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Ästhetische Autonomie im Rahmen des Schicklichen

  • Julia Schöll: Interessiertes Wohlgefallen. Ethik und Ästhetik um 1800. München: Wilhelm Fink 2015. 412 S. Kartoniert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-7705-5390-7.
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1. Die Wiederkehr des Interessanten

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Kants Bestimmung des Schönen durch ›interesseloses Wohlgefallen‹ hat rasch Widerspruch ausgelöst. Für den jungen Friedrich Schlegel wird in der neuzeitlichen Kunst das ›Interesse‹ entscheidend. Aus einer »Herrschaft des Manirierten, Charakteristischen und Individuellen« erkläre sich »von selbst die durchgängige Richtung der Poesie, ja der ganzen ästhetischen Bildung der Modernen aufs Interessante«. 1 Das dagegen gesetzte »Schöne« erscheint dann zwar doch als »das letzte Ziel der modernen Poesie«, 2 ob es erreicht werden kann, bleibt aber unentschieden. Später hat man offensiver versucht, die Kant folgende Autonomieästhetik (wieder) durch kunstbezogene Empfindungen wie ›Reiz‹ und ›Rührung‹, 3 aber auch durch Schock, Ekel, Faszination oder sexuelle Attraktion aufzubrechen. 4 Der Versuch Julia Schölls, die Neuerfindung des Ästhetischen um 1800 neu zu lesen, zielt in eine andere Richtung: Sie will, anschließend an die jüngere, u. a. durch Martha Nussbaum ausgelöste Diskussion über Moral in der Literatur, eine spezifisch moralische Orientierung in der deutschen Ästhetik nach Kant freilegen. Ihre »These [...] lautet, dass es sich bei der Konjunktur des Ästhetischen um 1800 um ein interessiertes Wohlgefallen am Schönen, um eine immer auch ethisch kodierte Ästhetik handelt« (S. 29).

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Die Weise, in der sie die Verbindung herstellt, folgt in Grundzügen Kant: In Moral wie Ästhetik befreie sich das eigenständig werdende Subjekt aus kirchlichen und ständisch-absolutistischen Bindungen bzw. zum »Projekt der Bildung einer humanen bürgerlichen Gesellschaft« (S. 21). Ein entsprechender »Metadiskurs« (S. 29 u. ö.) soll in der thematisch umfassenden Rekonstruktion und Analyse philosophischer und literarischer Texte zu Moral und Ästhetik um 1800 herausgestellt werden. Dazu untersucht Schöll außer Ästhetik bzw. Kunsttheorie im engeren Sinn die Themenbereiche »Liebe«, »Religion« und »Gesellschaft«. Neben klassischen Texten wie Kants Kritik der Urteilskraft, Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung, Goethes Lehrjahren und Schleiermachers Reden Über die Religion kommen auch wiederentdeckte Werke wie Caroline von Wolzogens Agnes von Lilien und weniger geläufige Beiträge wie Christian Garves Essay Über die Moden zur Sprache; einen wichtigen Block bilden zudem literarische Texte, deren unmoralischer Ruf in Spannung zur Hauptthese steht: Schlegels Lucinde, Kleists Penthesilea, Goethes Wahlverwandtschaften. Stark randständige Texte werden allerdings nicht erschlossen, breitere Textbestände nicht geprüft. Schöll »fühlt sich der Diskursanalyse [nur] insofern verpflichtet, als theoretische und (im engeren Sinn) literarische Texte als gleichwertige Diskursbeiträge gelesen werden« (S. 30) – wobei sie zugleich anstrebt, »die Literarizität [...] von Literatur nicht preis zu geben, indem man sie auf ihren wissenssoziologischen Gehalt reduziert, sondern sie als spezifisch literarischen Beitrag zum Diskurs wahr und ernst zu nehmen.« (S. 32)

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2. Autonomie, Subjektivität und Individualität

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Was man derart über die Verbindungen zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen im Untersuchungszeitraum erfährt, ist nicht in jedem Fall neu. Schöll stellt fest, dass Kant trotz seiner Autonomisierung ästhetischen Empfindens doch immer wieder Verbindungen zum Sittlichen herstellt, indem er etwa den »Gemeinsinn« als Grundlage von Geschmacksurteilen (S. 50) und schließlich sogar das »Schöne als Symbol des Guten« bestimmt (S. 62–66); sie diskutiert, dass das Ästhetische in Schillers Briefen erst ein Durchgangsstadium auf dem Weg zum Vernunftstaat, dann jedoch selbst das Ziel bildet (S. 348–351); sie erklärt, dass Schlegels Lucinde einen »unnatürlichen und unsinnlichen bürgerlichen Sittenkodex« (S. 195) angreift, jedoch weiterhin eine normative, asymmetrische Geschlechteranthropologie beinhaltet: »Der Mann lernt von der Sinnlichkeit der Frau, die Frau von der Geistigkeit des Mannes.« (S. 193) Die übergreifende These des Buchs wird mit solchen Urteilen und Resultaten nicht notwendig konkreter. Zwar weist Schöll regelmäßig auf Querbeziehungen zwischen ihren Texten hin, sie schließt ihre Einzelanalysen jedoch ebenso regelmäßig ab, ohne genauer zu klären, was das Ästhetische im ›Metadiskurs‹ systematisch ans Ethisch-Moralische bindet. Am ehesten finden sich solche Klärungen mit Bezug auf Kant, bei dem »Ästhetik und Ethik strukturanalog im Rekurs auf das Subjekt und dessen autonomes Urteilen und Handeln rekonstruiert [werden]. Von einem klaren Dominanzverhältnis kann bei zwei gleichermaßen autonomen wie selbstreferenziellen Instanzen nicht mehr die Rede sein. [...] Hieraus entwickelt sich die diskursivitätsbegründende Rolle der Kant’schen Texte für den sich im Anschluss entwickelnden Metadiskurs über das Verhältnis des Guten zum Schönen.« (S. 66) Schöll verallgemeinert dies im Resümee, indem sie noch einmal die »Autonomie« betont, »die das Ästhetische im späten 18. Jahrhundert gewinnt [...]. Seine Verbindungen zur Moral entstehen bereits parallel zu jenem Prozess, in dem Ethik und Ästhetik als autonom deklariert werden. Die Souveränität des Ästhetischen [...] steht jener Verbindung nicht entgegen, sondern bildet deren genuine Voraussetzung.« (S. 380) Wenn das aber das zentrale Argument ist, fällt der Ertrag des Buchs unkontroverser und bescheidener aus, als man zunächst erwarten konnte: Um 1800 wird ›das Ästhetische‹ dank Kant und anderen autonom, seither kann man viele Beziehungen zwischen Ethik und Ästhetik herstellen.

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Auch in diesem Fall lässt sich allerdings die subjekttheoretische Begründung der These anzweifeln – und das nicht nur, weil das autonome Subjekt zunächst nur der Bezeichnung nach etwas mit autonomer Moral und Kunst zu tun hat. Spezifischer fällt es schwer, das formal-allgemeine Subjekt Kants mit den Vorstellungen einzigartiger Individualität zu vereinbaren, die u. a. bei Schleiermacher, Humboldt und Friedrich Schlegel zentral werden. Schöll stößt in ihrem Material öfter auf diesen Punkt, neigt jedoch dazu, ihn zu übergehen. Schlegels brieflichem Kommentar zur Lucinde, dass »wahre Geschichte das Fundament aller romantischen Dichtung sei« und »das Beste in den besten Romanen nichts anderes ist als ein [...] Selbstbekenntnis des Verfassers, der Ertrag seiner Erfahrung, der Quintessenz seiner Eigentümlichkeit« (zit. S. 185), begegnet sie mit der verständlichen Einschätzung, dies sei »nicht im engeren Sinn autobiographisch gemeint« (ebd.). Ihre alternative Lesart ist jedoch überallgemein: »Die ›wahre Geschichte‹, welche das Fundament der romantischen Dichtung bildet, bezieht sich nicht auf ein konkretes historisches Individuum, sondern auf das Subjekt an sich.« (Ebd.) Die Pointe von Schlegels Selbsterläuterung geht so ziemlich sicher verloren. Und mit Blick auf seine Sätze zur modernen Poesie wäre zu fragen, ob die Autonomieästhetik nicht eben dort ethisch aufgebrochen wird, wo statt der Vernunft- und Urteilskapazitäten des Subjekts die Eigenheiten besonderer Individuen zum Thema werden. Schöll verpasst hier eine Chance, ihre Hauptthese entweder genauer zu bestimmen oder zu modifizieren.

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3. Gerahmte Schönheit

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Der größte Einwand gegen ihre Argumentation besteht aber wohl einfach darin, dass sie die um 1800 erschlossenen Möglichkeiten einschränkt, Moral ästhetisch zu reflektieren und zu kritisieren. Philosophisch hat so etwa Hegel Abstand von Fichtes Rigorismus gewonnen, 5 und viele literarische Texte der Zeit lassen sich kaum anders begreifen. Ein besonders markanter Fall sind die Wahlverwandtschaften. Das metaethische Potenzial des Buchs wird im Resümee angesprochen: »Ein klares Votum hinsichtlich der Vereinbarkeit oder Nichtvereinbarkeit von Moralität und Schönheit, Pflicht und Neigung, verweigert der Text; auch in diesem Punkt erweist er sich bereits als modern.« (S. 380) Schölls Analyse besteht jedoch zu großen Teilen darin, dass sie die moralischen Verfehlungen der Romanfiguren Eduard und Ottilie aufzählt bzw. (im zweiten, subtileren Fall) freilegt – und ihnen die bessere Moral der beiden anderen Hauptfiguren entgegenhält: »Charlotte und der Hauptmann sind die deutlich selbst-bewussteren Subjekte; sie wissen, was sie tun, und führen das, was in ihrem Leben geschieht, nicht auf metaphysische Konstellationen zurück, sondern betrachten es als Produkt eigener Entscheidungen und selbstbestimmten Handelns. [...] Das Subjekt, das mit seinem Willen über seine Gefühle gebieten kann, erlebt keinen romantischen Rausch, bewahrt jedoch seinen Seelenfrieden; vor allem aber ist es dem Leben, nicht dem Tod zugewandt.« (S. 367 f.) Wenn diese »heitere Form der Vernunftethik in ihrer modernen Form der bewussten und gelassenen Entsagung« (S. 373) wirklich die (oder eine zentrale) Botschaft des Romans sein sollte, fiele es schwer, ihn vom Typ des »moralisierenden Kunstwerks« (S. 16) abzugrenzen, den Schöll eigentlich ablehnt. Dazu müsste man zumindest auch die ethisch-ästhetische Fragwürdigkeit des dienstbar kalkulierenden Hauptmanns und der beschränkend ordnenden Charlotte sehen. Stattdessen identifiziert sich Schöll sogar mit den ästhetischen Entscheidungen Charlottes. Ihre oft diskutierte Kirchhofsverschönerung, die aus identifizierbar verorteten Gräbern eine homogene Kleefläche macht, feiert Schöll als Gleichheitspraxis: »Die aufgeklärte Adlige plädiert für eine Aufhebung der Ständegesellschaft wenigstens nach dem Tod und weist damit die ökonomisch untermauerten Ansprüche ihrer feudalistisch argumentierenden Nachbarn zurück.« (S. 368) So bleibt die Möglichkeit außen vor, dass gerade Rationalisierungs- und Ästhetisierungsprozesse wie das Einebnen von Erinnerungsorten, das dekorative Erweitern von Seen oder historistische Kirchenausmalung eine Welt schaffen könnten, deren Bewohner nur noch Scheinlösungen finden. In diesem Fall würde literarisch die Probe darauf gemacht, ob Ästhetisierung die Grundlagen von Moral wegspülen kann.

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Als noch vor der Entfaltung dieser Dynamik die Figuren in fast komischer Kontrastierung ästhetisch eingeführt werden, erkennt Schöll gleichfalls nur eine richtige Lösung. Charlotte empfängt Eduard in einer neu errichteten Mooshütte und lässt ihn »dergestalt niedersitzen, daß er durch Türen und Fenster die verschiedensten Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte« – Eduard ist jedoch nicht zufrieden, weil ihm »die Hütte [...] etwas zu eng« scheint. 6 Hier misslingt offenkundig unmittelbar der Versuch, einem Liebhaber des Unbegrenzten klare Grenzen zu setzen. Aus dem Abgleich mit einer späteren Szene, die Eduards »romantisch-ästhetischen Blick in die Ferne« (S. 372) der sittlichen Topographie seines Anwesens entgegensetzt, folgert Schöll: »Der Rahmen fesselt den Blick [...] und konzentriert die Wahrnehmung auf das Wesentliche. Vor allem aber grenzt der Blick, der sich von Charlottes Mooshütte auf die Natur bietet, die Kultur nicht aus: Von ihr aus überblickt man das Dorf, die Kirche, das Schloss und die Gartenanlage [...] – all das, wofür man Sorge und Verantwortung zu tragen hat und was zugleich Gegenstand einer kultivierenden Tätigkeit ist.« (S. 372) Charlottes Ansatz, maßvoll ästhetisierend die bestehende Sozialordnung zu bewahren, erscheint hier nicht als begrenzte (und im Fall des Kirchhofs intern problematische) Sichtweise in einer insgesamt unheilvollen Konstellation, sondern als Vorbild dafür, wie ein intaktes Naturverhältnis aussehen sollte. Eben solche Vorbilder haben die Kunst und Ästhetik der Romantik und der nachromantischen Avantgarden abgelehnt, und Goethes Roman gibt sowohl der romantischen als auch der aufgeklärt-strukturkonservativen Ästhetisierung wenig Chancen.

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Man kann alles das aus moralischen Gründen rückgängig machen wollen, und man wird sich dabei auf Gewährsleute stützen können, die um 1800 noch nicht so weit waren wie Kant, Schlegel oder die Wahlverwandtschaften. Die Frage ist nur, weshalb eine derart moralisch gerahmte Ästhetik heute erneut überzeugend sein soll. Fraglich ist auch, ob man unbedingt Begriffe wie ›(Meta-)Diskurs‹ und »rhizomartige Struktur« (S. 32), Autoren wie Foucault (S. 30 u.ö.) oder Jacques Rancière (S. 28 u.ö.) bemühen muss, um eine solche Ästhetik zu empfehlen – gerade Rancière hat ja das um 1800 etablierte, ›ästhetische Regime‹ der Kunst pointiert dem ›ethischen‹ und dem ›repräsentativen‹ der Tradition entgegengesetzt, weil es alle sinnfälligen sittlichen Ordnungen unterminiert. 7 Und um diese Fragen überhaupt klar diskutieren zu können, würde man gern eine Argumentation lesen, die mehr leistet als die Nacherzählung einer Reihe historisch-thematisch benachbarter Texte. Schölls Buch geht leider nur wenig über das Nacherzählen hinaus.

 
 

Anmerkungen

Friedrich Schlegel: »Über das Studium der griechischen Poesie [1795–1797]«, in: Kritische Schriften und Fragmente: Studienausgabe in sechs Bänden, hg. v. Ernst Behler u. Hans Eichner, Bd. 1, Schöningh: Paderborn 1988, S. 62–136; S. 84.   zurück
Ebd., S. 85.   zurück
So z.B. Konrad Paul Liessmann: Ästhetische Empfindungen. Wien: Facultas 2009.   zurück
Auch das findet sich schon bei Schlegel, der als Extreme des Interessanten kritisch-ablehnend das »Piquante«, das »Frappante« und »Choquante« einführt und Letzteres noch einmal in das »Abenteuerliche«, »Ekelhafte« und »Gräßliche« unterteilt (op. cit., S. 85). Positiviert werden solche Kategorien spätestens seit Poe und Baudelaire.   zurück
Vgl. die einschlägigen (von Schöll nicht herangezogenen) Passagen in »Die Differenz des Fichteschen und des Schellingschen Systems der Philosophie« (1801), in: Werke, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl-Markus Michel, Bd. 2, Jenaer Schriften 1801–1807, Frankfurt a. M. 1986, S. 9–138; S. 90–93.   zurück
Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: Hamburger Ausgabe, hg. v. Erich Trunz, Bd. 6, München: Beck Verlag 1996, S. 242–490; S. 243. Das erste Zitat (nicht aber die Äußerung Eduards) ist auch bei Schöll wiedergegeben (S. 372).   zurück
Vgl. etwa Jacques Rancière: Le partage du sensible. Esthétique et politique, Paris 2000.   zurück