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Die Kulturwissenschaft ist wieder mal gut und neu aufgelegt. Der erste Band der jüngsten Reihe Basis-Scripte führt auf das Feld ihrer Theorie. Wie jeder Folgeband setzt er sich aus fünfzehn Texten zusammen und entspricht damit dem Leseumfang eines einführenden Grundkurses. Das Format des Readers ist aus der angelsächsischen Lehre bekannt. Dabei wird eine Auswahl kanonisierter Texte mit einführenden Bemerkungen versehen und um bibliographische Hinweise ergänzt.
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Sechzig Jahre nach den ersten Bänden zum Begriff der ›Kultur‹ und dreißig Jahre nach dem ›cultural turn‹ stellt das Text-Arrangement nun nicht das ›Neue‹ des Kultur-Begriffs ins Zentrum, sondern das ›Alte‹: die Fundierung der Kulturtheorie in den beiden älteren Disziplinen der Anthropologie und der klassischen Soziologie. Der Schwerpunkt liegt auf Texten, die den Gegenstand der Kultur weniger voraussetzen als hervorbringen, die also eine eigene Vorstellung von dem entwickeln, was heute als Kulturtheorie gelten kann.
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Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat, die gemeinsam mit Thomas Hauschild den Band herausgeben, fassen diese Perspektiven eingangs zu einer Kurzdefinition zusammen. Der Kulturtheorie geht es demnach um die Befragung des »Wirkungszusammenhangs von Kultur und Gesellschaft«, wobei Kultur als relational eigenständiger »Phänomenbereich« aufgefasst wird (S. 10). Als zentrale Dimension durchzieht sie andere Bereiche, etwa das Soziale, das aufgrund von Sinnzuschreibung stets auch kulturell verfasst erscheint.
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Das Kursbuch ist in vier Abschnitte gegliedert. Drei sind mit Begriffspaaren überschrieben: das Heilige und das Profane, Natur und Kultur, das Eigene und das Fremde. Diese Dichotomien strukturieren, so die Begründung, die symbolischen Ordnungen, auf denen die klassischen Kulturkonzepte aufsatteln und auf die sie Bezug nehmen (S. 11). Im Anschluss an die systematische Sortierung nimmt der letzte Teil eine raum-zeitliche Verortung vor. Der Band schließt mit einem Kapitel über die »Herausforderungen der Moderne.«
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1. Heiliger Bimbam
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Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der Unterteilung der Welt in ›heilig‹ und ›profan‹, einem Ordnungssystem, das ab dem Beginn der Moderne von der Kulturtheorie gleichermaßen produktiv wie durchlässig gemacht wurde. Die vier ausgewählten Theoretiker sind grob der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Arnold van Gennep; George Bataille) und der zweiten (René Girard, Hans Peter Duerr) zuordenbar. Während sich die ersten beiden Texte Aspekten der Grenzübertretung widmen, – Schamma Schahadat spricht in ihrer Einführung mit Rekurs auf Viktor Turner von »Liminalität« (S. 18) – rücken in der Wiederentdeckung der Überschreitungskonzepte ab den 1950er Jahren die sozialen Funktionen solcher Rituale in den Vordergrund. Die Nachkriegsethnologie interessiert sich zeitspezifisch für Entstehungszusammenhänge von Gewalt und prägt Begriffe wie ›Opferkrise‹ oder ›Sündenbock‹. Sind mit van Genneps »Übergangsriten« und Batailles »Theorie der Religion« eher klassische Texte gesetzt, ähnlich auch »Das Heilige und die Gewalt« von René Girard, wird mit dem deutschsprachigen »Können Hexen fliegen?« von Hans Peter Duerr auch das Randständige der Disziplin eingeholt.
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2. Wüste Gebiete
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An die verbindende Trennung von Profanem und Sakralem schließt in gleicher Ambivalenz die Gegenüberstellung von Natur und Kultur an. Auch hier zeichne sich die europäische Moderne durch ein »Nebeneinander« aus (S. 17). Thomas Hauschilds einführender Essay kontrastiert in der Folge weniger die Begriffe ›Natur und Kultur‹ als vielmehr ihre wissenschaftliche Beackerung in einer weiterführenden Trennung von Idealismus und Materialismus. Seine kurze Geschichte der Kulturtheorie setzt zwei positive Schwerpunkte: Abi Warburgs Kreuzlinger Rede über das Schlangenritual der Hopi-Indianer, dem es als Einzeltext gelinge, Kulturen »unhierarchisch« zusammenzudenken (S. 93), und, als heterogenes Feld, die kontextuelle Anthropologie der frühen 1970er Jahre mit ihrer »minutiösen Analyse der Lebensbedingungen einzelner Ethnien oder sozialer Gruppen« (S. 94). Ambivalenter werden dagegen die drei abgedruckten Texte taxiert. Claude Lévi-Strauss »Geschichte von Asdiwal,« die (hier in etwas staksiger Übersetzung) den Fokus auf erzählerische Binär-Strukturen legt, und Sherry Ortners De-Konstruktionen binomischer Geschlechterordnungen sind in der Einführung durch einen »sich immer weiter ausbreitenden Konstruktivismus«-Vorwurf verklammert (S. 96). Bruno Latours ethnografische Beobachtungen im wissenschaftsanthropologischen Essay »Wir sind nie modern gewesen« gewinnen dann wieder an Boden, wo sie, Hauschild will es so, in Figuren der Umkehrkolonisation an Marx anschließen dürfen. Dieser Einblick in die jüngere Theorie der Wissenschaftskultur, hier vertreten durch Latour, erweitert aus aktueller Perspektive das Spektrum vorangegangener, kulturtheoretischer Textsammlungen – etwa des von Ralf Konersmann herausgegebenen Bandes Kulturphilosophie von 1996.
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3. Verfremdungsmomente
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Mit der Schwerpunktsetzung auf ›das Eigene und das Fremde‹ bemüht auch der dritte Teil eine Dichotomie, die in den kulturtheoretischen Debatten bereits »an Erklärungskraft verliert« (S. 159). Das Fremde ist analog zu den bereits verhandelten Begriffspaaren Natur und Kultur nur auf der Folie des Eigenen denkbar und stets relational darauf bezogen. Zu Beginn der Moderne kommt der Unterscheidung gerade darum eine epistemische Funktion zu. Als »neue Form der Erkennbarkeit« (S. 152) strukturiert sie Wissen und Wahrnehmung der europäischen Moderne. Die vier ausgewählten Texte werden von Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat unter drei Gesichtspunkten vorgestellt, die auf je unterschiedlichen Ebenen lagern: Erstens geht es um Erfahrungen des ›Exotischen‹, die von reisenden Autoren produktiv gemacht wurden. Grenzgängerische Ethnologen wie Bronisław Malinowski und Fritz Kramer entwickeln aus einer Perspektive »jenseits der objektiven Beobachterposition« in den abgedruckten Aufsätzen die Problemstellungen einer selbstreflexiven Ethnologie. Zweitens werden künstlerische Verfahren von Verfremdung verhandelt. Das heißt, das Fremde wird als ästhetisches Instrument verstanden, das ein Zutagetreten beziehungsweise Sichtbarwerden der Alltagskultur (etwa im Kino) zuallererst ermöglicht. Drittens tritt der Fremde als Randfigur der Stadtsoziologie in Erscheinung. Bei Albert Camus oder Michel Houellebecq, auf die allerdings nur in der Einführung verwiesen ist, wird er in literarischer Form aufgefunden. Unter allen genannten Aspekten scheint der Zusammenfluss von ethnographischen und literarischen Verfahren (etwa in der Literaturanthropologie) ein konstanter Drehpunkt dieses Buchteils. Mit Marcel Mauss’ »Gabe«, Malinowskis »teilnehmender Beobachtung« und Clifford Geertz’ »dichter Beschreibung« liefert er hierfür zentrale Begriffe und stellt sie ins Verhältnis zu nun schon bekannten Autoren wie Claude Lévi-Strauss oder Georges Bataille.
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4. Modernes Sortiment
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Lichter, Nerven, Film und U-Bahn: der letzte Teil des Bandes spielt noch einmal das Inventar der klassischen Moderne durch. Dazu gehört die Herausbildung neuer Gesellschaftsphänomene, die unter dem Begriff der Kultur firmieren: Stadtkultur, Jugendkultur, Freizeit- und Konsumkultur. Die Kulturtheorie der frühen Moderne wendet sich diesen neuen Verhältnissen mit Blick auf die veränderte Sozialstruktur zu. Während Siegfried Kracauer unter den Beschäftigten seine »Angestelltenkultur« (S. 257) ausmacht, verhandelt Georg Simmels Essay »Die Großstädte und das Geistesleben« bekanntermaßen übergreifend die Subjektkonstitution unter den Bedingungen der Großstadt. Sigmund Freuds »Schwierigkeit der Psychoanalyse« verbindet die Frage nach dem Subjekt mit der anthropologischen These der Kränkung, dem modernen Topos der Subjektkritik. Mit Medien, Masse und der ›neuen Frau‹ ist zusätzlich in Stichpunkten aufgerufen, was zugleich als »Resultat der Modernisierung« wie als »Modernisierungsfaktor« (S. 232) gelten kann. Dass der jüngere Text von Pierre Bourdieu »Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – und soziales Kapital« eigentlich nicht diesem klassischen Sortiment zugehört, wird in Dorothee Kimmichs Einleitung mit Verweis auf die Nutzbarkeit seiner soziologischen Kategorien für die Kulturanalyse relativiert. Infolge der Textanordnung wird manch ein Studienanfänger nach der Lektüre Bourdieu neben Freud in die frühe Moderne ordnen. Für diesen Fall gibt es aber das kleine, graue Merkkästchen, das unter jedem Text die Lebensdaten und Fakten der Autoren ›einkastelt‹, um solcher Fehldeutung entgegenzuwirken.
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5. Abfragbares Wissen
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»Das beste Maß für kulturelles Kapital ist zweifellos die Dauer der für seinen Erwerb aufgewendeten Zeit« schreibt Pierre Bourdieu (S. 281). Bedeutet es folglich einen Kapitalverlust, sich den Kulturtheorien im Schnellzugriff zuzuwenden? Der einführende Band hat das Ziel, einen »fokussierten« Einstieg zu ermöglichen. Er legt daher die Texte in gekürzter Form vor, behutsam zusammengestutzt, mit ausgedünnten Fußnoten und anständig markierten Auslassungen. Diese ausdauernden Interpunktionen, die den Band gewissenhaft durchtackern, bedeuten der Studienanfängerin, dass es jenseits der Kurzfassungen weitergeht. Zum Teil gelingt es den Einführungen, diesen ausgelagerten Rest wieder hineinzuspielen; zum Teil resultiert der Versuch aber auch in noch sperrigerer Sortierung. Dann werden in eigener Sache ungeklärte Begriffe eingestreut, zu denen die Texte der gewählten Autoren wiederum quer stehen. Schlimm ist das nicht. Wer Kulturwissenschaften studiert, hat sich schließlich schon eingelassen auf den Deal der Verunsicherung. Wenn im griffigen Format des Readers nicht alles gleich zur Hand ist, schmälert das nicht den Wert eines Buches, das grundsätzlich Unauffindbares wieder zugänglich machen will, lesbar und gegenwärtig.
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Solche Neuauflage bedeutet zugleich ein vorläufiges Ende der vergilbten Ausgaben, die sich im ersten Semester nicht fanden und dann nur auf französisch und in falscher Edition. Die Verpeilung in der Bibliothek fällt mit einem Reader weg – das staunende Befremden über die Werkausgaben mit ihren zehn Bänden und komplexen Inhaltsverzeichnissen. Der Reader ist irgendwie cleaner, aber auch kompatibel für eine Situation, in der das desorientierte Rumstehen vorm Regal der Studentin nicht gegönnt wird. Orientierungswissen für eine Disziplin, der es immer auch um Phänomene der Zerstreuung ging: Das steht im Widerspruch zur Kulturtheorie, wie es zu ihr passt.
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