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Gliedern und auslassen. Bedeutungsräume und literarische Verwendung von Satzzeichen.

Handbuch oder Dokumentation?

  • Alexander Nebrig / Carlos Spoerhase (Hg.): Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik Neue Folge 25) Bern u.a.: Peter Lang 2012. 456 S. zahlr. s/w und farb. Abb. Broschiert. EUR (D) 81,40.
    ISBN: 978-3-0343-1000-0.
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Von Friedrich Kittler haben wir gelernt, dass es keine Software gibt. Das mag durchaus hingehen, aber die Behauptung hat ihre Tücken. Sie gilt nur für jene, die die Software aufgrund ihrer Kenntnis der Hardware ohnehin durchschauen, für sie ist Software ein transparenter Teil der Hardware. Das gilt mutatis mutandis auch für die Technologie Schriftsprache.

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Zeichen zu setzen muss aber erst einmal gelernt werden, und das ist kein triviales Unterfangen. Regeln müssen erlernt werden, ein Umgang mit Zeichen und ihrer vorgesehenen bzw. konventionalisierten Verwendungsweise muss erarbeitet werden. Hat der Schriftspracherwerb diese Basis gelegt, so eröffnet sich eine Vielzahl an Möglichkeiten, das zur Verfügung stehende Zeichenrepertoire zu verwenden, auch gegen seine konventionalisierte oder kodifizierte Anwendung. Für den Spezialfall der Interpunktion gilt dabei: Mit einigem Geschick und Beharrlichkeit lässt sich, abhängig von den je gültigen Konventionen, mit ihrer Hilfe ein eigener Stil erzeugen.

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So ließe sich das zusammenfassen, was den Beiträgen des vorliegenden Bandes als Erkenntnisinteresse gemein ist.

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Die Untersuchung von Geschichte, Form und Funktion der nur oberflächlich betrachtet unscheinbaren Zwischenzeichen war Gegenstand einer Ringvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin im Sommersemester 2011, deren Beiträge den Hauptteil des zu besprechenden Band ausmachen.

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Der Band möchte aber noch mehr sein als die Dokumentation einer Ringvorlesung, denn drei »klassische Studien der Interpunktionsstilistik« werden dem Leser vorweg mit an die Hand gegeben: Theodor W. Adornos »Satzzeichen«, Hans-Georg Gadamers »Poesie und Interpunktion« sowie die Einleitung zu Jürgen Stenzels Studie »Zeichensetzung«. 1 Auch suggeriert der bestimmte Artikel im Titel »Die Poesie« ein finites Wissen über die Vielzahl von Verwendungsweisen »der Interpunktion«.

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Den so entstandenen Handbuchcharakter unterstützt die – allerdings unvollständige und in ihrer Auswahl willkürlich erscheinende – tabellarische Übersicht über verschiedene Interpunktionszeichen (und andere Symbole), die auf zweieinhalb Seiten zu Beginn des Anhangs das Disparate des Bandes ausbügeln zu wollen scheint. Die äußerst nützliche und umfangreiche Bibliographie erfüllt diesen Zweck deutlich besser.

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Aus dieser Anlage ergeben sich zwei Möglichkeiten der Lektüre: Die eine liest ein Handbuch als Summa des Wissens über ein Phänomen, die andere einen Sammelband als Dokumentation verschiedenartiger Einzelbeiträge – und je nachdem legt sie unterschiedliche Maßstäbe an.

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Beide Anläufe sind gleichermaßen reizvoll, und bei beiden gewinnt der Leser Erinnerungen an Bekanntes gleichermaßen wie Entdeckungen neuer Felder.

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Mit der Entscheidung, das Titelbild, Richard Galpins »Punctuation From Samuel Beckett’s ›Endgame‹«(1999), durch den Beitrag von Jörg Trempler nicht unkommentiert für sich stehen zu lassen, eröffnen die Herausgeber neben den skizzierten intradisziplinären Herangehensweisen auch noch einen dritten Schauplatz, den der (Satzzeichen in der) Kunst, der danach allerdings aus dem Blickwinkel gerät.

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Punkte lesen: die Studien

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Die Einleitung der Herausgeber eröffnet das Diskussionsfeld, indem sie einen Systematisierungsvorschlag macht, der zum Ziel hat, Interpunktion als stilistisches Phänomen begreif-, d.h. nach ihrer Funktion klassifizierbar zu machen: »Denn es kann nicht bloß darum gehen, im Rahmen der Beschäftigung mit literarischen Texten nun auch auf unspezifische Weise den Satzzeichen etwas Aufmerksamkeit zu widmen« (S. 14).

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Mit einprägsamen Beispielen, die sich thematisch erfreulicherweise kaum mit den im Band versammelten Beiträgen decken und nicht nur damit das Feld programmatisch erweitern, gehen Nebrig und Spoerhase von einer viergliedrigen Typologie aus: Die »Grammatostilistik« der Interpunktion legt den Schwerpunkt auf die Text- und Satzgliederung beim Schreiben und Lesen sowie beim Edieren, die »Phonostilistik« geht stärker vom gesprochenen/gesungenen Wort, von Rhythmus und Satzmelodie aus, die »Ikonostilistik« berücksichtigt jene Fälle, in denen Satzzeichen bildliche Funktion übernehmen oder zu Ideogrammen werden, und die »Ethostilistik« betont »die Herstellung einer Sprecherpräsenz durch Interpunktionsgesten« (S. 29), was kein phonetisches, sondern ein Problem der Imagination sei. Die Antwort auf die Frage, ob diese vier »stilistischen Hinsichten« (S. 16) als trennscharfes Analysewerkzeug taugen, steht noch aus, werden sie doch an keiner weiteren Stelle des Bandes weiter erwähnt.

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Mit Gertrude Steins Diktum, dass manche Interpunktion interessanter sei als andere, begründen die Herausgeber den Bedarf an einer Stilistik der Interpunktion.

[14] 

Der erste Aufsatz (Lutz Danneberg: »Das perforierte Gewand: Geschichte und hermeneutische Funktion von dictinctiones, partitiones und divisiones«, S. 89–132) denkt Interpunktion nicht von ihrer schriftmateriellen Erscheinung, sondern von ihren Gründen, allem voran den Sinneinschnitten her, die sie in der Geschichte des Schreibens, der Lektüre und ihrer Methoden notwendig machten, welchen wir auch die Namen mancher Satzzeichen verdanken (comma, colon, periodos). Die Voraussetzung für das Interpungieren ist das Zergliedern mit dem Ziel, den Text zu verstehen. Die Entwicklung der Textpraxis Interpunktion zeichnet Danneberg von der Antike bis ins Frühmittelalter nach, wobei Ausläufer bis ins 17. Jahrhundert reichen.

[15] 

Ähnlich, und teilweise mit denselben Beispielen nimmt Hans-Jürgen Scheuer (»Die Zeichensetzung ist eine Frau namens Eleonore. Aus dem Imaginarium der vormodernen Interpunktion«, S. 133–156) das Phänomen in den Blick; die bei ihm titelgebende Behauptung besteht darin, dass in der Steinhöwel-Übersetzung von Boccaccios »De claris mulieribus«, die um 1474 in Ulm bei Zainer gedruckt wurde, das letzte Kapitel »Was die puncten bedüten und wie man darnach lesen sol« als Höhepunkt des Frauenlobs die Interpunktion zu lesen sei: Die Widmung an Eleonore von Österreich widerspräche so nur scheinbar dem Faktum, dass der Widmungsempfängerin kein eigener Abschnitt gewidmet ist. Die gegebenen Transkriptionen sind redundant insofern, als die Reproduktionen aus der Inkunabel (leider ist davon nur eine einzige farbig abgedruckt) wesentlich besser lesbar sind. Die letzte Abbildung scheint den Schlüssel zu liefern: »Geendet seliglich zů Vlm/von Johanne zainer von Rütlingen« – ist das letzte Kapitel nicht vielleicht ein »Werk des Druckers«? 2

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Andrea Polascheggs Beitrag (»Ausdruckskunst! Satzzeichen als Indizien des Affekts in Ode und Briefroman des 18. Jahrhunderts«, S. 157–182) nimmt die »Emoticons des 18. Jahrhunderts« in den Blick, als welche insbesondere Gedankenstriche und Ausrufungszeichen einen Boom erleben. Dass diese »sowohl eine spezifische Gattungs-, als auch eine besondere Epochensignatur« (S. 160) tragen, führt Polaschegg mit Ode und Briefroman vor. Goethes »Werther« liest sie mit Aufmerksamkeit auf die Satzzeichen an einem Faksimiledruck der Erstausgabe, wobei kleine Unsauberkeiten unterlaufen (die weiten Spatien nach Satzende sind kein auktoriales Mittel der Verdeutlichung von Interpunktion [S. 171], sondern üblicher Satzbrauch – bei Weygand und anderswo). Der Clou des Beitrags ist jedoch, den Briefroman mit der Ode zu verschalten: Gemeinsam haben sie das Abbrechen in und das Ersetzen von Nichtsagbarem, und von Konjunktionen, durch Satzzeichen: So werden sie zu »Leitgattungen der ›Ausdruckskunst‹« (S. 180).

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Mit funktional ganz anders gelagerten Satzzeichen beschäftigt sich der Beitrag von Ethel Matala de Mazza (»Asteriske und Oberbeistrichlein. Über Fehlanzeigen in Herders und Goethes Volkspoesie«, S. 183–202): Titelgebend sind jene Zeichen, die »vor allem markieren, was stumm bleibt, was also nicht zu lesen ist.« (S. 184) Das Beispiel ist der Umgang Herders und Goethes mit der Sammlung von Volksliedern, besonders hervorgehoben ist die Entstehungsgeschichte des kanonisch gewordenen Goethe’schen »Heideröslein«. Es zeigt sich, dass die Verwendung von * und ’ der schon vor 1771 gültigen Konvention genügt: Beide sind Zeichen für Auslassungen. Der Modus der Sammlung selbst, der diese editorischen Markierungen erst bedingt, bleibt nur kurz angedeutet, dafür wird der Apostroph bei Matala de Mazza zur Schwundstufe des Volks:

[18] 
Während die einleitenden Es und Das in Goethes Lied spurlos in der Leere der Versanfänge verschwunden sind, bewahrt der Apostroph in der besagten Gedichtzeile [»’s Röslein auf der Heiden«, Anm. S.K.] die Reminiszenz an das Volk, das hinter diesem Zeichen für fehlende Zeichen mitverstummt ist. (S. 200)
[19] 

Den ganzen Kleist in einem Komma-Aufsatz verspricht der Titel von Ralf Klausnitzers Beitrag »›(die Schriftgelehrten mögen ihn erklären)‹. Zum Kommagebrauch des Heinrich von Kleist« (S. 203–238); ein gewagtes Unterfangen angesichts der Fehden, die nicht nur in der Editionsphilologie zum Thema ausgefochten wurden und werden. 3 Nach einem Überblick über die Editionspraxis in Bezug auf das Komma geht Klausnitzer auf Texte, Schreiben und Schrift im Text ein und liefert Interpretationen von »Der Griffel Gottes« und »Das Bettelweib von Locarno« (beide zuerst in den »Berliner Abendblättern«). Die Maximierung der Kommasetzung – Ernst Osterkamp nennt Kleist in seinem darauffolgenden Beitrag einen »Kommafetischisten« (S. 244) – eröffnet mehrdeutige Lektüren auch in Hinblick auf die soziale Stellung der handelnden Personen zueinander, und das Komma fungiert als Brücke zwischen bei näherer Betrachtung disparaten Einzelteilen.

[20] 

Ernst Osterkamps »Drei Punkte. Capriccio über ein Ärgernis« (S. 239–258) nimmt seinen Ausgangspunkt beim gegenwärtigen Feuilleton und zeichnet polemisch die Geschichte der Auslassungspunkte nach. Der Gedanke und der Gedankenstrich, der ihn markiert oder ersetzt, sei im 18. Jahrhundert vorherrschend gewesen, um im 19. Jahrhundert, ausgehend vom Drama, von seiner Auslassung, von den Auslassungspunkten verdrängt zu werden. Von Kleist zu Victor Hugo und Georg Büchner, vom Naturalismus zu Fontane, Schnitzler und Joyce, von Gutzkow (dem quantitativen Höhepunkt der Auslassungszeichensetzung im »Zauberer von Rom«) zu Nietzsche, Rilke und Celan reicht der weite Bogen, den Osterkamps unterhaltsame Blütenlese spannt: Fast überall geht es um »Bedeutungserschleichung« (S. 257) durch drei oder mehr Punkte …

[21] 

Ebenfalls mit willkürlichen Auslassungen befasst sich der Beitrag von Joachim Rickes: »(Anstands-)Striche in Heinrich Heines Gedicht ›Beine hat uns zwei gegeben / Gott der Herr‹« (S. 259–274). Er liest ein wenig beachtetes Gedicht Heinrich Heines und geht insbesondere ein auf die Editionsgeschichte des Texts. Von Heine gesetzte auktoriale und nachträglich editorial hinzugefügte Anstandsstriche (auch: »Schicklichkeitsstriche«, durch Gedankenstriche markierte Auslassungen anstößiger Textteile) und ihre Überlieferung stehen im Zentrum. Es erweist sich, dass der Viertelgeviertstrich konkurrierende Bedeutungen denotieren kann: Er fungiert eben nicht nur als Anstandsstrich, sondern darüber hinaus auch als Markierung lückenhafter Überlieferung wie der Asterisk. Die daraus resultierende Verwirrung kann Rickes nachvollziehen und auflösen, obwohl »offenbleiben [muss], welche bedenklichen, vermutlich sexuellen Anspielungen Strodtmann und andere an dieser Stelle von ›Beine hat uns zwei gegeben‹ vermutet haben« (S. 269).

[22] 

Joseph Vogls Beitrag (»Der Gedankenstrich bei Adalbert Stifter«, S. 275–294) setzt an bei der scheinbar einfachsten Geste der Markierung, dort, wo das Schreiben seinen Ausgang nimmt: beim Strich, 4 der Schrift als Gedankenstrich aber auch zu reduzieren vermag: »Mit ihm wird die Sprache zur reinen Graphik verwandelt, in ihm, in seiner Unlesbarkeit, wird die Schriftlichkeit der Schrift selbst lesbar« (S. 277). Adalbert Stifter setzt im »Nachsommer« Gedankenstriche sehr sparsam ein, und Vogl zeichnet nach, wieso das so sein könnte: Von der Erzählung »Der Condor«, wo an einer Bruchstelle des Textes ein Gedankenstrich zentral ist (den Vogl »als Metapher der Lesbarkeit« liest, S. 280), zu ihrer Bearbeitung in der »Studien«-Fassung, wo Stifter den Gedankenstrichen an Signifikanz nimmt, zeichnet Vogl eine Poetik des Rückbaus der Satzzeichen an, die in den »Nachsommer« führt.

[23] 

Stefan George ist in puncto Zeichensetzung eines der prominenteren Beispiele für das frühe 20. Jahrhundert (»Partisan der Zeichensetzung«, S. 316). Die eigenwillige und gegenüber dem Standard reduzierte Interpunktion seiner lyrischen Texte sorgt gemeinsam mit der Kleinschreibung und der mitunter von der Norm abweichenden Schreibung für Effekte der Besonderheit, die George in den »Blättern für die Kunst« (durch Auswahl und Vereinnahmung, dazu S. 302 f.) programmatisch begründet und entwickelt, und die durch die ab 1904 für den Druck verwendete St.-G.-Schrift unterstützt werden. 5 Der Beitrag von Steffen Martus (»Stefan Georges Punkte«, S. 295–327) erfasst Georges Schriftprogramm mit dem dazugehörigen Sozialprogramm schlüssig als ein Problem. Dass dieses mit einer Ökonomie der Aufmerksamkeit zusammenhängt, ist eine berechtigte und von der rezenten Forschung untermauerte Annahme; ob Georges Suche nach und Anregung von »Unterschiedlichkeitsempfindlichkeit« (Simmel, zit. S. 327) tatsächlich allein der Großstadt, und eigentlich Berlin geschuldet ist, wie Martus meint (ebd.), vermag der Rezensent nicht zu entscheiden. Der Beitrag ist eine dichte, genaue und luzide Zusammenfassung des Forschungsstandes zu Georges Interpunktion und darüber hinaus (etwa die Klassifikation der möglichen Funktionen des Punktes S. 305 f.), für die alleine die Lektüre des Bandes lohnt.

[24] 

Die drei im »Grundlagen«-Teil abgedruckten Klassiker der Interpunktionsforschung betreffend ist in den Studien eine Schlagseite hin zu Theodor W. Adornos »Satzzeichen« (1956) zu konstatieren. Deutlich wird das auch dadurch, dass diesem Text eine Einzelstudie gewidmet ist, nämlich jene von Michael Kämper-Van den Boogaart (»Nachgelesen!!! Adorno ausgeBECHERt: Zur Lektüre expressionistischer Ausrufungszeichen«, S. 329–344). Sie untersucht Adornos Beispiel für die Geschichtlichkeit der Satzzeichen, für welche dieser die Häufung der Rufzeichen im deutschen Expressionismus aufruft, wohingegen sie seitdem unerträglich geworden seien, 6 und führt im Hinblick auf Johannes R. Becher, der die Bezeichnung »bedeutendste[r] Virtuose des Ausrufungszeichens« erhält (S. 334), und mit einem Exkurs zu den Positionen des Futurismus gegenüber der Interpunktion, vor, dass weder die Programme beider -ismen in sich stimmig gewesen seien, noch wäre das etwa bei Marinetti geäußerte Diktum von der Erhöhung der Geschwindigkeit durch Ausrufezeichen lesephysiologisch haltbar. Davon bleibt nicht viel übrig.

[25] 

Intensive und genaue Lektüren einiger Gedichte und ihrer Gedankenstriche liefert Ulrike Vedder mit »›Verhoffen‹: Gedankenstriche in der Lyrik von Ingeborg Bachmann, Nelly Sachs und Paul Celan« (S. 345–361), zugleich aber auch eine Einführung in eine Personenkonstellation im Mai 1960, als Nelly Sachs anlässlich der Verleihung des Droste-Preises an sie das erste Mal nach ihrer Flucht 1940 Deutschland betrat und sowohl Bachmann als auch Celan zu diesem Anlass nach Meersburg reisten. Drei Abschnitte widmen sich jeweils Bachmann, Sachs und Celan, der vierte klärt über das »Verhoffen« auf (Jägersprache: Lauschen bzw. Wittern des Wildes, bei Celan Zusammenführung von Hoffnung und vergeblicher Hoffnung, S. 360) und fügt die vorangegangenen Teile zusammen. Ellipse, Nachhall, Pause, Bruch, Spiegelung, Innehalten werden in den besprochenen Gedichten durch den Gedankenstrich markiert, und der Gedankenstrich stellt »– bei allen Differenzen – immer auch eine Barriere« gegen »ein allzu schnelles vereinnahmendes, ja versöhnliches Verstehen« dar (S. 361), wird also zu einem Warnzeichen.

[26] 

Mit einem in Hinblick auf Satzzeichen dankbaren Autor befasst sich Erhard Schütz in seinem Beitrag »Der Einzige und die Typenwirtschaft. Satz- und andere Zeichen bei Arno Schmidt« (S. 363–384). Das Schreibwerkzeug, die Schreibmaschine, die vor allem für die späten Romane in der Forschung einige Aufmerksamkeit erfahren hat, 7 tritt hier zugunsten der damit erzeugten Interpunktion zurück. Was auch als persönliche Abrechnung mit dem Bargfelder und seiner Poetik aus den »Berechnungen« beginnt, nimmt mehrere Anläufe und versucht die Interpunktionspraxis Schmidts zu klären, was aber aufgrund der nicht immer einheitlichen oder der von Schmidt formulierten Poetik folgenden Zeichensetzung nicht für das Gesamtwerk ein für alle Mal möglich zu sein scheint.

[27] 

Der Beitrag »›und sie, das Kind das ich war‹. Satzzeichen und Zeichensetzung bei Uwe Johnson. Stichproben« (S. 385–405) von Roland Berbig schlägt gegenüber den fast zu erwartenden Autoren (Kleist, Schmidt, George) das Werk von Uwe Johnson als Untersuchungsgegenstand interpunktionsstilistischer Analysen vor. Ähnlich wie es Vogl anhand von Stifter gezeigt hat, zeichnet Berbig eine Veränderung in der Satzzeichenverwendung nach. Bei Johnson bleiben manche Eigenheiten von »Mutmassungen über Jakob« (1959) 8 bis zu den »Jahrestagen« (4 Bde. 1970–1983) erhalten, Johnson passt allerdings seine Interpunktionsweise für das große Erzählwerk den geltenden Konventionen stärker an als in früheren Texten, sodass die Zeichensetzung in ihre »dienende« Rolle gegenüber der Erzählung zurücktritt (S. 403 f.). Berbigs Beitrag findet zu Beginn kritische Worte für das eigene Unterfangen, und damit jenes des gesamten Sammelbandes:

[28] 
Welcher Grabensprung ist vorzunehmen, um von einem syntaktischen Sachverhalt (oder dessen Unterlassung) zu einem Befund von Poesie zu gelangen? (S. 386)
[29] 

Zugleich liefern Berbigs »Stichproben« aber auch einen runden Überblick vermutlich über alles, was man wissen muss über Satzzeichen bei Uwe Johnson.

[30] 

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht klassifiziert der letzte Beitrag des Bandes, Norbert Fries’ »Spatien oder Die Bedeutung des Nichts« (S. 407–428), das, was als Nullstelle der Interpunktion zu gelten hat: das Spatium. Bei der gewählten Dreiteilung in »schmales Spatium« (S. 415–418), »Spatium normaler Breite« (S. 419–423) und »breites Spatium« (S. 423–427) fallen zwar für mehrere »Analyse-Domänen« (S. 413) Beispiele ab, die teilweise der Orthotypographie zuzurechnen sind, es bleiben aber auch Unschärfen in den Zwischenräumen: Die Sperrung, ein bekanntes Mittel der Hervorhebung und Textauszeichnung, wird zwar mithilfe von »schmalen Spatien« erzielt, hat aber logisch-syntaktisch nichts mit einem Spatium im Sinne von »Wortzwischenraum« zu tun (S. 416). Das »breite Spatium« verwechselt der Autor mit Einrückung und Spaltenbildung, auch das Figurengedicht bedient sich ihm zufolge »breiter Spatien«. Für die gewählten Kategorien ist Fries’ Beitrag schlüssig, nur erweisen sich die mit ihnen erzielten Ergebnisse als nicht anschlussfähig an die Konventionen des (typographischen) Satzes. Die sinnfälligeren Beispiele fehlen sowohl für das schmale (etwa: Erzeugung von Ambivalenz bei Komposita) als auch für das breite Spatium. Für letzteres wäre die im Gedichtsatz gängige Markierung der Zäsur (im Alexandriner und anderswo, im besprochenen Band ein Beispiel von Stefan George: S. 319–321, Abb. 6 und 7) ein Fall, in dem ein eindeutiger Unterschied zwischen normalem und breitem Wortzwischenraum tatsächlich Sinn (Stichwort »Phonostilistik«) trägt. Anlässlich des abschließenden Beispiels (Handkes »Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968«, in der Abbildung unschön skaliert) wird klar, dass »das Spatium« (das Fries zuvor nur in seiner horizontalen Ausrichtung betrachtet) auch eine vertikale Dimension aufweist, die sich auf diese Weise nicht klären lässt.

[31] 

Fazit

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Beide oben vorgeschlagenen Lektürewege, Handbuch und Dokumentation, sind solche des diskontinuierlichen Lesens. Das Handbuch gerät nach einer initialen Lektüre zum Nachschlagewerk, die Dokumentation oder der Sammelband fordern von vorneherein auswählende Lektüre.

[33] 

Für ein Handbuch ist der 460 Seiten starke Band defizitär, weil die in ihm versammelten Beiträge vorrangig einige wenige Satzzeichen behandeln (in der Reihenfolge der Beiträge, ohne Wiederholung: … – * ’ , ! sowie das Spatium). Nicht ein einziges Mal erwähnt werden die Vorschläge zur Zeichensetzung, die der Rechtschreib-Duden vor dem Wörterverzeichnis gibt und die für so manche Redaktion und so manchen Verlag maßgeblich sind – ein Überblick über die Auflagen gäbe Aufschluss über den Satzzeichengebrauch des deutschsprachigen Raums und seinen Wandel.

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Als Sammelband wartet »Die Poesie der Zeichensetzung« mit einer Fülle an Lektüren auf, die einen Querschnitt aktueller germanistischer Forschung bieten durch methodische Vielfalt und breit gestreute Themenwahl. Die Ergänzung durch den Teil »Grundlagen«, also durch die Texte von Adorno, Gadamer und Stenzel, die mitunter Ausgangs- und Anknüpfungspunkte für die Studien sind, sorgt für Abrundung wie gemeinsam mit dem Exkurs zu Galpins handgemalten Satzzeichen auf Leinwand für eine Erweiterung des Diskussionshorizontes.

[35] 

Beide Schwerpunkte der stilistischen Interpretation von Interpunktion – Gliederung und Auslassung – tragen dazu bei, die im vorliegenden Band der Lektüre unterzogenen Texte besser und genauer verstehen zu können.

[36] 

Festzuhalten ist allerdings die Notwendigkeit, die Erforschung der Satzzeichen mit der Erforschung von Satz und Druck, Technik und Ästhetik der Typographie zu verknüpfen; viele AutorInnen, auch manche der hier besprochenen, haben eine hohe Affinität zum Druckwesen, mitunter haben sie gegenüber dem Leser einen Wissensvorsprung: Es ist ja auch ihr Geschäft, Bücher herzustellen. Unter Hinzuziehung der historisch gültigen Konventionen im Satzbereich, deren Schwundstufe in der heutigen Verwendung von »Innotation« 9 zu erkennen ist, und der reichhaltigen Literatur aus der auch rezenten Typographieforschung, die sich mit den Zeichen der Interpunktion als von typographischen Dispositiven und Konventionen regiertes Repertoire befasst, 10 ließen sich einige Unschärfen vermutlich beseitigen.

[37] 

Für die Einrichtung von Poetikvorlesungen hat die Interpunktionsforschung äußerst dankbar zu sein, diese liefern einen Hauptteil desjenigen Materials, das zum Füllen des Grabens zwischen Syntax und Poesie gut gebraucht werden kann.

[38] 

Über die Phase, in der Germanisten bloß Regeln zur Satzzeichenverwendung aufstellten – was, wie Arno Schmidt meinte, »unzulässige Einmischung seitens der Germanisten« sei 11 – ist die Forschung allerdings weit hinaus. Das dokumentiert der besprochene Band.

[39] 

Post-Scriptum

[40] 

Das Zeitalter Gutenbergs scheint vorbei, zumindest wenn es um die qualitativ hochwertige Wiedergabe schriftlich vorliegender Texte geht. Parallel zu der begrüßenswerten Verbreiterung des Zugangs zu den Mitteln der Distribution entwickeln sich technische Möglichkeiten und das Wissen um ihre adäquate Anwendung auseinander.

[41] 

Wohlfeil kann sich ein Band bei diesem Preis nicht mehr nennen, auch wenn er – als Handbuch und als Dokumentation einer Ringvorlesung – reichlich Material und Wissen in die Bücherregale trägt. Zu dem Preis, und bei einer an den Formen schriftsprachlichen Umgangs interessierten Thematik, ließe sich durchaus mehr erwarten als etwa die folgenden »Punkte« (um nur die herausragenden Monita anzuführen):

[42] 

• durch Skalierung der Garamond-Versalien erzeugte »falsche« Kapitälchen, deren Strichstärke schon im Inhaltsverzeichnis als zu dünn hervorleuchtet

[43] 

• in der Mehrzahl der Fälle kaum lesbare, weil zu kleine Abbildungen

[44] 

• in den Handschriftentranskriptionen (etwa im Beitrag von Scheuer) übernommene Sonderzeichen (langes ſ, z mit Unterlänge, doppelt punktiertes ÿ, Zwie- und Umlaute mit überschriebenen Vokalen und einige weitere), die in Dickte, x-Höhe und druckschriftklassifikatorisch nicht zur Grundschrift des Bandes passen – in die selbe Kategorie fällt die originelle Wiedergabe des Hochkommas bei Stefan George durch ein hochgestelltes Komma (S. 319)

[45] 

• horizontale Satzlücken (mit Norbert Fries’ Beitrag gesprochen etwa »graphematische Varianten eines Spatiums normaler Breite«), die durch sorgfältigeren, über mehrere Zeilen ausgreifenden Zeilenumbruch vermieden werden hätten können

[46] 

• fehlende oder falsche Verweise auf die im »Grundlagen«-Teil abgedruckten Texte (bei Vogl mit Seitenzahl im rezensierten Band, sonst nur mit der Originalpaginierung, die allerdings im Abdruck ebenfalls gegeben wird) bzw. auf Abbildungen

[47] 

• Nachlässigkeiten (nicht vollzogene, aber angemerkte Hervorhebungen, S. 162 Anm. 20; Reste fehlerhafter AutoKorrektur des am weitesten verbreiteten Textverarbeitungsprogramms wie »….« [Ellipsis und Punkt] statt vier Punkten S. 203 u.ö., besonders störend dort, wo es um Auslassungszeichen geht: S. 244 Anm. 5, S. 246; Verwendung von Größer- und Kleiner-Zeichen >/< statt Guillemets ›/‹ S. 364, S. 371, S. 374 [dort auch ein fehlerhafter Zitatbeginn: »Äh=« statt »Ä=«] bzw. »/« S. 370) und zahlreiche offensichtliche Tippfehler.

[48] 

Für all das entschädigt der Band durch die Beigabe eines Registers der behandelten AutorInnen sowie der genannten Werktitel.

[49] 

Trotzdem: Angst vor den Folgen gefährlichen Halbwissens sollte Schuster und Leisten bei einander lassen; die Verlage sind in ihre Pflicht zu nehmen, typographisch zumindest nicht abstoßende Erzeugnisse dem Druck zu überantworten. All dies mag der bewundernswert kurzen Zeitspanne zwischen dem Semester der Ringvorlesung und dem Erscheinen des Sammelbandes geschuldet sein, für eine allfällige zweite Auflage gäbe es aber genug zu tun.

[50] 

Ein weiteres Korrektorat und Lektorat hätte dem Band ebenfalls nicht geschadet, der Rezensent stellt sein annotiertes Exemplar selbstverständlich gerne zur Verfügung.

 
 

Anmerkungen

Theodor W. Adorno, Satzzeichen, in: Gesammelte Werke Bd. 2. Frankfurt am Main 1974, S. 106–113, Hans-Georg Gadamer, Poesie und Interpunktion, in: Gesammelte Werke. Tübingen 1961, IX, S. 282–288, Jürgen Stenzel, Zeichensetzung. Stiluntersuchungen an deutscher Prosadichtung. (Palaestra, Bd. 241.) Göttingen 1966, S. 7–21.   zurück
Bei einer anderen berühmten Inkunabel hat das versuchsweise ausgeführt: Leonhard Schmeiser, Das Werk des Druckers. Untersuchungen zum Buch Hypnerotomachia Poliphili. Maria Enzersdorf 2003.   zurück
Nicht nur das Komma ist Thema, auch Einrückungen (»Zeilenlücke«, S. 212) werden mitgelesen. Dass der Abstand zwischen dem Namen der Sprecherin und dem Schlussausruf Alkmenes in »Amphitryon« die Distanz zwischen diesem »Ach!« und seiner Sprecherin sowie »die Grenze zum Verstummen« markiere (ebd.), kann nur pointiert behaupten, wer erstens den Satzbrauch der Zeit – der den Blankvers topographisch auch über Zeilenbrüche hinweg durch Einzug andeutet – und zweitens die Tatsache beiseite schiebt, dass Kleist das Stück nicht selbst herausgab (was drei Seiten darauf geschrieben steht).   zurück
Zu den Möglichkeiten beim Ziehen des Strichs vgl. Gerrit Noordzij, The Stroke: Theory of Writing. Übers. v. Peter Enneson. London 2005.   zurück
Dass für diese anhand der Drucke mehrere Überarbeitungsstufen nachweisbar sind, ist für die Interpunktion wenig relevant, nur in einem Fall, in dem die St.-G.-Schrift erst ab der Fassung von 1907 überhaupt ein Hochkomma statt eines Hochpunkts aufweist, wäre diese Differenzierung dennoch hilfreich (S. 301): Hochpunkt und Hochkomma stehen in der Gesamtausgabe 1927ff. in einzelnen Bänden nebeneinander.   zurück
Adorno, Satzzeichen (wie Anm. 1), S. 107f., im vorliegenden Band S. 56f.   zurück
Eine abgebildete Orga-Privat-Schreibmaschine Arno Schmidts steht als pars pro toto unkommentiert dafür ein (S. 382), wobei zu ergänzen wäre, dass bereits 1930 ein Roman mit einer Maschine dieses Herstellers im Titel erschien: Rudolf Braune, Das Mädchen an der Orga Privat: Ein kleiner Roman aus Berlin. Frankfurt am Main 1930.   zurück
Der bei diesem Text als besonders hervorgehobene Gebrauch des Viertelgeviertstrichs als Aufzählungszeichen resp. Anführungsstrich zu Beginn einer Textpassage an Stelle von »Gänsefüßchen« (S. 394, wieder S. 404 zu »Jahrestage«) ist zwar nicht sehr häufig anzutreffen, aber Johnson schreibt sich damit in eine bestehende Tradition ein.   zurück
Gerard Unger, Wie man’s liest. Sulgen 2008, S. 194 führt aus der Sicht des Typographen und Buchgestalters »Innotation« als seinerseits leider unscharfen Überbegriff für das nichtalphabetische Material für den Satzvorgang ein.   zurück
10 
Der vielzitierte Begriff des »typographischen Dispositivs« stammt aus Susanne Wehde, Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 69.) Tübingen 2000, S. 119f.; dort auch Überlegungen zu einzelnen Satzzeichen S. 99–101.   zurück
11 
Arno Schmidt, Berechnungen. In: Bargfelder Ausgabe. Zürich 1986f. Bd. III/3, S. 103, zit. hier S. 367.   zurück