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‚Kunstreligiöse Ansprüche und religiöse Wahrheiten‘

Kai Sinas Studie über Walter Kempowskis Kunstreligion

  • Kai Sina: Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski. (Göttinger Studien zur Generationsforschung 9) Göttingen: Wallstein 2012. 282 S. Gebunden. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-8353-1089-6.
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1. Mosebach liest Kempowski: Sühne, Ordnung, Gnade

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Mit feinem Gespür für die kunstreligiösen Vorzeichen beschreibt der Schriftsteller Martin Mosebach anlässlich der Übergabe des Kempowski-Archivs an die Akademie der Künste in Berlin die Poetik Walter Kempowskis. Der »historische Collage-Roman Kempowskis« lasse »das Bild der Geschichte gänzlich aus ihren Reliquien entstehen«, 1 und die Gestaltung des Echolots verdanke sich, so Mosebach weiter, einer vom Autor bewahrten »souveränen Ordnung«. 2 Noch deutlicher hebt Mosebach die kunstreligiösen Anklänge hervor, indem er Kempowskis unermüdliche Tätigkeit als Archivar und Autor darauf zurückführt, dass Kempowski für »seinen eigenen Anteil an der Gefängnishaft der Mutter in Bautzen, den er sich nicht vergeben kann, […] Sühne leisten« wolle. 3 Kempowskis Autorschaft sei durch den Gedanken an diese »Sühneleistung« motiviert. 4

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In einer anderen Rede hält Mosebach abschließend fest: »Der Leser von Kempowski sagt [am Ende], wenn er Christ ist: ›Herr, sei mir armem Sünder gnädig.‹ « 5 Treffender als mit dieser Bußformel, so versteht man nach der Lektüre von Kai Sinas Studie Sühnewerk und Opferleben, könnte der kunstreligiöse Anspruch Kempowskis wohl nicht beantwortet werden. Mosebach, ein aufmerksamer und begeisterter Leser Kempowskis, nennt diesen schließlich einen »genauen Kenner der alten liturgischen Dichtung«,  6 und ein Exemplar von Mosebachs Häresie der Formlosigkeit, so weiß wiederum Sina zu berichten, findet sich in Kempowskis Bücherregal (vgl. S. 16). Die genannten, bei Mosebach nur angedeuteten Facetten der Kunstreligion Walter Kempowskis unterzieht Sina in seiner 2012 veröffentlichten Dissertation nun einer genauen und systematisch differenzierten Lektüre. Er bündelt seine Beobachtungen zu der These, dass Kempowski sein »Kunstwerk als Liturgie« (S. 13, vgl. S. 15) verstehe. Um diese These zu belegen, behandelt Sina nach der Einleitung, in der er die zentralen Begriffe ›Kunstreligion‹ und ›Werk‹ erläutert, in drei Hauptkapiteln die Themen »Autor«, »Poetik« und »Werk«. Mit Mosebach lassen sich diese Themen zu drei kunstreligiösen Funktionen von Kempowskis Werk zuspitzen: Der Autor leistet Sühne, die Poetik schafft Ordnung und das Werk zielt auf Vergebung und Gnade.

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2. Kunstreligion

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Vor diesem Hintergrund erscheint mir Sinas Studie über Kunstreligion bei Walter Kempowski aus mindestens drei Gründen beachtenswert und interessant zu sein:

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• Erstens verspricht Sinas Buch eine innovative Lesart und Interpretation sowohl der Autorinszenierung, der Autorpoetik als auch der wichtigsten literarischen Texte Walter Kempowskis. Der Zusammenhalt dieser Bereiche ergibt sich aus ihrer christlich-religiösen Rahmung.

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• Zweitens weckt Sinas kunstreligiöse Perspektive auf einen bedeutenden und einflussreichen Autor der Nachkriegsliteratur die Erwartung, dass der historische und systematische Zugriff auf das Thema ›Kunstreligion‹ neu akzentuiert wird. Zudem wären Erweiterungen und Präzisierungen des Begriffs wünschenswert. Mit der »Kunstreligion« wird zugleich der in letzter Zeit auflebende Forschungszweig ›Religion & Literatur‹ gestärkt, der noch nicht so fest etabliert erscheint wie etwa das Themengebiet ›Recht & Literatur‹.

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• Drittens ermöglicht die Auseinandersetzung mit der ideengeschichtlichen »Signatur« (Giorgio Agamben) der Kunstreligion einen literaturwissenschaftlichen Beitrag zur Debatte über Säkularisierung und Rückkehr der Religion, und dies zunächst einmal ungeachtet der Entscheidung darüber, ob man diese Phänomene als soziale Prozesse oder kulturelle Narrative auffasst.

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Sina beobachtet bei Kempowski eine mit religiöser Rhetorik überformte Autorinszenierung sowie poetologische Selbstaussagen und ein literarisches Werk, die mit religiösen Zitaten und biblischen Motiven gespickt sind. Aber reichen diese Indizien aus, um Kempowski als kunstreligiösen Autor zu qualifizieren und auf diese Weise in eine Reihe mit Klopstock, Hölderlin oder auch Nietzsche zu stellen? Dürfte die Kunstreligion in der säkularisierten Moderne nicht ihre Überzeugungskraft verloren haben? Oder entfaltet die Bezugnahme der Kunst oder Literatur auf die Religion erst in der Moderne ihre volle Wirkungskraft, ist die Kunstreligion doch selbst ein Produkt eben jener Moderne, die durch die Ausdifferenzierung von Kunst und Religion ihre gegenseitige Bezugnahme erst ermöglicht? Und wie verhalten sich Kempowskis Autorschaft, seine Poetik und die beiden großen Werkbestandteile Deutsche Chronik und Echolot, die Sina allesamt konsequent als kunstreligiöse Praktiken und Projekte interpretiert, zu diesen Fragen? Daraufhin möchte ich Sinas Buch befragen.

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Zunächst klärt Sina den zentralen Begriff ›Kunstreligion‹. Dazu greift er auf Überlegungen Heinrich Deterings zurück (vgl. S. 18–22), der die Dissertation als Zweitgutachter betreut hat. Detering zufolge bildet die moderne Ausdifferenzierung von Kunst und Religion die Voraussetzung dafür, überhaupt von Kunstreligion, also einem Verhältnis von Kunst und Religion sprechen zu können. Kunst und Religion können dann entweder in einem Verhältnis der Konvergenz oder der Konkurrenz zueinander stehen (vgl. ebd.). Es ergeben sich Schnittstellen und Differenzen zwischen beiden Bereichen. Die Kunstreligion selbst manifestiert sich in zwei Spielarten: als »Bezugnahme der Literatur auf Religion« einerseits und als »Funktionalisierung der Literatur im Sinne der Religion« (S. 13) andererseits.

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Kempowskis kunstreligiöse Inszenierung funktioniert, so Sina, als werkpolitische Strategie, durch die der Autor die Aufnahme und Rezeption des Werkes in der Öffentlichkeit zu steuern versucht (vgl. S. 26 f.), was freilich kaum gelingen könne, da sich die »Werkbildung« als »ein gänzlich unüberschaubarer, ein wuchernder Prozess« vollziehe (S. 27). Zu den wichtigsten Strategien der Werkpolitik zählt der »Entwurf einer ›Autorfigur‹« (S. 28), die an der »Bedeutungserzeugung« (S. 29) des literarischen Textes mitwirkt. Daher widmet Sina das anschließende, erste thematische Kapitel dem »Autor« Kempowski.

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3. Autor – Poetik – Werk

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a) Autor: Die auch bei Mosebach zur Sprache kommende »biographische Katastrophe« (S. 42), aufgrund einer erzwungenen Aussage für die Festnahme, Verurteilung und Gefängnishaft seiner Mutter verantwortlich zu sein, begründet das Verständnis von Kempowskis Werk als »Sühnewerk«. Sina stellt dar, wie Kempowski über Tagebücher und Interviews hinweg bis zur Architektur seines Hauses im niedersächsischen Nartum seine kunstreligiös grundierte »biographische Legende« (Boris Tomaševskij) formt und inszeniert (vgl. S. 62). Besonders aufschlussreich ist es, wie Sina auf Grundlage dieser fundierten Rekonstruktion der Autorfigur Kempowski die Spannungen, Widersprüche und »Brüche« (S. 78) sowohl innerhalb der Autorinszenierung zutage fördert als auch die geläufigen Vorurteile über die Bewertung Kempowskis durch die zeitgenössische Literaturkritik und -wissenschaft zurechtweist. Anhand dreier kunstreligiöser Aporien (vgl. S. 79–88) zeigt Sina, dass Kempowski selbst seine Autorschaft in ironischer Weise religiös überhöht, nach konventioneller öffentlicher Anerkennung (etwa durch Literaturpreise) strebt und zugleich seine Ausgrenzung aus dem literarischen Feld postuliert. Dieser Autor, so Sina, »kann […] nicht angemessen anerkannt werden, […] bedarf [zugleich] der öffentlichen Anerkennung« und »darf [letztlich] nicht öffentlich anerkannt sein« (S. 87). Sina belegt hier plausibel die Produktivität seiner These über die Kunstreligion bei Kempowski.

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Ein Punkt, der ebenfalls in dem Autorschaftskapitel behandelt wird, schon in der Einleitung zur Sprache kommt (vgl. S. 16) und auf das Kapitel zur »Poetik« vorausdeutet, ist Kempowskis »Gegenmoderne«. Als gegenmodern klassifiziert Sina u.a. Kempowskis »Hass auf das ›68er-Intellektuellenpack‹« (S. 89) und seine traditionell bürgerliche Selbstinszenierung. Zudem fungierten in der Tradition einer typisch kunstreligiös-romantischen Geschichtsphilosophie (vgl. S. 24, 88, 179 f.) sowohl der Katholizismus (vgl. S. 103–107) als auch die Provinz als »gegenmoderne Sehnsuchtsorte« (S. 150), die die modernen Erfahrungen von Zersplitterung, Entfremdung und Heimatlosigkeit kompensieren sollen und letztlich dazu dienen, Zerrissenes und Kaputtes zu einer Einheit zusammenzufügen, zu versöhnen und zu heilen.

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b) Poetik: Diese Aufgabe lässt sich für Kempowskis nicht anders bewältigen als mit und durch Literatur. Die Ansichten Kempowskis über die Entstehung, Funktion und Wirkung seiner Literatur arbeitet Sina im Kapitel über Kempowskis »Poetik« heraus. Der Zerrissenheit der Moderne entspricht in der Poetik die »Abwesenheit Gottes«. »Das heißt: Gott, der Schöpfer und Vater, hat sich von den Menschen entfremdet, die Versöhnung durch die Selbsthingabe seines Sohnes bleibt Leerstelle – und der Mensch in seinem radikalen Sünder-Sein ohne Rechtfertigung«, (S. 111) fasst Sina die religiöse Anthropologie zusammen, auf die Kempowski mit seiner Poetik antwortet. Aus Sinas detailreichem Überblick über die kunstreligiöse Färbung der Poetik lassen sich drei maßgebliche poetologische Aspekte herausdestillieren: das wäre zunächst die Autorschaft, zweitens das Verhältnis seiner Archiv- und Schreibpraxis zur Geschichtswissenschaft und schließlich die Wirkungsabsichten dieser Literatur.

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Kempowskis Gegenstand ist die Vergangenheit oder besser der durch den Zweiten Weltkrieg geschaffene Riss zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dazu bedarf es der Wiederbelebung oder »Wiederherstellung« (S. 119) der Vergangenheit durch zunächst eine archivarische »Spurensicherung« (vgl. S. 114–119), die dann in eine Erzählung überführt wird. Der Autor wird dabei zum »Medium« (S. 126 f.), das die Vergangenheit in Gegenwart, in einen Zustand der »Re-Präsenz« (S. 119) überführt – Kempowskis »Reliquienkult«. Der damit einhergehende »Verzicht auf Auktorialität« (S. 136) ist aber nicht nur der Archivpraxis geschuldet, sondern auch dem kunstreligiösen Gedanken, dass die normative Entscheidung über gut und böse, Recht und Unrecht »einzig und allein dem heute noch fernen Gott« (S. 164) zustehe.

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Mit diesem kunstreligiösen Ansatz unterscheidet sich Kempowski von der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit, bis hinein in die Schreibweise: »Fragment statt Einheit, Fiktion statt Wahrheit, Subjektivität statt Allgemeinverbindlichkeit« (S. 116). Die Unterscheidung zur Geschichtswissenschaft vertieft Sina, um weitere Differenzen herauszuarbeiten. Kempowski gehe es um die »Besonderheit des Einzelnen«, »[a]nteilnehmende Emotionalität« und einen »subjektive[n] Zugang« (S. 145) gegenüber verallgemeinernder, rationaler Universalität, mit der die historische Stimmen- und Erfahrungsvielfalt der Einzelnen nivelliert werde. (Dies sind Zusammenhänge, die – Sina weist daraufhin – eine diskursanalytisch und fiktionalitätstheoretisch geschulte Geschichtswissenschaft längst reflektiert hat.) Diese Einzelschicksale, Besonderheiten und Vielfältigkeiten werden, und hier erweist Sina mit seinem Feingefühl für die kunstreligiösen Anklänge erneut die Stimmigkeit seiner These, zu einer Einheit verbunden, die sich aus einer christlichen Anthropologie herleitet und »die den Einzelnen als Teil einer der Sünde verfallenen Menschheit und als Glied einer unendlichen Geschichte des Leidens verortet« (S. 152). Nur wer kann die mit der Moderne und dem Krieg verlorene Einheit wiederherstellen, wer kann das »Versöhungswerk« schaffen und die Menschen erlösen?

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c) Werk: Im abschließenden Kapitel arbeitet Sina die literarischen Verfahren der Deutschen Chronik und des Echolots heraus, um zu belegen, dass die ›Interpretationsanregung‹ Kempowskis, sein Werk als Ganzes, als Gesamtheit zu verstehen, das der kunstreligiösen »Heilung einer zerrissenen Zeit, zerbrochenen Welt und zerfallenen Gemeinschaft verpflichtet« (S. 177) ist, auch »an den literarischen Texten überzeugend nachgewiesen werden« (S. 30) kann. Abgesehen von dieser übergeordneten These (vgl. S. 176 f.) tritt die kunstreligiöse Dimension in den Textanalysen von vor allem Kempowskis ›bürgerlichem Roman‹ Tadellöser & Wolff und den Echolot-Bänden in den Hintergrund, jedoch nicht ohne am Ende wieder stark gemacht zu werden. Mit einem Gespür für sprachliche Details führt Sina vor, wie die Familie Kempowski in der Deutschen Chronik nach innen hin den Zweiten Weltkrieg durch Verfahren der »Normalisierung und Distanzierung« (S. 187) zu überspielen, zu ›über-reden‹ (vgl. S. 196) versucht, der um sich greifenden Verunsicherung und Haltlosigkeit aber nicht entgehen kann. In einem verbindenden Kapitel über die »Werkstruktur« verzahnt Sina die Deutsche Chronik und das Echolot miteinander (vgl. 212–217). Sodann arbeitet er in zwei exemplarischen Lektüren, einer synchronen und einer diachronen, durch das Echolot eine Reihe von Kontrasten und Gegensätzen heraus, die den historischen Ereignissen und der Zitat-Collage den Sinn entziehen: »Es gibt keine historischen Kollektivsubjekte, sondern nur widersprüchliches Erleben, es gibt keine natürliche Begründung und keine intellektuelle Erklärung für den Krieg« (S. 241 f.). Während das Echolot »innerhalb des Textes« (S. 223) die Konstitution »einer« Geschichte und deren Sinnstiftung verweigert, wird die Einheit und der Zusammenhalt »allein durch den als Christusfigur entworfenen Autor« (S. 223) gestiftet. Dies weist Sina abschließend in einer konzisen Interpretation des Vorwortes zu den ersten vier Bänden des Echolot nach, die sämtliche religiösen Intertexte dieses Vorworts berücksichtigt und das in den vorangegangenen Ausführungen Erarbeitete zusammenführt. Freilich kompensiert Kempowski in seiner kunstreligiösen imitatio christi nicht die Abwesenheit Gottes, sie soll jedoch, so der dahinterstehende Gedanke der »Liebespoetik« (S. 112), zu einer universalen und versöhnenden christlichen Liebesethik führen, die das endzeitliche Heil präfiguriert.

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Insgesamt beschreibt Sina eine facettenreiche, »für Kempowski charakteristische Spannung« (S. 165), die sich aus der Oszillation zwischen Kempowskis ›ungeheuerlichem künstlerischen Anspruch‹ (vgl. S. 211) auf der einen und dem Wissen um die Vorläufigkeit der immer nur annäherungsweise erreichbaren religiösen ›Wahrheit‹ – Universalität, Versöhnung, Gemeinschaft, Heil – auf der anderen Seite ergibt. Kunstreligion bei Walter Kempowski hat also zum Ziel, die utopisch verklärte, zum ›Sehnsuchtsort‹ stilisierte Vergangenheit mit einer aus den Fugen geratenen, zerklüfteten Moderne zu versöhnen. Das Ergebnis liegt in einer Zukunft, in der die verlorene Einheit wiederhergestellt wird und die Folgen der modernen Zerfalls- und Entfremdungsprozesse samt ihrem Gefühl der Heimatlosigkeit überwunden werden. Die Ursache von Entfremdung und Verworfenheit, des Risses in der Zeit ist der Zweite Weltkrieg mitsamt der vom Autor Kempowski erfahrenen gesellschaftlichen und persönlichen Folgen. Der Krieg wird damit zum Antrieb des Schreibens und seiner kunstreligiösen Überhöhung.

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4. Autorschaft

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Sinas Studie ist nicht nur ein Buch über Kempowskis Kunstreligion, sondern ebenso über Kempowskis Autorschaft. Autorschaft stellt das entscheidende methodische Konstrukt der Arbeit dar, und Sina belegt damit den engen systematischen Zusammenhang von Kunstreligion und Autorschaft. Er beruft sich, um Leben und Werk Kempowskis zu verbinden, auf das Konzept der »biographischen Legende« (vgl. S. 29, S. 42 [Anm. 42], S. 62) des Russischen Formalisten Boris Tomaševskij. Andererseits bekennt er in Göttinger Tradition stehend die »intentionalistische[] Ausrichtung« seiner Arbeit. Durch eine konsequente Ausrichtung an Tomaševskijs Ansatz wäre Sinas Intentionalismus an sich überflüssig. In der Tat spielen bei Sina Kempowskis Intentionen keine Rolle, sondern allein seine biographische Legende »als wahrnehmbarer Hintergrund des literarischen Werks, als die Voraussetzung, die der Autor selbst einkalkulierte, als er seine Werke schuf«. 7

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Aus dem Blick auf die kunstreligiöse Autorschaft spinnt sich ebenso für das Poetik- (III) wie das Werkkapitel (IV) ein roter Faden. So erscheint der »Autor als Medium« (S. 126) und der »Verzicht auf Auktorialität« (S. 136), die »nicht-auktoriale[] Geschichtsdarstellung«, die »›Preisgabe des Auktorialen‹« (S. 241), wie Sina mit Moritz Baßler formuliert, führen zu einer Begrenzung, einer Verneinung der Autorschaft. Kempowski betone hier, so Sina, seine »moderne, post-auktoriale Haltung« (S. 159). 8 Andererseits behauptet Kempowski als »Archiv- und Autorgott« seine souveräne Position. Sina stellt anhand zahlreicher Paratexte heraus, wie Kempowski in einer Reihe von »Selbstrechtfertigungen« (S. 159) versucht, seine im literarischen Text dementierte Auktorialität im literarischen Feld zu verteidigen. Schließlich sei er nicht nur »Archivar« (S. 160), »Sammler« (S. 159) oder »Kompilator« (S. 161), sondern Autor im emphatischen Sinne. Kunstreligion dient eben immer auch der Autorisierung der literarischen Rede. In der »spannungsvollen Beziehung kunstreligiöser Ansprüche und religiöser Wahrheiten« (S. 253) spiegelt sich die Spannung von Auktorialität und Post-Auktorialität wider.

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Ebenfalls in den Bereich der Autorschaft fällt das Verhältnis des Autors Kempowski zum »zweite[n] Kempowski«, 9 dem Erzähler der Romane. Über den Begriff der Metafiktion zeigt Sina, dass die »Einrichtung eines imaginären Sehnsuchtsorts im Text« analog zu lesen ist zum »Text als literarischer Sehnsuchtsort«. Auf diese Weise verknüpft Sina poetologische Selbstaussagen mit literarisch-metafiktionalen Kommentaren. Insgesamt ergibt sich daraus ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Ebenen – biografisch, inszenatorisch, paratextuell, poetologisch und narrativ – der Autorschaft.

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5. »Die Postmoderne spielt für Kempowski keine Rolle.« (S. 41)

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Warum? Die Technik der Zitat-Collage und die damit hervorgerufene Stimmenvielfalt decken sich doch mit postmodernen literarischen Verfahren. In Abgrenzung von der Postmoderne, Bezugspunkt ist vor allem Lyotard, stellt Sina heraus, dass Kempowski hinter seiner Autorinszenierung aber stets auf »ein als authentisch behauptetes Ich jenseits der Inszenierung« (S. 41) verweise. Noch entscheidender aber ist, dass Kempowski an einer Mitte, einer Wahrheit festhält, die in seinem religiösen Menschenbild begründet liegt und in einem eschatologisch ausgerichteten Geschichtsmodell kulminiert. Dieses Modell hält er der fragmentarischen und zersplitterten Moderne entgegen. Kempowski ist also Autor einer eigenen großen Erzählung (vgl. S. 164). Insofern versteht Sina Kempowski als einen antimodernen Schriftsteller mit durchaus modernen Zügen was seine literarischen Verfahren anbetrifft, und der damit eine typisch kunstreligiöse Spannung aktualisiert.

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6. Noch einmal: Kunstreligion – und Kritik

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Die bisher rekapitulierten Passagen, in denen Sina die zentrale These über Kempowskis kunstreligiöse Inszenierung ausführt, machen den Reiz dieser Studie aus. Zugleich liegen hier die Punkte, von denen aus sich Kritik erheben und Rückfragen an die Studie stellen lassen.

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Sina hätte abschließend auf die von Heinrich Detering übernommene Systematik der Kunstreligion zurückkommen können, um diese anhand seiner Ergebnisse zu revidieren. Detering beobachtet für die gegenwärtige historische Entwicklung der Kunstreligion eine Tendenz zum personalisierten Künstlerkult, die sich in erster Linie in der Pop-Kultur beobachten lasse. 10 Nach der Lektüre von Sinas Studie ließe sich für die Kunstreligion in der ›gegenmodernen Spätmoderne‹ dagegenhalten, dass die personalen Überhöhungen zum »Archiv- und Autorgott« spätestens beim Gottesbezug und der endzeitlichen Heilserwartung an ihre religiösen Grenzen stoßen, an denen die kunstreligiöse Inszenierung mit der religiösen Wahrheit kollidiert und zu einer Depersonalisierung oder gar zur Negation von Autorschaft gerinnen.

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Ferner bleiben Fragen unbeantwortet, die nicht Fokus von Sinas Studie liegen, die jedoch mit dem Thema Kunstreligion im Raum stehen: Welchen Stellenwert zum Beispiel besitzt die religiöse Rhetorik, die auf Autorschaft und Poetik appliziert wird? Wie verhält sich die ›Säkularisierung der verwendeten theologischen Begriffe‹ zur kunstreligiösen Überhöhung und Sakralisierung des Beschriebenen?

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Aus diesen Fragen wiederum ergibt sich ein pragmatisches philologisches Problem: Wie ist mit Anführungszeichen und religiösen Zitaten umzugehen? Ist Kempowski nach seinem Selbstverständnis »Mönch, Märtyrer und Stellvertreter« (S. 253), wie Sina ohne Anführungszeichen schreibt, oder ist er »Mönch«, »Märtyrer« und »Stellvertreter« mit Anführungszeichen? Die Entscheidung zwischen diesen Varianten betrifft die entweder identifizierende oder entfremdende Beziehung zum religiösen Ursprungskontext mitsamt der Höhe des erhobenen kunstreligiösen Anspruchs. 11 In welcher Weise werden der ästhetische und der religiöse Geltungsbereich aufeinander bezogen: in Form einer Analogie, einer Metapher oder einer Identifikation? Zu entscheiden wäre also darüber, ob Kempowskis Bezugnahme auf die Religion sowie die religiöse Funktionalisierung der Literatur allein ein intertextuelles Spiel darstellen, oder ob damit eine über das Ästhetische hinausreichende Autorisierungsstrategie literarischer Rede verbunden ist? Deren Anspruch dürfte nicht nur an religiösen Wahrheiten auf Widerstand stoßen. Vermutlich bedarf dieser Anspruch auch einer Übersetzung der religiösen Gehalte für die »religiös unmusikalischen«, säkularen Teile der Gesellschaft. Hier müsste eine literatursoziologische Perspektive auf Kunstreligion anschließen, die sich für Säkularisierung und Postsäkularität interessiert.

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Im Gesamtzusammenhang erscheint Sinas These, wie ich hier dargelegt habe, vollkommen plausibel und überzeugend. Zuweilen überwiegt bei dem Umgang mit religiösen Begriffen jedoch ein kunstreligiöser Überschwang. Dass Kempowski sein »Kunstwerk als Liturgie« verstehe, wird zwar wiederholt betont (vgl. S. 62, 104 f., 253), und Sina belegt auch, dass Kempowskis Liturgiebegriff sich (wie auch bei Mosebach) auf die vorkonziliare katholische Liturgie bezieht (vgl. S. 104 f.). Doch das Verständnis des Werkes als »Liturgie«, und damit »als religiöse Praxis« (S. 13), vertieft Sina nicht weiter. Die Liturgie bleibt ein religiöses Zitat neben anderen und führt zu der Frage zurück, welche Beziehungsgefüge zwischen den Geltungsbereichen der Religion und der Kunst möglich sind und wie die kunstreligiöse Doppelcodierung von religiösen Begriffen oder religiösen Praktiken im Einzelnen aufzulösen ist.

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7. Nicht umsonst!

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Sina nähert sich dem Autor Walter Kempowski und seinem Werk mit hermeneutischem Geschick an, ohne die Distanz zu seinem Gegenstand zu verlieren. Er weiß, was bei Kempowski im Regal steht und wo in Kempowskis Büchern signifikante Unterstreichungen zu finden sind. Mit seinen kenntnisreichen Ausführungen fügt Sina der Kempowski-Forschung mehr als eine neue Facette hinzu und liefert einen Deutungsrahmen für dessen Gesamtwerk. Verfahren, Motive oder Themen, die Autorschaft, die Poetik und die Rezeption Kempowskis soweit sie in der Kempowski-Forschung bereits behandelt wurden, gewinnen durch den Blick auf die Kunstreligion eine neue Dimension beziehungsweise eine plausible Erklärung.

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Kunstreligiöse Bezüge finden sich vor allem auf Seiten der Autorschaft, während Kempowskis Literatur ja den gesamten »Scherbenhaufen« 12 der Geschichte behandelt, auf dem die Religion nur ein, wenngleich besonders facettenreicher Teil unter vielen ist. In Bezug auf die Autorschaft, so würde ich zusammenfassen, stellt Kunstreligion vor allem eine Autorisierungsstrategie dar.

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Sina beendet seine Ausführungen mit Kempowskis »Formel, die das ironische Verhältnis von Ansprüchen und Möglichkeiten der Kunst und des Künstlers zuspitzt«: Alles umsonst. Sinas Studie beweist das Gegenteil, das »Nicht umsonst« der Auseinandersetzung mit Kunstreligion und Kempowski. So wenig Sina seine Erkenntnisse umsonst erworben haben dürfte, sondern durch eine beharrliche und spürbar begeisterte Auseinandersetzung mit Kempowski, so ist die Lektüre seines Buches für die Leserinnen und Leser alles andere als umsonst, sondern ein erheblicher Gewinn.

 
 

Anmerkungen

Martin Mosebach: Walter Kempowskis glückliche Schuld. Rede aus Anlaß der Übergabe des Kempowski-Archivs an das Archiv der Akademie der Künste Berlin. In: M.M.: Als das Reisen noch geholfen hat. Von Büchern und Orten. München: Hanser 2011, S. 151–163, hier S. 160.   zurück
Ebd., S. 161.   zurück
Ebd., S. 163.   zurück
Ebd., S. 164.   zurück
Martin Mosebach: Der Krieg ist der Vater des Romans. Rede auf Walter Kempowski aus Anlaß der Verleihung des Heimito-von-Doderer-Preises. In: M.M.: Schöne Literatur. Essays. München: Hanser 2006, S. 187–199, hier S. 199.   zurück
Mosebach: Walter Kempowskis glückliche Schuld, S. 163.   zurück
Boris Tomaševskij: Literatur und Biographie. In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, S. 49–61, hier S. 57.   zurück
Mosebach spricht hier über das »eigentümlich verantwortungslose Wesen des Epikers«, sich direkter moralischer Kommentierungen und Wertungen zu enthalten. Mosebach: Der Krieg ist der Vater des Romans, S. 198.   zurück
Mosebach: Walter Kempowskis glückliche Schuld, S. 155.   zurück
10 
Vgl. Heinrich Detering: Kunstreligion und Künstlerkult. Bemerkungen zu einem Konflikt von Schleiermacher bis zur Moderne. In: Günter Meckenstock (Hg.): Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 179–200, bes. S. 198–200.   zurück
11 
Heinrich Detering hat in der Rekonstruktion von Nietzsches kunstreligiöser Selbstinszenierung im Antichrist auf die Doppelcodierung des ›Kreuzes‹ durch den wechselnden Gebrauch des Begriffs mit und ohne Anführungszeichen hingewiesen. Vgl. Heinrich Detering: Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte. Göttingen: Wallstein 2010, S. 88 f.   zurück
12 
Mosebach: Walter Kempowskis glückliche Schuld, S. 161.   zurück