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Drei Lesarten
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Dies ist ein multifunktionales Buch. Man kann es als kleines Handbuch der Buchhandelsgeschichte lesen, und zwar aus der Perspektive eines einzigen Ortes, voller lokaler Details. Man kann es als Materialsammlung für eine Theorie des buchhändlerischen Verkehrs benutzen. Und man kann es als historisch-kritische Untersuchung eines Schlagwortes verstehen.
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Buchhandelsgeschichte
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Zunächst zur Buchhandelsgeschichte. Leipzig war, wie der Autor zeigt, ein exemplarischer und ereignisreicher Spielplatz ökonomischer, technischer und bildungsrelevanter Entwicklungen, die in ihrem Zusammenwirken den Aufstieg des Buchhandels bewirkten, aber zunächst nur ein Standort unter anderen. Die frühen Drucker kamen relativ spät hierher, während Gutenbergs Innovationen schon um 1450 datieren und Mainz, Straßburg, Köln und Basel sich bald als Druckorte einen Namen machten, gab es in Leipzig erst vereinzelt Spuren des neuen Gewerbes: Erst 1481 ist dort das Werk eines Wanderdruckers nachgewiesen, erst gegen Ende des Jahrhunderts tauchen namhafte Offizinen in der Stadt auf. Die Beziehungen der Drucker zur Universität einerseits, zum Verlagswesen andererseits zeigen aber auch jetzt schon, dass man es im Buchgewerbe mit einem Zusammenspiel unterschiedlicher Aktivitäten zu tun haben werde. Die Konjunktur reformatorischer und gegenreformatorischer Schriften lässt dann auch den Druckort Leipzig aufblühen. Um 1480 erscheinen zudem die ersten auswärtigen Druckerverleger als Teilnehmer an der Leipziger Messe, die ersten stationären Buchhändler lassen sich am Messeplatz nieder, Leipzig wird allerdings noch für lange Zeit weder der einzige noch der bedeutendste Standort von Buchhandelsmessen sein.
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Erst 1764, nach andauernder Rivalität, löst Leipzig die Frankfurter Buchmesse endgültig als führenden Handelsplatz ab. Und relativ spät, nach der Separierung von Drucker-, Verleger- und Buchhändlerfunktionen, stellt Keiderling den Aufstieg bedeutender Verlage in der Stadt fest, mit Firmen wie Breitkopf, Göschen, Reich und Kummer sind dann überregionale Marktführer am Platz versammelt. Erst im 19. Jahrhundert beginnt sich das Buchwesen, und nun allerdings sichtbar, in Leipzig zu konzentrieren. 1825 wird hier der Börsenverein als Gewerbeverband gegründet, nicht zuletzt übrigens, um die Ausnutzung von Standortvorteilen durch die Leipziger Firmen im Interesse der auswärtigen Handelsgenossen zu begrenzen. Neue Verlage nehmen ihren Sitz in der Stadt, Kartographie, Musikalien- und Antiquariatshandel entwickeln sich, Großunternehmen des Zwischenbuchhandels entstehen, die Industrialisierung des Graphischen Gewerbes führt zu geschlossenen Ansiedlungen in der Ostvorstadt, repräsentative Geschäftsbauten werden errichtet: Um 1900 ähnelt das Firmengelände von Brockhaus mit Verlegervilla, Büro- und Lagerhäusern, technischen Werkstätten und Maschinenzentrale einem Stadtteil für sich. Zulieferbranchen, wie der Druckmaschinenbau kommen hinzu. Eine verbandseigene Lehranstalt für Buchhändler wird in der Stadt eingerichtet. Die Buchkunst gewinnt an Bedeutung, die ersten internationalen Buchkunst-Ausstellungen finden in Leipzig statt. Bis zum Beginn des ersten Weltkrieges ist tatsächlich ein über Ländergrenzen hinaus vernetzter, vielfach ausstrahlender Zentralplatz für die Bereitstellung und den Vertrieb von Büchern entstanden. 1912 wird, unter Beteiligung des Börsenvereins, die Deutsche Bücherei in Leipzig als bibliographisches Zentrum gegründet.
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Aber damit ist der Höhepunkt auch schon erreicht. Die rückläufige Entwicklung vollzieht sich in Stufen: Der erste Weltkrieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise setzen dem Buchhandelszentrum nachhaltig zu, zeitweise werden seine genossenschaftlichen Einrichtungen notleidend. Der nationalsozialistische ›Umbruch‹ von 1933 macht dann der Ordnungsmacht des privatwirtschaftlich organisierten Börsenvereins ein Ende und verlegt die politische Regie der Buchproduktion nach Berlin. Der Luftkrieg vernichtet im Dezember 1943 auch die materielle Basis der Buchstadt, die im ›Graphischen Viertel‹ Leipzigs konzentrierten Produktionsstätten, Verlagshäuser, Lagerräume und Buchvorräte fallen ihm weitgehend zum Opfer. Die nach Kriegsende vollzogene Teilung und Isolierung Deutschlands unterbindet den freien grenzüberschreitenden Verkehr und damit auch die Zentralfunktion des Leipziger Platzes. Die weitgehende Entprivatisierung von Buchhandlungen, Druckereien und Verlagen im Osten sowie die damit ausgelöste Migrationsbewegung nach Westen führen zwischen den beiden Staatsgebilden zu komplizierten Verhältnissen. Zwei Buchmessen, zwei Börsenvereine, zwei Zentralbibliotheken entstehen. Im Innenverhältnis der DDR ist Berlin der Ort der politischen Anleitung und von wichtigen Verlags-Neugründungen, nicht Leipzig. Zum Schluss fällt die Vereinigung von 1990 in eine Phase völlig veränderter Handelsformen und Informationsmittel: Leipzig wird nicht mehr benötigt.
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Der kurze Durchgang durch die gesamte Buchhandelsgeschichte bleibt nicht ohne Verallgemeinerungen. Die sogenannten ›Kulturverleger‹ machten die »führende Rolle Leipzigs« eher nicht aus, wenn zwei von dreien bald weiter zogen (S. 65). Ihre Zentren waren Berlin und München, der Münchner Verleger Reinhard Piper zum Beispiel hat sich in Leipzig »nie recht wohl gefühlt«, ihm war da »das Buch zu sehr mit Industrie verquickt.« Und die Diskussion im berühmten Bücherstreit von 1903/1904 lässt sich kaum angemessen in einem Absatz zusammenfassen (S. 89–90). So viel zur Geschichte.
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Buchhändlerischer Verkehr
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Thomas Keiderling weist darauf hin, dass im Jahre 1913 in Berlin deutlich mehr Buchhandlungen existierten, als in Leipzig (1.460 gegen 1.104). Auch die Buchtitelproduktion war ab 1870 in Berlin immer höher, als in Leipzig (S. 10–11). Es müssen also andere Faktoren gewesen sein, die Leipzig zur führenden ›Buchstadt‹ gemacht hatten. Der Autor findet die, und wie sich dann zeigt entscheidende, Spur im buchhändlerischen Verkehr, dessen Entwicklung er deshalb vom Anfang seiner historischen Darstellung an mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Diese Entwicklung beginnt mit der 1792 gegründeten Buchhändler-Börse, die den aus vielen Standorten und Währungsgebieten zusammen kommenden Messeteilnehmern die Abrechnung der verkauften Bücher zu festen Terminen und an einem Ort erlaubte. Der inzwischen eingeführte, einigermaßen komplizierte ›Konditionenhandel‹, bei dem die bestellte Ware zunächst im Eigentum des Lieferanten bleibt, Verkauftes später abgerechnet und Unverkauftes wieder zurück gesandt wird, verlangte außerdem bald permanente Vertreter der daran teilnehmenden Buchhandlungen und Verlage am Messeplatz, Kommissionäre also, die auch für den Warentransport sorgten: »Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Ausgestaltung des Kommissionsbuchhandels so weit fortgeschritten, dass ein regelmäßiger Geschäftsbetrieb ohne den Leipziger Kommissionär nicht mehr möglich war,« so der Verfasser.
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Die Organisation des gesamten Bestell-, Auslieferungs- und Rechnungsverkehrs über Leipzig beruhte damit auf einem System von Kommissionsgeschäften, später auch von Grossohändlern und Barsortimenten, die den Bucheinzelhandel auch außerhalb der Messen belieferten. Hinzu kam eine genossenschaftliche Bestell-Anstalt für Buchhändler-Papiere zum Austausch der zahlreichen Einzelbestellungen, Anfragen und Geschäftsmitteilungen, eine Rationalisierungsmaßnahme zur Bewältigung der ständig steigenden Informationsflut: 1883 waren bereits 83.000 ›Zettel‹ pro Tag zu verarbeiten (S. 71). Dem in dieser Weise logistisch organisierten Verkehr über Leipzig, vom Verfasser in Kapitel III/4 detailliert beschrieben, fehlte eigentlich nur noch der Computer. Aber auch ohne ihn führte die fortschreitende Konzentration nach dem Weltkrieg zu einem geradezu »größenwahnsinnigen Projekt«: Die seit 1916 bestehende, genossenschaftlich organisierte Paket-Austauschstelle sollte zu einer fast 35.000 m² großen »Bücherstapel- und Versandhalle« mit direktem Gleisanschluss an den Eilenburger Bahnhof erweitert werden, Bücher-Bahnamt, Bücher-Postamt und Bankunternehmen inklusive, Vergrößerung als Option. Angesichts der Wirtschaftslage unterblieb die Realisierung. So viel zu den Materialien einer Verkehrstheorie.
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Es wird jetzt auch klar, dass Thomas Keiderling nach solchen Präzisierungen das plakative und ungenaue Schlagwort ›Buchstadt Leipzig‹ nicht schätzt. Seine Einleitung handelt davon, und seine historische Untersuchung dient nicht zuletzt dazu, diese Formel auf ihren realen Gehalt zu überprüfen. Sie erweist sich dabei nicht nur als unscharf, sondern auch als politisch belastet. Die Begriffsgeschichte zeigt, dass die Wortverbindung erstmalig zur NS-Zeit auftauchte. Während Leipzig den offiziellen Titel ›Reichsmessestadt‹ erhielt, sprach man unter Fachleuten jetzt wie selbstverständlich von der ›Buchstadt‹, und später wurde die Formel auch in der offiziellen Sprache der DDR gerne benutzt. Der Leipziger Kommissions- und Großhandelsbetrieb LKG legte 1958 Pläne für eine umfassende städtische Außenwerbung mit dem Slogan: »Leipzig – Die Buchstadt« vor (S. 160). In beiden Fällen meint man den Unterton einer Abgrenzung vom Machtzentrum Berlin zu hören. Nach 1990 herrscht dann nur noch der Modus der Retrospektive (»Was von der Buchstadt übrig blieb«). So viel zur Geschichte eines Schlagwortes.
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Kein Mythos, aber …
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Mit seiner Untersuchung verfolgt Thomas Keiderling, vielfach ausgewiesener Experte der Geschichte des Zwischenbuchhandels, offenkundig zwei Ziele: Die Entschleierung eines Schlagwortes, und die Rekonstruktion der tatsächlichen historischen Bedeutung Leipzigs als überregionales logistisches Zentrum des Buchhandels. Damit wird weder ein Mythos zerstört, noch ein neuer begründet. Auf einem anderen Blatt steht jedoch die anhaltende Neigung der Buchhandelsbranche zur Selbststilisierung, die im demonstrativen Prachtbau des Leipziger Buchhändlerhauses von 1888 ihren Höhepunkt erreichte (S. 85–87). Ihr kam dann ein unscharfer Begriff wie ›Buchstadt‹ durchaus gelegen. So sollte der Verleger Anton Kippenberg noch am 24. Juni 1947 aus Marburg an Johannes R. Becher schreiben: »Ich bin überzeugt und habe es immer wieder ausgesprochen, dass Leipzig alle Chancen hat, wieder die erste Buchstadt Deutschlands zu werden«, dies allerdings unter der Voraussetzung, dass das Wiederaufblühen seines Leipziger Insel-Verlages ein Bestandteil der »Buchkultur« bliebe. Der mehrfach enthaltene, abstrahierende Singular Buch gehört im Übrigen noch heute zur korporativen Rhetorik, vom ›Tag des Buches‹ bis zur Widmung der Plakette ›Dem Förderer des Buches‹.
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Die Darstellung von Thomas Keiderling wird durch viele, sorgfältig ausgewählte und oft überraschende Abbildungen unterstützt, die Klappen der fadengehefteten Broschur bieten dafür zusätzlichen Raum. Der Anhang verweist auf Archive und deren Fundstellen, enthält ein ausführliches Literaturverzeichnis (S. 189–201) und ein Personen- und Firmenregister. Leser werden der Arbeit nicht nur zahlreiche Informationen, sondern auch vielfache Anregungen zum Nachdenken über eine Branche zwischen Rationalisierung und Pathos entnehmen.
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