik Baumgartens und Meiers angelegten »Lehre von der Leitung und Lenkung der sinnlichen Erkenntnis« (S. 66). Der Blick auf gemeinsame Argumentationsmuster und Diskursstrategien von Ästhetik und Erfahrungsseelenkunde zeige etwa in der Position des Beobachters, die eine der uneigennützigen Selbstdistanzierung und -überwindung sei, sowie in der auf Vervollkommnung und Verschönerung zielenden Regulierung der »unteren« Seelenkräfte frappante Ähnlichkeiten. Leventhal lanciert mitunter den durchaus anschlussfähigen Versuch, das Projekt der Erfahrungsseelenkunde und ihr Diktum der Selbsterkenntnis (»gnothi seauton«) mit der »von Foucault im klassischen Denken identifizierten […] Sorge für und um das Selbst (›epimeleia heautou‹)« (S. 79) kurzzuschließen und so gleichsam die Genealogie einer Selbsttechnik nachzuzeichnen.

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Wissensordnungen und ihre Aufschreibetechniken

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Zwei weitere Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit Formen der Aufzeichnung und Registrierung von Fällen sowie mit Verfahren ihrer Klassifizierung und Anordnung. So verfolgt Volker Hess für den klinischen Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts einen »Wandel der Aufzeichnungspraktiken« (S. 117), der sich aus dem Anwachsen einer Materialfülle von Einzelfalldaten und der Notwendigkeit ihrer Vergleichbarkeit ergibt. Der Übergang zu einer formalisierten »paper technology« (S. 117), die sich tabellarischer Einträge in Muster und Formulare bedient und mithin die Krankenbeobachtung selbst neu organisiert, korrespondiere mit Verwaltungspraktiken der administrativen Haus- und Buchhaltung, wie Hess eindrücklich anhand der Berliner Charité zeigt.

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Yvonne Wübben geht in ihrem Beitrag zur »Ordnung des Wissens in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« ebenfalls einer Art Medienwechsel nach, nämlich der vom Gutachten zum Fall, die sich durch Moritz’ an spezifischen Erzählkonventionen orientierten Umarbeitung seiner Vorlagen vollziehe. Mit dieser »Arbeit an der Gattung« werde zugleich ein »Generalisierungsanspruch« (S. 141) sowie ein kasuistischer Normkonflikt inszeniert, der das Gutachten insofern im Sinne der Definition André Jolles’ (Einfache Formen, 1930) in einen Kasus umforme, als nicht mehr nur eine Regel bestätigt, sondern zugleich überschritten und in Frage gestellt wird. Der Bezug auf André Jolles ist an dieser Stelle besonders fruchtbar, da Yvonne Wübben anhand des Beispiels einer Geister-Erzählung vorführen kann, wie gerade jener die Norm erweiternde respektive normbildende Überschuss der Fallgeschichte literarisierende Elemente notwendig macht und eine »gewisse Lust am Erzählen« (S. 151) mobilisiert. So werde die Fallgeschichte gerade in der Narrativierung ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit buchstäblich zur »Geschichte« (S. 151) und entziehe sich zugleich der Einfassung unter ein Allgemeines.

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Säkularisierung pastoraler Bekenntnispraktiken

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Für die enge Allianz zwischen dem Projekt der empirischen Psychologie und Praktiken pastoraler Seelenführung, also Verfahren der Selbstbeobachtung und Bekenntnisgenerierung, bietet der Text von Peter Sindlinger ein Beispiel – und dies zuallererst auf Ebene der Akteure. So hatte der Pfarrer und Seelsorger David Mauchart dem Magazin eine ganze Reihe von Texten beigesteuert sowie eine Abhandlung über den »Verstand in der Raserey« verfasst, die auf den Beobachtungen einer »Rasenden« gründen, die er während eines »Irrenhausbesuch[es]« (S. 163) vornehmen konnte. Praktiken der Seelsorge, wie das Gespräch und die Anregung zur Niederschrift eines Bekenntnisses werden dabei adaptiert, jedoch dem Interesse psychologischer Wissensbildung unterworfen. Es werde also gleichsam deutlich, wie sich der »Wille zum (psychologischen) Wissen im Feld der Seelsorge« (S. 166) realisiere. Das Moritzsche Diktum »Fakta, und kein moralisches Geschwätz« mag somit eingelöst erscheinen: die Darstellungsform sei nunmehr »sachlich und präzise, Beschreibung und Interpretation werden deutlich getrennt« (S. 165). Der Beitrag wendet sich an dieser Stelle leider anderen Texten Maucharts zu, dabei wäre es sicher lohnenswert gewesen zu fragen, inwieweit diese Effekte ihrerseits in spezifischen Strategien der Darstellung und kalkulierten Szenarien der Beobachtung begründet liegen.

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Einen weiteren, sehr informativen und dichten Beitrag zur Frage der Säkularisierung religiöser Selbstthematisierung im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde bietet Johanna Geyer-Kordesch. Sie zeichnet den Wandel spiritueller, autobiografischer Schreibverfahren im Kontext des radikalen Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts bis hin zu Moritz’ Überführung dieser Praktiken in das medizinische Wissensfeld nach.

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Dabei erschließt sie einen Kontext, der vom Mystizismus der Madame de Guyon und der Theosophie Jacob Böhmes, über pietistische Schriften von Gottfried Arnold und Johann Henrich Reitz bis hin zu frühaufklärerischen Psychomedizinern wie Johann Unzer und Ernst Anton Nicolai und den Tagebuchaufzeichnungen Johann Caspar Lavaters reicht.

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Sie entfaltet dabei die These, dass jene religiösen Formen des Selbstbezugs, in denen das Subjekt Introspektion und die Beobachtung eigener Emotionen, Affekte und Vorstellungen einübt, sowie Formen religiöser Erfahrung in den Fallgeschichten des Magazins neutralisiert und objektiviert würden (vgl. S. 215). Im Sinne einer aufklärerischen Polemik gegen radikal religiöses Schwärmertum werde ihnen nun unter säkularen Vorzeichen das Label psychopathologischen Wissens gegeben (vgl. S. 215). Dem lässt sich zunächst zustimmen, doch lädt das entfaltete Material durchaus dazu ein, auch noch einmal stärker die Kontinuitäten jener religiösen Selbsttechniken zu verfolgen. Würde man die Ausführungen etwa mit jenen Robert Leventhals zusammenlesen, so ließe sich die Genealogie der Fallgeschichte auf das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung, wie sie im Pietismus bereits angelegt ist, und den Techniken der Selbstsorge sicher mit Gewinn befragen.

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Ausblicke

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Nachdem bereits einige Beiträge des Bandes exemplarisch herausgegriffen wurden, sei abschließend noch auf die letzten beiden Aufsätze verwiesen, in denen Neil Vickers und Sheila Dickson Einblicke in die internationale Rezeptionsgeschichte des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde geben. Mit Samuel Taylor Coleridge nimmt Neil Vickers einen Autor in den Blick, der sich selbst zum Fall macht und durch eine Überaufmerksamkeit für die Überdeterminierung der Symptome ähnlich wie Moritz’ Anton Reiser »exercises in anti-autobiographical autobiography« (S. 251) vorführe. Eine demgegenüber panoramaartige Sicht auf die Rezeption im Europa des 19. Jahrhunderts ermöglicht Sheila Dicksons Beitrag, der allerdings eher überblicksartige Materialschau und sehr stark an der Achse der Ausdifferenzierung von Wissenschaften und schöner Literatur orientiert bleibt.

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Abgesehen von einigen Beiträgen, die im Umgang mit dem Material etwas zu deskriptiv verfahren oder das Verhältnis von Literatur und Wissen, von fiktionalem und faktualem Erzählen stellenweise unzureichend reflektieren, bündelt der Band einige sehr gute Beiträge zum Archiv der Erfahrungsseelenkunde und wird insofern der Erwartung an einen längst überfälligen Sammelband durchaus gerecht. Die zum Teil recht heterogenen Fragehorizonte sind einerseits wohl dem Format eines Tagungsbandes, andererseits sicherlich auch dem fallbasierten Material selbst geschuldet. Obschon einige der eröffneten Perspektiven bereits in der einschlägigen Forschung zur Fallgeschichte angelegt und daher in gewisser Weise erwartbar sind, werden dennoch einige Stellen offen gelegt, an die sich mit Gewinn anknüpfen lässt.

 
 

Anmerkungen

Einschlägig wäre hier nach wie vor: Andreas Gailus: A Case of Individuality: Karl Philipp Moritz and the »Magazine for Empirical Psychology«. In: New German Critique. An Interdisciplinary Journal of German Studies 79 (2000), S. 67–105. Die 2009 erschienene Monographie »Geschichten, die helfen, die Seele zu erkunden: Karl Philipp Moritz’ ›Anton Reiser‹ und das ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹« (Berlin: WVB 2009) von Steffi Baumann ist, aus einer pädagogischen Perspektive, recht deskriptiv und trägt wenig zu einer theoretisch fundierten, literatur- und kulturwissenschaftlichen Beleuchtung des Materials bei.   zurück
Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Abhandlungen über die Fabel. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam 2004, etwa S. 104, 131 f.   zurück