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Perspektivität in Spätaufklärung und Romantik

Eine kontrastive Lektüre von Wielands »Aristipp« und Brentanos »Godwi«

  • Anja Oesterhelt: Perspektive und Totaleindruck. Höhepunkt und Ende der Multiperspektivität in Christoph Martin Wielands »Aristipp« und Clemens Brentanos »Godwi«. München: Wilhelm Fink 2011. 437 S. Kartoniert. EUR (D) 54,00.
    ISBN: 978-3-7705-4851-4.
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In der literaturgeschichtlichen Einordnung Christoph Martin Wielands dominierte über lange Zeit ein ›vor‹: Er galt als ›Vorläufer‹ der Idee der Kunstautonomie, der die Literatur bei aller Freiheit nie ganz aus ihrer Dienstbarkeit für die Aufklärung entlassen wolle. Er wurde zum ›Vorbereiter‹ der Weimarer Klassik, indem er zentrale Grundlagen für deren Antikebegeisterung geliefert, die Antike jedoch nicht im Interesse einer ihr eigenen ›Authentizität‹ behandelt habe, sondern als musterhafte Konstruktion mit didaktischer Funktion für die eigene Gegenwart genutzt habe. Wieland zählte als ›Vorreiter‹ einer ›Emanzipation der Sinnlichkeit‹, die jedoch immer an die Moralität gebunden bleibe.

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Anja Oesterhelts Dissertation möchte diesen althergebrachten Blick auf Wieland umkehren und weiß bei diesem Projekt die neuere Wieland-Forschung und -Philologie auf ihrer Seite. Wielands später Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen wird nicht in irgendeiner vermeintlichen »Vorläuferschaft« betrachtet, sondern gilt als Höhepunkt des multiperspektivischen Erzählens um 1800, das – wie ein Vergleich mit Clemens Brentanos Roman Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter zeigen soll – in der Spätaufklärung gipfele und in der Romantik als Erzähltechnik aufgegeben werde.

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Pluralistische Spätaufklärung – ›totalitäre‹ Romantik?

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Die These der Arbeit, die in einer fast 50 Seiten umfassenden Einleitung bereits ausführlich hergeleitet und auch schon in ihren Forschungskontext integriert wird, ist als solche bereits recht mutig. Allein mit Blick auf die beiden Romane kann sie im weiteren Verlauf der Arbeit jedoch durchaus plausibel gemacht werden. Ihre These nutzt die Verfasserin zugleich zu übergreifenden Reflexionen zum Verhältnis von Spätaufklärung und Romantik, die das Ziel haben, einige liebgewordene Positionen der Literaturwissenschaft in Bezug auf die Zeit um 1800 zu hinterfragen: Indem Multiperspektivität nach Wieland aufgegeben werde, sei »Standpunktvielfalt« kein Erbe der Romantik, sondern eines der rationalistischen Aufklärung. Ziel der Arbeit ist es in diesem Sinne, die etwa von Isaiah Berlin aufgestellte These, die Romantik stehe für Liberalität, Toleranz und die »Anerkennung aller Unvollkommenheiten des Lebens«, 1 zu bestreiten und umzukehren.

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Ihre pluralistischen Impulse verdanke die Romantik der Aufklärung; die Herausforderung der Romantik an die Moderne dagegen sei es, eben gerade »nicht liberal, nicht tolerant und nicht pluralistisch denken zu wollen« (S. 21). Auf diese Weise sei die Spätaufklärung Wielands, die die ästhetischen wie epistemologischen Debatten um 1800 mit ihren (rationalistischen) Mitteln reflektiere, letztlich ›moderner‹ als die Romantik, indem sie bereit sei, »Erfahrungen von Fremdheit auszuhalten« (S. 19) und im Unterschied zur Romantik auf »ästhetische Integrationskonzepte« (ebd.) verzichte. Der Weg von der Aufklärung in die Moderne sei in diesem Sinne kein eindimensionaler, sondern weitaus komplexer, als es die These von der kontinuierlichen ›Modernisierung‹ der Literatur darstellen könne. Basis für dieses weit ausgreifende Urteil ist die Feststellung, dass sich Brentanos Roman »im Unterschied zu dem Wielands gerade nicht über die Kategorie der Multiperspektivität erschließt.« (S. 20)

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Multiperspektivität als eine Erzähltechnik

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Gegen die gewagte übergeordnete These der Arbeit ist freilich zweierlei einzuwenden: Erstens steht der ›Abschied‹ von der Multiperspektivität des Briefromans zugunsten des nicht-dialogischen Erzählens, wie ihn Brentanos Godwi vollzieht, nicht zwingend repräsentativ für die gesamte Erzählliteratur der Romantik. Dass in Bezug auf den ontologischen Status des im Godwi diagnostizierten »Totaleindrucks« nicht unerhebliche Differenzen zu den Vertretern der Frühromantik bestehen, erkennt die Arbeit selbst: Der Totaleindruck wird im Godwi zur tatsächlichen »diesseitige[n] Teilhabe am Absoluten« (S. 399) und bescheidet sich nicht etwa bei der Reflexion von dessen Ermöglichungsbedingungen, wie sie Friedrich Schlegels Konzept der ›Transzendentalpoesie‹ beschreibt. Zweitens ist Multiperspektivität nicht das einzige narrative Verfahren, das epistemologischen Skeptizismus, semantische Offenheit, vielschichtige Realitäten und die Akzeptanz unterschiedlicher Daseins- und Erkenntnisweisen literarisch verkörpern kann. Techniken wie das unzuverlässige oder phantastische Erzählen, die beide fundamentale Unsicherheiten in Bezug auf den Status von Elementen der erzählten Welt erzeugen, werden in Erzähltexten der Romantik – etwa bei E.T.A. Hoffmann, aber auch bei Eichendorff – immer wieder intensiv genutzt.

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Hintergrund dafür ist eine Dichtungstheorie, die betont, dass der Weg zum Erkennen des ›Absoluten‹ eben nicht einspurig ist, sondern gerade durch die Vielfältigkeit der Poesie in seinen Ermöglichungsbedingungen reflektiert werden soll. Dies spricht zwar nicht gegen die These vom Abschied der Multiperspektivität bei Brentano, aber gegen die anvisierte These von der monoperspektivischen Romantik; mit Blick auf E.T.A. Hoffmann muss die Arbeit ihre These vom Ende der Multiperspektivität (ohnehin nur beschränkt auf das frühe 19. Jahrhundert) am Schluss auch stark einschränken und fernerhin eingestehen, dass bereits im Realismus, spätestens aber in der ›klassischen Moderne‹ multiperspektivisches Erzählen eine starke Konjunktur erlebt.

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Bedauerlich in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Arbeit das von ihr zugrundegelegte Konzept von Multiperspektivität zu wenig nutzt, um die beiden Texte im engeren Sinne narratologisch zu analysieren: Ansgar und Vera Nünning folgend, will die Arbeit als multiperspektivisch nur eine Erzählung bezeichnet wissen, die »mehrere Versionen desselben Geschehens von unterschiedlichen Perspektivträgern« (S. 23) anbietet. Doch inwiefern gerade dies bei Wieland der Fall, bei Brentano jedoch nicht der Fall ist, wird zu wenig deutlich, zumal auch der zweite Teil des Godwi, der das Muster des Briefromans aufgibt, alles andere als ›einstimmig‹ erzählt wird.

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Arbeit am Kanon

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Die genannten Kritikpunkte sprechen jedoch nicht gegen den grundsätzlichen Ansatz der Arbeit, Spätaufklärung und Romantik in der aufgezeigten Weise zu kontrastieren. Vielmehr kann die Arbeit deutlich machen, dass der späte Wieland gleich der Romantik an den Möglichkeiten vollständiger Erkenntnis durch die Ratio zweifelt, diese Unmöglichkeit aber im Unterschied zur Romantik als unhintergehbar deutet und positiv als Daseinsbedingung des Menschen bestimmt.

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In diesem Sinne ist die Kontrastierung von Spätaufklärung und Romantik ein hoch innovatives literaturgeschichtliches Verfahren: Beide Epochen werden anhand von zwei Autoren, die in direktem und alles andere als konfliktfreiem persönlichen Kontakt standen, unter Umgehung der ›Klassik‹ aufeinander bezogen. Dies unterläuft zentrale literaturgeschichtliche Muster, mit denen die Zeit um 1800 bis heute vielfach wahrgenommen wird, und führt zu einer wohl weit adäquateren Darstellung der Verhältnisse, die Wielands zentrale Stellung im Literaturbetrieb der Zeit und seine Bedeutung als einflussreicher Multiplikator deutlich macht: Die unterschiedlichsten Autorpersönlichkeiten der Zeit – nicht nur der junge Brentano, sondern etwa auch der stets zweifelnde Heinrich von Kleist oder etwa der Sensualist Wilhelm Heinse – suchten die Nähe zum Herausgeber des Teutschen Merkur, wo sie auf eine relative Offenheit stießen. Gern übersehen werden in diesem Zusammenhang auch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Wieland und der Familie Brentano; auch diese erzeugte potenzielle Einflusswege, die eine allein auf starre Epochenbegriffe fokussierte Literaturgeschichtsschreibung nicht abbilden kann.

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Kein einfacher Weg

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Statt auf die Multiperspektivität als Erzähltechnik im engeren Sinne konzentriert sich die Arbeit überwiegend auf die Perspektive als Erzählmotiv und als erkenntnistheoretische Größe, wobei sie sich ihrerseits auf einen mehrperspektivischen Weg begibt. Dieser ist für Leser nicht immer ganz einfach zu beschreiten, erweist sich jedoch in jedem Fall als lohnend, da er hoch interessante Einblicke in die Zeit um 1800 eröffnet. Die Arbeit geht in fünf Schritten vor, die die Texte nach je unterschiedlichen thematisch-motivischen Gesichtspunkten betrachten. In allen Schritten wird intensiv auf die jeweiligen motiv- und ideengeschichtlichen Kontexte der beiden Untersuchungsgegenstände verwiesen. Der Gefahr, die eigentliche Fragestellung etwas aus dem Blick zu verlieren, kann dabei nicht immer ganz entgangen werden.

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Dialog und Erkenntnis

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Ein erster Abschnitt (»Dialog. Potenzial und Krise des begrenzten Standpunkts«) integriert beide Romane in die jeweiligen dialogtheoretischen Kontexte und fragt, inwiefern die Verwendung von Briefen als Erzählprinzip auf die übergeordnete Funktionalisierung des Dialogs als Instrument der Erkenntnis verweist. Die Arbeit kann hier deutlich machen, dass Wielands Briefroman auf der Idee eines gleichberechtigten Dialogs zwischen einzelnen vernünftigen Subjekten beruht, die nicht das Aufgehen unterschiedlicher Perspektiven in einer einzigen, sondern die Parallelexistenz unterschiedlicher Sichtweisen fokussiert.

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Brentanos Roman dagegen gebe dieses Konzept auf: Die Begegnung mit dem romantischen ›Absoluten‹ – in Abgrenzung zur aufgeklärten »Multiperspektivität« als »Totaleindruck« bezeichnet – verschmelze die Andersartigkeit Einzelner zu einem homogenen ›Ganzen‹. Nicht die Romantik, sondern Wieland legt auf diese Weise die Idee einer offenen, pluralen Gesellschaft der Moderne zugrunde: Der Gedanke »dass sich das Allgemeingültige nur in der Pluralität des Verschiedenartigen und nie in einer abstrakten Idee« findet, sei, wie es in einem späteren Abschnitt der Arbeit heißt, »die Idee der Demokratie« (S. 222).

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Blick und Perspektive

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Ein zweiter Abschnitt (»Aussicht und Perspektiv: Von der Außen- zur Innenperspektive«) untersucht die Texte im Hinblick auf ihre Thematisierung von Raumwahrnehmungen und beleuchtet beide im Kontext der seit der Renaissance virulent gewordenen Fragen von Bild- und Wahrnehmungsperspektiven. Die Art, wie Figuren die Wahrnehmung der sie umgebenden Räume beschreiben, ist jedoch nur einer der Gegenstände des Abschnitts; so werden etwa auch die Funktion von Vorreden – mitsamt eines historischen Abrisses der Wortbedeutung im ausgehenden 18. Jahrhundert – oder Wielands Herausgeberpraxis beim Teutschen Merkur behandelt.

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Bevor die Perspektive als Medium der Raumerfahrung im engeren Sinne erörtert wird, werden blick- und bildtheoretische Positionen um 1800 detailreich nachvollzogen. Im Ergebnis werden Perspektiv- und Identitätsfragen der Zeit um 1800 korreliert: Der Verlust einer individuellen Perspektive auf die Außenwelt bei Brentano wird gedeutet als Verweis auf die Krise des Subjekts, in deren Folge das multiperspektivische Erzählen »erst untergraben […], dann jäh abgebrochen und im Anschluss von der Erzählerfigur als gescheitert bezeichnet« (S. 109) werde. Aus der Einsicht, dass die »Erfahrung der Totale […] nicht im Modus der Perspektive« (S. 186) möglich ist, leitet Wieland den mehrstimmigen Briefroman ab, Brentano dagegen die »Innenperspektive« als zentrales literarisches Wahrnehmungsmuster.

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Auflösung der Zentralperspektive

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Ein dritter Abschnitt widmet sich den Gemäldebeschreibungen in Wielands und Brentanos Romanen vor dem Hintergrund der Abwertung der Zentralperspektive in der Malerei nach 1800. Erneut kann die Arbeit einen beeindruckenden Kanon theoretischer Texte der Zeit aufführen. Bleibt bei Wieland die »Zentralperspektive als Synthese des Mannigfaltigen« (S. 203) erhalten, löst sie sich bei Brentano zugunsten der Visualisierung von Absolutheitserfahrungen auf, wie die Arbeit nicht nur an den Romanen selbst, sondern etwa auch an der Debatte um Brentanos Rezension von Caspar David Friedrichs Mönch am Meer für Kleists Berliner Abendblätter deutlich machen kann. Ein vierter Abschnitt, der anhand der Darstellung von Plastiken nach der »Fixierung und Dynamisierung der Perspektive« fragt, rekurriert ebenfalls zunächst ausgreifend auf die ästhetischen Debatten um die Plastik und ist durch eine beeindruckende Sachkenntnis und Detailfülle geprägt.

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Perspektive(n) auf Geschichte

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Ein letzter Abschnitt der Arbeit vergleicht die beiden Texten zugrundeliegenden historiographietheoretischen Konzeptionen und beschreibt zugleich den (weiten) Kontext der geschichtstheoretischen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Insbesondere Wielands Aristipp als bis dato einmalige »Fiktion historischer Authentizität« (S. 361) wird gedeutet als Reflexion der Ermöglichungsbedingungen historischer Erkenntnis, wobei Wielands nicht-teleologische Geschichtskonzeption herausstellt wird, die »die Alterität von Wertmaßstäben […] für wünschenswert« (S. 321) halte und optimistische wie skeptizistische Positionen dialogisch in Bezug setze. Für Wieland wird Geschichtsschreibung zu einem notwendig perspektivgebundenen, individuellen Blick in die Vergangenheit, der nie ein Blick in die Totale sein kann. Erst der Leser kann »einen übergeordneten, ja kosmischen Standpunkt einnehmen« (S. 359). In Brentanos Godwi steht dagegen nicht das Erzählen von Vergangenheit, sondern von Gegenwart im Mittelpunkt der narrativen Selbstreflexion. Die »geschichtslose Gegenwärtigkeit« (S. 390) des Protagonisten ist dabei ihrerseits ein vorübergehendes Phänomen im Sinne der romantischen ›unendlichen Progression‹ und eines zirkulären Zeitverlaufs, der nicht aus einer Perspektive heraus, sondern nur als Ganzer von innen heraus erkannt werden kann.

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Fazit

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Mit der Dissertation von Anja Oesterhelt liegt eine äußerst ambitionierte Auseinandersetzung mit zwei hoch komplexen Texten vor, deren kontrastive Lektüre etablierte literaturgeschichtliche Sichtweisen auf die Zeit um 1800 dynamisieren kann. Nicht immer konzentriert sich die Arbeit dabei auf die titelgebende Frage nach der Multiperspektivität, und auf diese weit weniger im Sinne eines narratologischen Analyseverfahrens als vielmehr im Sinne eines literarischen Motivs oder epistemologischen Prinzips. Doch vermittelt gerade dieses Vorgehen hoch interessante Einblicke in die komplexe ideelle Gemengelage aus Spätaufklärung und Frühromantik, wie sie die Zeit um 1800 prägte. Die provokante übergeordnete These der Arbeit hinterfragt bestehende Wahrnehmungsmuster dieses Zeitraums, wobei freilich neue Fragen die alten ablösen. In jedem Fall wäre ein ›Ende‹ der Multiperspektivität bei Brentano durch eine sehr baldige Wiederkehr geprägt, die noch innerhalb der Romantik zu verorten wäre. Gerade unter diesem Gesichtspunkt Spätaufklärung und Romantik als Ganze kontrastieren zu wollen, erscheint daher als etwas gewagt.

 
 

Anmerkungen

Isaiah Berlin: Die Wurzeln der Romantik, hrsg. von Henry Hardy. Aus dem Englischen von Burkhardt Wolf, Berlin: Berlin Verlag 2004, S. 246; zit. nach: Oesterhelt: Perspektive und Totaleindruck, S. 21.   zurück