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Fast pünktlich zum einhundertjährigen Jubiläum der bis heute umstrittenen Entdeckung des Nordpols durch Robert Edwin Peary erschien 2010 ein von Literaturwissenschaftlern der Universität Tromsø herausgegebener englischsprachiger Sammelband über Arktische Diskurse. Er ergänzt die umfangreichen personen-, ereignis-, faszinations- und wissensgeschichtlichen Studien zur Arktisforschung um einige wichtige, bisher kaum beachtete Aspekte. Denn, obwohl sich die jüngere Forschung vereinzelt auch mit symbolischen, narrativen und medialen Aspekten vergangener Nordpolexpeditionen und gegenwärtiger Kulturproduktion über den hohen Norden beschäftigte,
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steht eine Diskursgeschichte des Polaren in Kunst und Literatur bislang aus.
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Wie die Herausgeber/innen betonen, befindet sich das Feld der Arctic Literary Studies
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gerade erst im Entstehen (S. IX), obgleich Literatur über die Arktis im Rahmen einer langanhaltenden westlich-europäischen Interaktion mit dem »Norden« schon früh eine bedeutende Rolle spielte. Die Pol-Entdecker nutzten dezidiert literarische Präsentationen nicht nur als Teil ihrer nachträglichen Selbstdarstellung, sondern auch als vorbereitende Forschungsliteratur, die eine Annäherung und den Zugang zu den unbetretenen Gebieten überhaupt erst ermöglichte. Literarische Texte waren zudem wichtige Reisebegleiter, die aufgrund ihres Unterhaltungsfaktors die Überwinterungen im Eis erträglicher machten und zugleich wichtige Informationen über die Lebensbedingungen in arktischen Regionen und deren Einwohner lieferten.
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Die besondere Anziehungskraft von arktischer Literatur sehen die Herausgeber/innen darüber hinaus in deren prekärem Status zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Romantik und Post-Romantik, einer utopischen und dystopischen Dimension sowie ihrem Schwanken zwischen Erhabenheit und Schauerromantik (S. X). Eine Beschäftigung mit Texten über den Norden verspricht demnach nicht nur eine Reihe neuer Aufschlüsse über geschichtliche, gattungsspezifische und ästhetische Aspekte von Literatur, sondern auch imaginations- und wissensgeschichtliche Beiträge zur Arktisforschung.
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Übergreifend beschäftigen sich alle Beiträge mit der Frage, wie sich die Zirkulation arktischer Symbole (signs) durch verschiedene Genres und Kulturen vollzieht. Als Gegenstand fungieren dabei nicht nur bekannte Expeditions- und Reiseberichte seit dem 19. Jahrhundert, sondern auch Auseinandersetzungen mit dem Norden in historischer und zeitgenössischer Literatur und Musik. Außerdem werden ›Diskurse‹ und ›Gegen-Diskurse‹ der Inuit selbst mit einbezogen.
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Grenzüberschreitungen: Das Spektrum der Beiträge
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Die breite Auswahl der Quellen und die Multiperspektivität des Forschungsprogrammes macht eine wesentliche Stärke des Bandes aus: Die in Kapitel aufgeteilten, insgesamt fünfzehn Beiträge sind sowohl international und interdisziplinär als auch genreübergreifend angelegt. Die Beiträger/innen kommen aus Skandinavien, Deutschland, Großbritannien und Kanada. Ihre wissenschaftlichen Kompetenzen umfassen neben Literaturwissenschaft Komparatistik, Kultur-, Politik- und Wissenschaftsgeschichte sowie Musikwissenschaft. Das Untersuchungsfeld erstreckt sich von britischen, norwegischen, dänischen und russischen Reiseberichten des 19. und 20. Jahrhunderts über westliche und indigene Polar-Fiktionen bis hin zu moderner Musik, welche durch Inuit-Poesie beeinflusst ist.
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Die Diversität der Textsorten, Gattungen und Genres ist beeindruckend: Neben Reiseerzählungen treten Kriminalroman und gothic horror novel, lyrische Texte und Oper sowie kanadische Regierungsdokumente. Ganz abgesehen davon, dass bisher kaum ein Sammelband zur internationalen, historisch wie zeitgenössischen literarisch-ästhetischen Auseinandersetzung mit der Arktis vorliegt, stellt die Einbindung künstlerischer Produktionen von Arktisbewohnern ein vielversprechendes Herangehen dar, denn es lenkt den Blick auf indigene Diskurse, welche den westlichen Zuschreibungen relativierend gegenüber stehen.
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Entdeckung und Imagination der Arktis – eine problematische Gegenüberstellung
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Der Band ist in zwei Teile untergliedert: »Discovering the Arctic« und »Imagining and Reimagining the Arctic«. Während der erste Teil Beiträge über sogenannte authentische Arktiserfahrungen in historischen Reiseberichten versammelt, konzentriert sich der zweite Teil auf fiktionale Texte und musikalische Produktionen. Eine solche Systematisierung geht davon aus, dass eine klare Abgrenzung zwischen »authentisch-realer« Erfahrung des Nordens und konstruierten fiktionalen, imaginierten beziehungsweise ästhetisierten Szenarien möglich sei. Entsprechend stellt sich der Band die Aufgabe, »to ask the question of the function of genre and of different genres in the interplay of reality and figurality which is so central to approaching the unknowns and ›imagineds‹ of the Arctic« (S. XII-XIII).
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Die vorgenommene Trennung wird dann jedoch in den Einzelbeiträgen des ersten Teils (zumindest implizit) wieder zurückgenommen. Denn es geht meist um den Nachweis einer hochgradig symbolisch aufgeladenen Beschreibungssprache, um narrative Strategien und Zuschreibungsmuster in den Expeditionsberichten, anhand deren die westlich geprägte Voreingenommenheit der Polarforscher ablesbar wird. Die »Entdeckung« und »Erfahrung« der Arktis – so ein übergreifendes Ergebnis der Einzelstudien – bleibt immer eingebettet in bestimmte Mythen, Traditionen, Einstellungen und Narrative, die unter anderem in der fiktionalen Literatur vorgeprägt wurden. Es ließe sich folglich fragen, ob die Herausgeber/innen gerade mit Blick auf ihr angekündigtes diskursanalytisches Programm nicht besser daran getan hätten, auf eine Unterteilung der beiden Bereiche »historische« Entdeckung und »fiktionale« (Re-)Imagination zu verzichten und statt dessen gerade die Austauschprozesse zwischen historischem Expeditionsbericht und zeitgenössischem Kriminalroman, zwischen Satirezeitung und Politikjournal, zwischen Horrorgeschichte und Reisebeschreibung in den Blick zu nehmen. Möglicherweise hätten sich dann bisher vernachlässigte intertextuelle Bezüge zwischen den unterschiedlichen Genres erschließen lassen. Denn vielfach stellten gerade die fiktionalen Texte Narrative und Szenarien für die Reiseberichte bereit und jene wiederum lieferten die Grundlagen für Polarfantasien.
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Rhetoriken und narrative Strukturen der Expeditionsberichte
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Die Auswahl der Reiseberichte orientiert sich zumeist an in der Forschung bereits ausführlich untersuchten Quellen herausragender Polarforscher wie Otto Sverdrup, Fridtjof Nansen, Roald Amundsen, Knud Rasmussen und Teilnehmer der sowjetischen Čeljuskin-Expedition. Das Untersuchungsinteresse der Beiträger/innen richtet sich (1) auf Rhetoriken und Metaphern der Texte, (2) auf ihre narrativen Strukturen, (3) auf intertextuelle Referenzen und (4) auf Gattungsspezifika. Im Zentrum steht dabei die Frage, welche Rolle die literarischen Repräsentationsformen für die Konstitution der Arktis als Projektionsraum spielen, der durch nationale, geschlechterspezifische, mythische, ethnische oder ästhetische Zuschreibungen besetzt wird.
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Hanna Eglinger kommt in ihrer anregenden Untersuchung skandinavischer Expeditionsberichte von Otto Sverdrup, Fridtjof Nansen, Roald Amundsen und Godfred Hansen zu dem Schluss, dass die hier verwendeten Metaphern paradox und inkonsistent seien. Einerseits knüpften sie an Fortschrittsimperative des 19. Jahrhunderts an und tradierten Eroberungsnarrative weiter, andererseits schwelgten die Berichte in einer rückwärtsgewandten Nostalgie, verfolgten die rituelle Wiederholung eines selbstmächtigen Entdeckertums und referierten intertextuell auf nationale Gründungsmythen aus dem Zeitalter der Eroberungen durch die Wikinger. Darüber hinaus liest Eglinger die Expeditionsberichte als »Lebens-Reise-Diagramme« (»life-journey diagram«, S. 15), indem sie Parallelen zwischen dem Verlauf der Reisen und den einzelnen Forscherlebensläufen ausmacht. Die Erfahrung der Nichterreichbarkeit des Nordpols beziehungsweise des Scheiterns der Reise fänden als »life’s zenith« der jeweiligen Entdeckerbiographien ihre Entsprechungen (S. 15).
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Henning Howlid Wærp analysiert den ersten Expeditionsbericht Fridtjof Nansens, »På ski gjennem Grønland« (1890) und weist dessen literarische Konstruiertheit auf stringente Weise nach. Er konstatiert, dass trotz wissenschaftlichen Anspruchs und Informationsfülle Strategien wie Spannungsaufbau, Emotionalisierung, Exotisierung und Romantisierung sowie eine Anknüpfung an narrative Muster der Heldensage und essayistische Ausschweifungen eine Literarisierung und damit auch Popularisierung des Expeditionsberichts bedingt hätten. Entgegen einer bisher allgemein unkritischen Lektüre der Reiseberichte des Friedensnobelpreisträgers weist Wærp in seiner Relektüre zudem auf rassistische (in Bezug auf die Darstellung der Sami) und nationalistische Vorurteile des Autors hin (S. 52).
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Zwei weitere Beiträge wenden sich den hybriden Figuren des Arktischen in den Expeditionsberichten des grönländisch-dänischen Polarforschers und Ethnologen Knud Rasmussen zu, wobei sie seine Rolle als Vermittler und Übersetzer zwischen westlicher und grönländischer Kultur auf den Prüfstand stellen. Kirsten Thisted resümiert, dass bei Rasmussen trotz aller Bemühungen »to understand the Inuit on their own premises« (S. 60) seine eigene westliche Sozialisation und ein hegemonialer Diskurs in den Beschreibungen immer präsent blieb. Frederik Brøgger hingegen legt eine ökokritisch ambitionierte Lektüre des Berichtes über die Fünfte Thule-Expedition vor. Auf der Basis einer profunden Analyse der sprachlichen Verfasstheit von Rasmussens Publikation »Fra Grønland til Stillehavet: Rejser og Mennesker fra 5te Thule-Expedition 1921–24« (1925–26) belegt er, dass sich Rasmussen zwischen ökologisch-modernem Denken und einer darwinistisch geprägten Sichtweise der Inuit bewegte. Diese »darwinistische« Sichtweise der Inuit zeige sich in sinnlich-emotionalen Schilderungen über das einträchtige Leben der Inuit mit der Natur sowie in Darstellungen arktischer Natur aus der Sicht von Tieren.
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Der Fokus auf die rhetorischen und narrativen Strategien in den Beiträgen eröffnet eine noch wenig bearbeitete Perspektive auf die gewählten Expeditionstexte und bietet somit Einsichten in die literarische Spezifik der von der Literaturwissenschaft bisher eher stiefmütterlich behandelten Textsorte Expeditionsbericht. Darüber hinaus ergänzen die Studien das breite Spektrum an ereignis-, politik-, wissens- und kulturgeschichtlichen Analysen einzelner Polarexpeditionen. Allerdings hätte in vielen Fällen eine intensivere Auseinandersetzung mit der vorliegenden Forschungsliteratur dazu beigetragen, das Neue der jeweiligen Relektüre innerhalb der historischen Arktisforschung zu verorten und für Anschlussstudien produktiv zu machen.
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Grundsätzlich fällt auf, dass die Bezugnahme weitgehend auf englischsprachige oder skandinavische Forschung beschränkt bleibt. Zudem betreffen die Referenzen hauptsächlich bekannte postkolonialistische oder gender-basierte Relektüren eines mittlerweile etablierten und institutionalisierten Kanons. Eine Einbindung in weitere Schnittmengenbereiche wie Wissensgeschichte, Medientheorie, Diskursanalyse, Mobilitätsstudien oder Raumtheorie wird weiteren Untersuchungen überlassen bleiben.
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Sowjetische Gegendiskurse
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Neben den besprochenen Reiseberichten skandinavischer Provenienz subsumiert der erste Teil auch zwei Untersuchungen über Arktisdiskurse in der Sowjetunion der 1930er Jahre. Grundlage sind die für das Selbstverständnis der jungen Nation enorm bedeutsame Čeljuskin-Expedition und ihre Nachfolger. Ausgangspunkt des gut recherchierten und überzeugend argumentierenden Beitrags von Susi K. Frank ist die Frage nach den Unterschieden der symbolischen Konstruktion des polaren Raumes in westlichen und sowjetischen Texten. Auf der Grundlage einer kontextgesättigten Neulektüre zentraler russischer Texte über die sowjetische Polarforschung kommt Frank zu dem Schluss, dass bei allen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der diskursiven Strategien der sowjetische Arktisdiskurs der 1930er Jahre einen Gegendiskurs zum westlichen darstelle. Gegenpositionen diagnostiziert sie erstens in Bezug auf den Umgang mit der arktischen Natur, welche durch technische Innovationen, durch »soziale Wärme« und Phantasie besiegt werden sollte; zweitens mit Blick auf das Projekt einer Umgestaltung des arktischen Raumes zu einer Wohnstätte für die sowjetische Bevölkerung und drittens in Hinsicht auf Narrative der Gemeinschaft, Solidarität und Kameradschaft, die dem typisch sowjetischen Entdeckerhelden zugeschrieben wurden.
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Der Beitrag von Tim Youngs argumentiert ähnlich, wenn er betont, dass die Nachfolgeberichte der Čeljuskin-Expedition das Gemeinschaftliche des Unternehmens hervorhoben, den Kampf gegen die Natur beschworen, Moderne, Maschine und Fortschritt feierten und jegliche Art von Mysterium ablehnten. Im Gegensatz dazu dominierten in westlichen Berichten Konzepte des Einzelgängertums und ein mystischer Grundton. Ob diese nicht weiter belegten Annahmen in dieser generellen Form gültig sind, bleibt zu bezweifeln. Der Verfasser selbst relativiert wiederholt diese These und räumt ein, dass es durchaus Gemeinsamkeiten zum westlichen Arktisdiskurs gebe. Youngs geht noch einen Schritt weiter, denn er bindet seine Beobachtungen an die Forschungsdiskussion über Reiseliteratur. Ausgehend von seinen Befunden stellt er gängige postkoloniale Annahmen und Zuschreibungen an Reiseliteratur wie die Dominanz männlicher, kolonialistischer, kapitalistischer und patriarchalischer Muster radikal in Frage.
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Arktisbilder in satirischen Zeitschriften
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Einen durchaus produktiven Zugang zur historischen Arktisrezeption wählt der Beitrag von Johan Schimanski und Ulrike Spring. Er analysiert die öffentliche Wahrnehmung der österreichisch-ungarischen Expedition von 1872–74 anhand zahlreicher illustrierter satirischer Zeitschriften Österreichs und arbeitet die Ambivalenz der dort entworfenen Arktisbilder heraus. Einerseits partizipierten diese am utopisch-kolonialen Diskurs, andererseits jedoch unterwanderten sie aufgrund ironischer Effekte zugleich die etablierten Topoi der Arktis als verbotener und mythischer Region, als zu entdeckendes Land, als Ort der ewigen Kälte, der Gefahren und des Kampfes. Gerade satirische Diskurse, so ihre Annahme, ermöglichten einen unmittelbareren Zugang – den ›Königsweg‹ zum Arktisbild, da sie – einem Filter ähnlich – durch remediation-Strategien wie Reduktion, Konkretisierung und Naturalisierung das populäre Bild des Nordens auf seine Essenz zurückführten.
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Darüber hinaus handelt es sich um einen der wenigen Beiträge, der sich explizit mit dem Begriff des (arktischen) Diskurses auseinander setzt. In Anlehnung an die Arbeiten der Politikwissenschaftler Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie der Konzeptualisierung von »Nordicity« durch den kanadischen Imaginationsforscher Daniel Chartier bestimmen Schimanski und Spring thematische cluster (sogenannte nodal points), die als zentrale Elemente des arktischen Diskurses fungieren. Die Analyse dieser cluster, zu denen »northerliness«, »discoverability«, »winteriness«, »antismoothness«, »alterity« und »alternativity« (S. 29) zählen, manifestieren eine »intersection« vieler Diskurse und bestätigen die These, dass erstens das populäre Bild der Arktis Produkt vielfältiger Remediationsprozesse ist und zweitens die effektivste Art der Beschreibung des Arktisbildes der indirekte Weg sei, also die Analyse von Repräsentationen, welche keine expliziten Aussagen zum Großkomplex »Arktische Diskurse« liefern.
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Zwischen Dokumentation und Imagination des Nordens
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Die Aufsätze des zweiten Teils sind unter die Überschrift »Imagining und Reimagining the Arktis« subsumiert. Die bereits angedeutete Problematik der Zweiteilung wird gerade auch mit Bezug auf den zuletzt besprochenen Artikel deutlich, der sich dem »Imagining« der Arktis zuwendet und somit einen Grenzfall darstellt, wie auch andere der Beiträge, deren Brisanz gerade im Changieren zwischen »Entdecken« und »Imaginieren« beziehungsweise »Reimaginieren« besteht.
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Dies betrifft unter anderem den Beitrag von Cathrine Theodorsen, welche Bilder des Nordens und der Sami in den Reisebeschreibungen des deutschen Vormärz-Autors Theodor Mügge untersucht und feststellt, dass sich diese vornehmlich aus Rassevorstellungen und Konzepten des Wilden in deutschen Diskursen des 19. Jahrhunderts speisen. Wie bereits in den Beiträgen über Knud Ramussen läuft der Befund auf rhetorische Ambivalenzen hinaus. Mügge reproduziere trotz linksliberaler Einstellungen und der Behauptung eines vorurteilsfreien, objektiven und demokratischen Blicks die im Westen gängigen Stereotype, indem er Norwegen zwar zum Idealland stilisiere, dessen Ureinwohner jedoch als Menschen niederer Rasse kennzeichne. Ergänzt wird dieser Befund durch die nicht uninteressante Beobachtung, dass die rassistische Einstellung in späteren Texten zurücktritt, wo Mügge nicht als »Augenzeuge« spricht, sondern wo eine subjektive und fiktionale Bearbeitung vorherrscht.
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Diskursive Spezifität ästhetischer Präsentationen der Arktis
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Die künstlerische Bearbeitung der Arktis seit dem 19. Jahrhundert weist ein breites Spektrum an Medien, Genres und Ästhetiken auf. Davon zeugen die insgesamt acht Beiträge des zweiten Teils, deren Verfasser/innen sich unter folgenden Gesichtspunkten auf literarische und auditive Präsentationsformen konzentrieren: Erstens analysieren sie rhetorische Formationen arktischer Diskurse in Text und Musik und verorten sie innerhalb historischer Zuschreibungen; zweitens bemühen sie sich, die genrespezifische Verfasstheit von Diskursen zu bestimmen; drittens untersuchen sie die Funktion intermedialer Bezugnahmen für die Herausbildung arktischer Bilder und viertens vergleichen sie westliche und indigene Präsentationsweisen der Arktis.
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Wendy Mercer wendet sich sogenannten arktischen Reiseromanen der nachromantischen Epoche Frankreichs zu und etabliert diese als eine neue, »postromantische« Gattung, welche durch die Weitertradierung romantischer Muster und Diskussion quasi-wissenschaftlicher Themen gekennzeichnet sei. Ihre Analyse der rhetorischen und narrativen Muster von Texten Collin de Plancys, Jules Vernes, aber auch Mary Shelleys zeigt auf, dass diese Reiseromane einer romantisch tradierten Suche nach dem Geheimnisvollen folgen und die Arktis als Paradies und Sehnsuchtsort projektieren, dessen heiliger Gral – der Nordpol – unerreichbar bleibt oder dessen Entdeckung zum Scheitern der Protagonisten nach ihrer Heimkehr führt. Wenn die Reise als gescheitertes Projekt gestaltet ist, sei dies zweifach lesbar: als Absage an eine rationale ›Entzauberung‹ der Welt und zugleich als ein Scheitern des Schriftstellers im Alltag. Insofern die Reise in den Norden als Metapher für die Mysterien, die der Künstler nicht durchdringen könne, steht, fungiere die Reise zur Arktis auch als Ausgangspunkt einer Selbstreflexion poetischen Schaffens.
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Die Beiträge von Maria Lindgren Leavenworth und Heidi Hansson beschäftigen sich im Gegensatz dazu mit zeitgenössischer, dem Horror- und Kriminalgenre angehörender Unterhaltungsliteratur. Leavenworth legt dar, wie die »weißen Flecken« des arktischen Diskurses um die Franklin-Expedition durch Horrorelemente in Dan Simmons gothic horror novelThe Terror aufgefüllt werden. Sie veranschaulicht die narrativen Strukturen des Romans durch ein Modell, das von der Überlagerung historischer, fiktionaler und mythischer Zeitstränge ausgeht und erläutert, wie der Autor seine narrative Autorität nutzt, um verschiedene hierarchische Oppositionen von Klasse, Gender und Identität zu hinterfragen. Der mythische Aspekt des Romans in Form eines Schneemonsters rufe Erinnerungen an Inuitlegenden auf und lege damit zugleich eine ökologische Botschaft nahe. Gerade die Horrorgeschichte, so die Quintessenz, mache die enge Verbindung zwischen plausiblen historischen Ereignissen mit fiktionalen Elementen und Inuit-Mythen sichtbar und stelle starre Einteilungen in plausible reale Dokumentation und fantastische Fiktion in Frage.
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Um ›Realität‹ der Arktis im Sinne eines begehbaren Schauplatzes geht es auch im Beitrag über die »arktischen Krimis« von Dana Stabenow. Hansson betont, dass die Orte der Arktis durch die Kriminalgeschichten meist erst ›real‹ würden und für Leser/innen einen direkten Zugang zum Norden darstellen. Ihre Untersuchung konzentriert sich auf das Aufspüren tradierter Arktis-Narrative, Wiederaufnahmen etablierter und genrespezifischer Beschreibungsmuster sowie geographischer Stereotype der Romane. Mittels einer statistischen Auswertung von Leserrezensionen ermittelt sie die dominanten Diskurselemente in der Beschreibung der arktischen Umwelt. Ihr Ergebnis zeigt, dass die Kriminalgeschichten Zuschreibungen des Exotismus, Romantizismus, Essentialismus, Traditionalismus, des Gender Scripting und der Selbstopferung bevorzugen und damit letztlich in traditionellen Zuschreibungen befangen bleiben.
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Arktis als politischer Diskurs
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Eine Art Außenseiterstellung innerhalb der fiktionalen Szenarien scheint der Beitrag von Lisa Williams einzunehmen. Doch tut er dies nur auf den ersten Blick. Denn der vermeintlich nicht-literarische Gegenstand in Form von Regierungsdokumenten über die kanadische Außenpolitik erweist sich als hochgradig symbolisch aufgeladen und narrativ konstruiert. Die Verfasserin identifiziert drei große, miteinander verwobene Topoi in offiziellen kanadischen Diskursen: die Arktis als koloniale, marginale und indigene Größe. Mit ihrer Untersuchung hofft Williams, blinde Flecken in politischen Diskursen frei zu legen und auf jene präfigurierten Narrative aufmerksam zu machen, die es ermöglichen, Politik auf rein militärisch-ökonomische Nutzung von Ressourcen zu beschränken. Daran anknüpfend betont sie die Relevanz der Analyse arktischer Diskurse für die Erforschung drängender globaler Fragen. Dadurch lassen sich Unterdrückungsmechanismen und Gegendiskurse aufdecken, die in Gegenden, welche die Arktis als Teil ihrer eigenen Identität beanspruchen, produziert werden.
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Arktische Gegendiskurse in Musik und Lyrik
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Die Beiträge von Laurel Parsons und Sherill Grace komplementieren und kontrastieren zugleich die Sammlung literarisch verfasster Arktis-Bilder durch musikalische Produktionen Kanadas, welche auf mehr oder weniger überzeugende Weise indigene arktische Literatur adaptieren. In ihrer Untersuchung von sechs musikalischen Stücken, die auf einer Gedichtsammlung von Inuit (Anerca) beruhen, stellt Parsons den paradoxalen Charakter der Kompositionen (von Serge Garant, Thomas Baker, Milton Barnes u.a.) heraus. Diese beruhten auf einer kanadischen Musikrichtung, welche eine Abgrenzung von westlichen Traditionen vorgebe, doch in ihrer Thematisierung der Arktis die westlich geprägten Dichotomien zwischen nordischer Wildnis und westlicher Kultur, zwischen Fremdem und Eigenem weiter tradiere.
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Grace hingegen entdeckt in der ästhetischen Opernbearbeitung des kanadischen Nordens »Frobisher« (2006) einen Gegendiskurs zu gängigen Wahrnehmungsmustern der Arktis. Qua ihrer interdiskursiven Verfasstheit, der Brüchigkeit ihrer Charaktere und feminisierenden Aspekte, biete die Oper Alternativen zum westlich etablierten Diskurs des Nordens.
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Das Konzept des Gegendiskurses bemüht auch Harald Gaski in seiner Studie über den berühmten Sami-Dichter Nils-Aslak Valkeapää. Auf der Basis einer ertragreichen Untersuchung der multimedialen und intertextuellen Bezüge, der Metaphorik und selbstreflexiven Aspekte einer weitgehend widerständigen und nichtübersetzbaren lyrischen Textproduktion kann Gaski belegen, dass der Autor einen hochgradig intellektuellen Eingeborenen-Diskurs gegen westliche Anspruchserhebungen auf Land und Ressourcen etabliert.
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Fazit
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Wie ertragreich die Studien im Einzelnen auch sind, so lassen sie doch häufig einen erkennbaren Bezug zu einem größeren Forschungsprogramm vermissen. Dabei ist ein konzeptueller Zusammenhang ja durchaus gegeben. So gehen alle Beiträge von einem Begriff der Arktis aus, welcher nicht allein geographisch determiniert ist, sondern eine Gemengelage aus Mythen, Narrativen, Spekulationen und Fiktionen ausmacht. Die Annäherung an diese Gemengelage geschieht über den Begriff des Diskurses, welcher hier allgemein im Sinne einer Aushandlung dessen gebraucht wird, was zu bestimmten Zeiten jeweils unter »Arktis« verstanden wurde. Dieser überzeugende Ansatz wird allerdings nicht explizit ausgearbeitet. Der Diskursbegriff bleibt in den meisten Einzelbeiträgen unscharf. Eine Auseinandersetzung mit der heuristischen Qualität des Begriffs im Unterschied zu anderen Herangehensweisen fehlt. Diskurse, implizit verstanden als Thematisierungsweisen oder Zuschreibungen, werden bestenfalls umkreist und in den meisten Fällen anhand von Relektüren leicht ›gegen den Strich‹ gelesen.
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Zwar betonen die Herausgeber/innen in der Einleitung, dass der Band an eine Reihe unterschiedlicher etablierter Modelle zur Beschreibung diskursiver Formationen und Zuschreibungen anknüpfe. Neben Michel Foucaults diskursanalytischem Ansatz werden unter anderem Edward Saïds Verbindung von »Orientalismus« und politischem Diskurs, das von Laclan und Mouffe entwickelte Konzept der symbolischen Ordnung von Gesellschaften und Identitäten und der stets offenen, bruchstückhaften, sich überschreibenden Diskurse oder Pratts Concept of contact zones genannt (S. XIII). Doch ganz abgesehen davon, dass diese Aufzählung eher beliebig als programmatisch wirkt, bleiben die Bezugnahmen auf konkrete Forschungsansätze in den meisten Beiträgen eher vage. Im überwiegenden Fall bieten die Untersuchungen eine Erzähltextanalyse, die sich an Voraussetzungen der Gender, Minority und Postcolonial Studies orientiert sowie Ergebnisse der Reiseliteraturforschung einbezieht.
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Dennoch: Obwohl einige der Beiträge hinter den Prämissen der Einleitung zurückbleiben, liegt mit »Arctic Discourses« ein Band vor, der in mancher Hinsicht Pionierarbeit leistet. Denn er versammelt erstmals ein breites internationales und kulturüberschreitendes Spektrum an ästhetischen Thematisierungsweisen des nördlichen Polarkreises und eröffnet durch seine interdisziplinäre Herangehensweise eine neue Sicht nicht nur auf die Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen des Arktischen, sondern auch auf die unterschiedlichen Strategien der Narrativierung und Remediatisierung, Tradierung und Subvertierung arktischer Vorstellungen. Profitieren werden von dieser Zusammenschau der Einzelstudien vor allem imaginations- und kulturgeschichtliche Untersuchungen, narratologische Studien sowie komparatistische Forschungen zur Reiseliteratur. Darüber hinaus bildet der Sammelband eine wichtige Grundlage für weiterführende, wissens- und kulturhistorische Arbeiten auf dem Feld der sich etablierenden Arctic Studies, welche literarische und künstlerische Quellen bisher eher vernachlässigt haben.
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