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Ernst Cassirer oder »l’homme total« der Wissenschaft.

Sammelrezension zu neueren Veröffentlichungen in der Cassirer-Forschung

  • Andreas Jürgens: Humanismus und Kulturkritik. Cassirers Werk im amerikanischen Exil. Paderborn, München: Wilhelm Fink 2012. 181 S. Kartoniert. EUR (D) 22,90.
    ISBN: 978-3-7705-5367-9.
  • Birgit Recki (Hg.): Philosophie der Kultur - Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert. Hamburg: Felix Meiner 2012. 700 S. Kartoniert. EUR (D) 128,00.
    ISBN: 978-3-7873-1974-9.
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Nachholbedarf einer prekären Rezeption

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Musste das philosophische System Ernst Cassirers nach der berühmten Davoser Disputation mit Martin Heidegger im Jahre 1929 zu den Verlierern der Rezeptionsgeschichte gerechnet werden, so darf dieser Umstand spätestens durch die seit dem Beginn der Publikation des Nachlasses 1995 in Berlin und der Hamburger Ausgabe (1998–2007) exponentiell ansteigende Forschungsliteratur als behoben gelten.

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Das Schicksal, mehr zitiert als gelesen zu werden, hat das philosophische Werk Ernst Cassirers, vor allem seine Philosophie der symbolischen Formen, besonders betroffen. Entsprechend beginnen beide der hier zu rezensierenden Bände mit einer Defizitdiagnose. So bemängelt Andreas Jürgens die Forschungslage bezüglich der ›amerikanischen‹ Jahre und moniert, dass Cassirers Spätwerk in der Forschung noch immer vernachlässigt werde. Birgit Recki kritisiert in ihrer Einleitung, dass in vielen geisteswissenschaftlichen Theorien mit zeichen- und symboltheoretischem Ansatz die nur pflichtgemäß erscheinende und »nicht mit der geringsten Auseinandersetzung einhergehende Bezugnahme auf Cassirer« (S. 13) auffiele. Vor diesem Hintergrund dienen beide vorliegenden Bücher in je eigener Weise der längst fälligen Schließung von Rezeptionslücken.

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Die unterschiedlichen Buchformate – ein knapp 150-seitiges Paperback und ein 700 Seiten starkes Quarto – entsprechen den fachliterarischen Gattungsunterschieden: zum einen die 2010 in Bremen als Dissertation eingereichte Studie von Andreas Jürgens, der dieser Tage in Forschung und Lehre am Leuphana College der Universität Lüneburg mitwirkt; zum anderen die Dokumentation in Form eines Tagungsbandes von jener internationalen Konferenz, die den Abschluss der vollständigen Edition des zu Lebzeiten veröffentlichten Cassirer-Werkes im Oktober 2007 an der Universität Hamburg unter der Leitung von Birgit Recki feierte.

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33 Beiträge, acht Länder, zwei Sprachen

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Einleitung der Herausgeberin

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In der eloquent geschriebenen Einleitung (S. 9–16) erklärt die Herausgeberin Birgit Recki zunächst den chiastischen Titel des Bandes: »Philosophie der Kultur« verweise auf den systematisch bemerkenswerten Beitrag Ernst Cassirers zur Theorie der Moderne in seiner symboltheoretischen Grundlegung der Kultur. »Kultur des Philosophierens« beziehe sich auf die Vorbildlichkeit des philosophischen Arbeitens Cassirers, das sich durch ein konsequentes Überschreiten der fachdisziplinären Grenzen auszeichne.

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Nebst Explikation des Titels bietet die Herausgeberin eine tiefschürfende Erörterung der verschiedenen Aspekte, die zu der prekären Rezeption Cassirers in Deutschland und Europa geführt haben. Während die ideengeschichtlichen Arbeiten Cassirers in der historischen Forschung präsent geblieben seien, habe sein innovativer systematischer Beitrag zunächst im Schatten der dominierenden Schulen in der Nachfolge Heideggers, Freges, Wittgensteins und Adornos gestanden. Auch die Frankfurter Schule habe sich dem nicht nur von Martin Heidegger geschürten Vorbehalt gegen den Neukantianismus als rein akademische Richtung des Denkens angeschlossen. Hinzu komme, dass der Emigrant Cassirer, der durch seinen frühen Tod im Jahre 1945 an der Wiederbelebung der Philosophie im Nachkriegsdeutschland keinen Anteil mehr nehmen konnte, auch keinen philosophischen »Sachwalter« (S. 13) hatte, denn vergebens suche man in Werk und Wirken seines letzten Hamburger Assistenten Joachim Ritter (1904–1974) nach markanten Hinweisen auf seinen akademischen Mentor. So verdanke sich die Wiederentdeckung Cassirers zu einem guten Teil »dem transatlantischen Reimport« 1 unter dem Einfluss seiner ehemaligen Kollegen an der Yale University. Ein Klassiker, der noch zu entdecken sei und auf dessen symboltheoretisch fundierte Philosophie der Kultur sich nicht allein Kunsthistoriker der Warburg-Schule wie Erwin Panofsky konstruktiv bezogen haben, sondern bis in die jüngste Zeit auch so unterschiedliche Denker wie Hans Blumenberg, Nelson Goodman, Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu, Clifford Geertz etc.

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Gliederung und Thematik

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Der Band gliedert sich in fünf unterschiedliche Sektionen, die insgesamt 33 auf Deutsch und Englisch verfasste Beiträge enthalten.

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Teil I. Zeitlosigkeit und Zeitgenossenschaft: Nachleben und Aktualität der Geschichte im Dialog (S. 17–105) umfasst vier Beiträge, die sich einerseits dem diachronen Ineinandergreifen und Revidieren von philosophischem Gedankengut der Antike, Spätrenaissance und Aufklärung im Werk Cassirers widmen und andererseits signifikante zeitgeschichtlich kontextualisierende Untersuchungen bieten.

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Mit gutem Grund wird der Tagungsband von dem lesenswerten Beitrag Dorothea Fredes eröffnet, denn nicht nur gilt die emeritierte Professorin für Philosophiegeschichte an der Universität Hamburg auf internationaler Ebene als Autorität im Bereich der antiken Philosophie, sondern sie zählt ebenso zu den WegbereiterInnen der Wiederentdeckung Cassirers in Deutschland: 1995 zum 50. Todestag veranstaltete Frede am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg eine Ringvorlesung 2 , in deren Kontext – so erfahren wir in der Einleitung Birgit Reckis (S. 14) – die Idee zu einer Ausgabe der Gesammelten Werke entstand. Nach einer kurzen Charakterisierung von Cassirers Zugang zur griechischen Philosophie fragt Frede in ihrem Beitrag nach den Gründen für seine Hochschätzung von Platon und Kritik an Aristoteles sowie seine Einstellung zum Platonismus und Aristotelismus der Renaissance. Die Autorin beschränkt sich dabei auf ontologische und epistemologische Fragen unter Ausklammerung politisch-anthropologischer Aspekte. (Mit dem Letzteren, so sei an dieser Stelle vorausgeschickt, beschäftigt sich die im zweiten Teil der vorliegenden Rezension besprochene Dissertation von Andreas Jürgens; so gesehen ergänzen sich beide Ansätze.)

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In seinem hervorragend recherchierten Aufsatz stellt Thomas Meyer zwei Spinoza-Deutungen einander gegenüber, die gewöhnlich nicht in einem Atemzug genannt werden. Nach einer kurzen Faktenübersicht zum biographischen und intellektuellen Verhältnis von Leo Strauss und Ernst Cassirer, wobei manch Unbekanntes ans Tageslicht rückt, zeigt der Verfasser die Grundzüge jener Cassirer’schen Auseinandersetzungen auf, in deren Mittelpunkt Spinoza stand. Reinhard Mehring widmet sich in seinem Beitrag der Zeitgenossenschaft von Ernst Cassirer und Thomas Mann und liest Cassirers Mann-Studie als »goetheanisches Bekenntnis« (S. 81).

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Die interessanteste Lektüre der ersten Sektion bietet zweifelsohne der englischsprachige Beitrag des 2010 verstorbenen John Michael Krois. Ausgehend von der These, dass Cassirers Klassiker Die Philosophie der Aufklärung (1932) kein philosophiehistorischer Aufsatz im eigentlichen Sinne sei, interpretiert Krois die Cassirer’sche Akzentsetzung auf Ästhetik und Kunst als »Revision of the Enlightenment Project« (S. 89), wobei Irrationales und Rationales sich nicht mehr ausschließen, sondern gegenseitig erst ermöglichen.

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Der zweite, umfangreichere Teil gruppiert neun Beiträge unter dem Titel Erkenntnisprobleme und die Kultur der Wissenschaften (S. 107–319). Die Beiträge von Oswald Schwemmer und Christian Möckels setzen sich in je eigener Weise mit Cassirers Begriff der Form auseinander: Während der erste Beitrag die Sicht auf die seit Charles Percy Snow 3 so genannten zwei Kulturen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften (paradigmatisch vertreten durch die Biologie bzw. die Geschichtswissenschaft) thematisiert und hervorhebt, dass Cassirer seine einheitswissenschaftliche Perspektive am Begriff der Form aushandelt, wendet sich der zweite Beitrag verstärkt methodologischen Analogien zu.

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Im weiteren Verlauf beschäftigt sich Reto Luzius Fetz mit der Cassirer’schen Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes. Während Martina Plümacher Cassirers Repräsentationsbegriff nachspürt, geht Hans Jörg Sandkühler (im Übrigen der Doktorvater von Andreas Jürgens) in seinem Beitrag einer Kritik der Gewissheit in der Erkenntnisphilosophie Cassirers und Gaston Bachelards nach. Eine weitere Facette von Cassirers breiten intellektuellen Leidenschaften nimmt Detlev Pätzolds Analyse von dessen Rezeption der Denkpsychologie seiner Zeit in den Blick.

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Herbert Kopp-Osterbrink untersucht die Formen von Geschichtsphilosophieschreibung in Cassirers Philosophie und hebt »die historisch-kulturelle Rekonstruktion von Kontexten« (S. 273) quasi als Modell hervor. Riccardo De Biase fokussiert hingegen auf die Cassirer’sche Philosophie der Geschichte aus einer ethisch dimensionierten Perspektive.

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Sebastian Ullrichs Beitrag widmet sich Cassirers Überlegungen zur »philosophischen Erkenntnis« (S. 297) im sogenannten vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen, dem in Fragmenten vorliegenden Kapitel »Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen«, und schließt die erkenntnis- und wissenschaftsphilosophische Sektion des Bandes ab.

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Der dritte Teil des Tagungsbandes trägt den Titel Zu Grundlegungsfragen: Kulturphilosophie und Anthropologie (S. 321–436). Ernst Wolfgang Orth thematisiert die epochenspezifischen Konjunkturen des Kulturbegriffs und weist in einem polemischen Ton auf die Gefahren einer gewissen »Verkalauerung« (S. 325) dieses Allwertbegriffes hin, um anschließend auf das komplexe Projekt ›Kultur‹ in der Philosophie Cassirers zu fokussieren.

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Im Mittelpunkt von Massimo Ferraris Beitrag steht die Rolle der transzendentalen Methode bei der Grundlegung einer Philosophie der symbolischen Formen bzw. einer Kulturphilosophie im Allgemeinen.

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Gerald Hartung untersucht die sprachtheoretische Grundlegung der Cassirer’schen Kulturphilosophie und verweilt bei deren Bezügen auf die sprachwissenschaftliche Debatte des 19. Jahrhunderts.

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Während Ursula Renzs Annäherung an Cassirers Rationalitäts- und Symbolizitätsverständnis zeigt, dass beide Aspekte als ergänzende Bestimmungen des Humanen in einem unauflösbaren Wechselverhältnis zueinander stehen, geht Philipp Stoellger von einem überraschenden Befund aus, nämlich von Cassirers Nachlass-Notiz, die Kultur sei »niemals eine reelle Größe«, denn sie enthalte »eine ›imaginäre‹ (Sinn-)Einheit« 4 , und untersucht Formen und Funktionen des Imaginären in der Philosophie der symbolischen Formen.

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Die dritte Sektion endet mit Ralph Beckers Beitrag, der Cassirers Plädoyer für ein bescheidenes Philosophieren bzw. für einen kritischen Anthropomorphismus ergründet: Denn der Mensch spiele nicht die Rolle des Schöpfers der Kultur, sondern die ihres Kronzeugen (vgl. S. 435).

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Der vierte Teil widmet sich der Vielfalt der symbolischen Formen: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Technik, Recht (S. 437–645). So gibt Esther Oluffa Pedersen einen fundierten Einblick in Cassirers Philosophie des Mythos und betrachtet dieselbe als »Erweiterung der Sphäre der kritischen Philosophie« (S. 439). Die beiden darauffolgenden Beiträge beschäftigen sich mit der Bedeutung der Religion im kulturphilosophischen System Cassirers, indem sie einerseits den Zugang zu seinem Religionsverständnis eröffnen (Michael Bongardt) und andererseits sein Verständnis von Wissenschaft und Religion als distinkte, nicht gegnerische symbolische Formen, das heißt als jeweils autonome Weisen des Weltverstehens umreißen (Edward Skidelsky).

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Die Kunst als symbolische Form thematisieren die Beiträge von Marion Lauschke und Fabien Capeillères mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung: Lauschke geht der Frage nach dem Beitrag Cassirers zur Diskussion über die ästhetische Kategorie des Erhabenen nach, Capeillères Cassirers Rezeption und Interpretation der Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe von Heinrich Wölfflin.

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In den nächsten Beiträgen steht die Rolle der Literatur und der künstlerischen Moderne in Cassirers Werk im Mittelpunkt. Barbara Naumann, die bereits mehrere fundierte und breit rezipierte Forschungsarbeiten zur philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft ›Cassirer und Goethe‹ vorgelegt hat, wirft in ihrem Beitrag einen Blick auf die Art und Weise, wie Cassirer als Leser der klassisch-romantischen Literatur (insbesondere Heinrich von Kleist) das Verhältnis zwischen Literatur und Philosophie entwirft, und fragt zugleich nach den möglichen Gründen, warum Cassirers Einfluss in der Literaturwissenschaft selbst heute noch nahezu inexistent bleibt, wo viele kulturphilosophische Stimmen (Clifford Geertz, Michel Foucault) doch zugleich ein breites Echo gefunden haben und neue Lektüren stimulieren.

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Der Beitrag des 2009 verstorbenen Germanisten Gert Mattenklott beschäftigt sich mit der Frage nach Cassirers Ansichten über den ästhetischen Modernismus der zweiten Hälfte des 19. und 20. Jahrhunderts und zeigt auf, inwiefern Cassirers fehlende Auseinandersetzung mit der künstlerischen Moderne für die Sperrigkeit seines Denkens in aktuellen Diskursen verantwortlich ist.

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Brigitte Falkenburg widmet sich den Hauptmerkmalen, die Cassirer den Naturwissenschaften und der Technik im Rahmen seiner Theorie der symbolischen Formen zuspricht, und schließt mit einigen lesenswerten Bemerkungen zu Cassirers rudimentärer Auseinandersetzung mit den ethischen Aspekten der Technik in der kapitalistischen Wirtschaft.

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Mit einer so genannten »anthropologischen Theorie der Technik« bei Cassirer beschäftigen sich die Beiträge von Christian Bermes und Volker Gerhardt.

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Zu guter Letzt macht Michael Moxter das Recht als symbolische Form zum Thema seiner extemporierenden Annäherung mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Recht, Sprache und Mythos.

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Der fünfte Teil (S. 647–700) mit dem Titel Fragen des Stils? umfasst nur zwei Beiträge:

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Während Roger H. Stephenson nach Cassirers Stilbegriff fragt und dessen Denk- und Schreibstil skizziert, geht Oliver Müller von der These aus, dass Cassirer nach der Davoser Disputation mit Martin Heidegger seine eigene Position zu stärken suchte, indem er sein Programm einer Philosophie der symbolischen Formen an die sich zeitgleich etablierende philosophische Anthropologie von Max Scheler und Helmuth Plessner annäherte, ohne aber den eigenen Ansatz aufzugeben.

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Ein vielstimmiges und weitsichtiges Nachwort

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Es zeugt von der zunehmenden Konsolidierung der Cassirer-Forschung, dass nicht nur die Sicherung ihrer Wissensbestände vorangetrieben wird, sondern sich die Werkrezeption und Werkreflexion zunehmend in einem eigenständigen Wissenschaftsfeld institutionalisiert. Dies lässt sich in den letzten Jahren an der sehr großen Anzahl von Veröffentlichungen mit kanonisierendem Anspruch ablesen – allgemeine Einführungen in die Kulturphilosophie Cassirers oder zu wichtigen Schlüsselwerken, Übersichten, Biographien etc. –, die den Grad der Ausdifferenzierung, den die Cassirer-Forschung derweil erreicht hat, verdeutlichen. Vor diesem Hintergrund kommt der beachtlichen Tagungsdokumentation der Herausgeberin Birgit Recki eine mehrfache Bedeutung zu. Zunächst ist besonders positiv hervorzuheben, dass die Herausgeberin nicht nur eine Vielzahl namhafter Cassirer-ForscherInnen als Beitragende gewinnen konnte, die bereits Publikationen mit Standardwerk-Potential hervorgebracht haben, sondern dass die AutorInnen dieses Bandes aus acht Ländern (Deutschland, Schweiz, Italien, Frankreich, Großbritannien, Holland, Dänemark und USA) im Oktober 2007 in Hamburg zusammenkamen. Somit ist tatsächlich ein internationaler Forschungsbericht entstanden. Der Tagungsband bietet mit seinen 33 Beiträgen ein vielstimmiges und weitsichtiges Nachwort zu der Hamburger Ausgabe.

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Die Fülle der angesprochenen Themen und Argumentationen zeigt aufs Neue das immense Potential von Cassirers Werk für die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Ein großes Verdienst des Buches liegt in der Formulierung von Forschungsdesideraten wie zum Beispiel eine eingehendere Analyse von Cassirers Interpretation des aristotelischen Funktionsbegriffs mit Bezug auf die Wissenschaften (S. 31), kritische und vergleichende Untersuchungen zu seinen Spinoza-Texten (S. 41) oder eine systematische Überprüfung von Cassirers philosophischer Konzeptualisierung der so genannten zwei Kulturen (S. 109). Somit bildet der Tagungsband einen fruchtbaren Boden für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Auf mindestens zwei Beiträge des Tagungsbandes verweist Andreas Jürgens in seiner im Folgenden zu besprechenden Dissertation. Dabei handelt sich um den Aufsatz von Herbert Kopp-Osterbrink über die Formen von Philosophiegeschichtsschreibung in Cassirers Philosophie und um den Aufsatz von Reinhard Mehring über die Zeitgenossenschaft Ernst Cassirer und Thomas Mann. Die neueste Cassirer-Forschung hat also in Jürgens’ wissenschaftliche Qualifikationsarbeit Eingang gefunden.

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Ernst Cassirers Spätwerk im amerikanischen Exil

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Seinem Anspruch, Monographien und Aufsätze, die Ernst Cassirer in den Jahren seines amerikanischen Exils (1941–1945) verfasst und publiziert hat, »in ihrem Zusammenhang interpretatorisch zu erschließen« (Einleitung, S. 11), wird Andreas Jürgens in mehrfacher Hinsicht gerecht. Zum einen hält sich der Verfasser weit entfernt von einer bloß referierenden Wiedergabe, denn der Philosoph strebt vielmehr, die methodologische Absicherung seiner Rekonstruktion dadurch zu erreichen, dass er Cassirers Gedankengefüge in der philosophischen Klammer »Humanismus und Kulturkritik« erschließt. Hierfür vertieft er sich bei umfänglicher und gewissenhafter Erforschung der nachgelassenen Manuskripte in die Einzelprobleme, um perspektivische und inhaltliche Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufzudecken.

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Der Verfasser versteht seine Studie als »Beitrag zur systematisch-historiographischen Rekonstruktion der Philosophie Ernst Cassirers in der Zeit seines amerikanischen Exils« (S. 14). Da es sich dabei um Spätwerke handelt, hat dies für den Untersuchungsgang naturgemäß die methodische Konsequenz, dass der Verfasser »retrospektiv« (S. 13) ausgreifen und die vorausgehenden Entwicklungen und Transformationen in der Philosophie Cassirers rekonstruieren muss, um die intellektuelle Spezifik seiner späten ›amerikanischen‹ Jahre herauszuarbeiten. 5 Dabei geht Jürgens von der Forschungshypothese aus, dass Cassirers große Werke seiner amerikanischen Exilzeit, An Essay on Man (1944) und The Myth of State (posthum, 1946) in einer gedanklichen Kontinuität stehen, und bemüht sich anschließend um die Beschreibung einer »Engführung von philosophischer Anthropologie und politischer Philosophie« (S. 16) im Spätwerk Cassirers.

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Aufbau und Gang der Untersuchung

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Der Aufbau der Dissertation trägt dem Erkenntnisinteresse und dem methodologischen Ansatz Rechnung: Erstens fragt der Verfasser nach der Humanitätsidee des späten Cassirer und deren Quellen, wobei er die Begriffe ›Geschichte‹, ›Individualität‹ und ›Erinnerung‹ als philosophische Teilchen des Cassirer’schen Humanitas-Gedankens identifiziert (2. Kapitel), und verweilt anschließend anderthalb Seiten bei einer zugleich bilanzierenden und vorgreifenden Zwischenbetrachtung zu Cassirers weltnahem, ja politischem Denken (3. Kapitel). Zweitens untersucht der Autor die kulturanthropologische Transformation der Humanitätsidee Cassirers in An Essay on Man und zeigt, dass die systematisierende Bearbeitung der konstitutiven Elemente ›Geschichte‹, ›Erinnerung‹ und ›fortschreitende Selbstbefreiung‹ in ethisch-politischer Perspektive als engagierte Kulturphilosophie gelesen werden kann (4. Kapitel). Nach einer weiteren Zwischenbetrachtung (5. Kapitel) gleitet man sanft hinüber in das nächste Kapitel, das der Analyse des posthum erschienenen The Myth of State gilt. Hier fragt der Verfasser nach der perspektivischen und inhaltlichen Kontinuität zu An Essay on Man und nach der Rekonstruktion der bereits seit den späten 1920er Jahren nachweisbaren Kritik Cassirers an ontologischen und geschichtsdeterministisch begründeten Formen von Fatalismus und Totalitarismus. Zur Exemplifizierung dienen die Staatstheorie G. W. F. Hegels, die Existentialanalytik Martin Heideggers und die Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers, in denen Cassirer die ›Depotenzierung des Menschen‹ bzw. die Negation und Relativierung der eigenen humanistisch orientierten Idee der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen erkenne (6. Kapitel). Im Schlusskapitel bilanziert Andreas Jürgens die Ergebnisse seiner Arbeit und unterbreitet zugleich einen Vorschlag zur begrifflichen Charakterisierung der intellektuellen Spezifik von Cassirers Werk im amerikanischen Exil.

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Finessen in der Akzentsetzung

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Ein besonderes Verdienst der Dissertation liegt in der Einbeziehung von bisher wenig beachteten Nachlass-Manuskripten wie das mit »Geschichte« überschriebene Göteborger Schriftstück (1936/1937) und das von den zeitgenössischen Herausgebern zur Publikation des Myth of the State nicht berücksichtigte Manuskript »The Myth of the Twentieth Century«. Nicht zuletzt zeigt sich darin der deutliche Gewinn, der sich aus der Verfügung über die Gesammelten Werke und den Nachlass für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Cassirers umfangreichem Werk ergibt.

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Durch sorgfältige Analysen bekräftigt der Verfasser die Notwendigkeit einer Neubewertung des Cassirer’schen Spätwerks. So erkennt er zum Beispiel auf dem Boden geschichtsphilosophischer Reflexionen im Geschichts-Manuskript Ansätze für einen Paradigmenwechsel im Cassirer’schen Denken: von einer rückwärtsgewandten, ja weltfremden Perspektive philosophisch-historiographischer Forschung zu einem von Gegenwartsinteresse und Zukunftsorientiertheit geprägten Standpunkt. Vor allem beim reflexiven Zusammenspiel von ›Geschichte‹ und ›Erinnerung‹ sei diese veränderte Perspektivierung deutlich erkennbar, denn Cassirer sehe im Vermögen zur Erinnerung die Bedingung und Möglichkeit von geschichtlicher Erkenntnis gegeben; Cassirers Auffassung des Erinnerungsvermögens changiere folglich »zwischen apriorischer Bedingung und aposteriorischem Prozess.« (S. 24) Der Historiker solle nach Cassirer das Vergangene bzw. das Erinnerte zu einem »Geschichtsbild« werden lassen und seine visionäre Kraft bestünde darin, dass er das historische Material nicht lediglich reproduziere, sondern es auch forme, also in einer überzeitlichen Perspektive deute (S. 29). So liest der Autor die Auffassung Cassirers über die Aufgabe der Geschichtsschreibung nicht bloß als dem akademischen Interesse folgend, sondern betrachtet sie im Horizont der persönlichen Lebens- und politischen Zeitumstände (Exil und Nationalsozialismus).

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In seinen gelungensten Passagen überzeugt der Autor durch hohe Verdichtung und treffsichere Zuspitzungen, wie zum Beispiel die kleinen, aber scharfen Beobachtungen über die folgenreiche Akzentmobilität im Wort »rekonstruieren«, an der zum einen die Cassirer’sche Hermeneutik des geschichtlichen Erkennens und zum anderen grundlegende Strukturmomente seiner philosophischen Methode sichtbar werden: einerseits rekonstruieren, d. h. der Philosophiehistoriker ›fordert zurück‹, vergegenwärtigt das Gedachte auf Grundlage der es bezeugenden Dokumente, andererseits rekonstruieren, d. h. der Philosophiehistoriker muss das Gedachte ›von neuem bauen‹, also erneut denken. Daraus gehe eine fortwährende Aktualität des Gedachten hervor: »Der rezipierende Rekonstrukteur des historischen Gedankens ist also zugleich dessen produzierender Konstrukteur im Horizont seiner eigenen Zeit« (S. 32).

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Mit dem oben skizzierten denkstrukturellen Ertrag bewegt Jürgens sich bestens versorgt in die nächsten Unterkapitel, die nach den Quellen des Cassirer‘schen Humanitätsmodells fragen und dieselben in der Renaissance und bei Goethe identifizieren. Die an Cassirers Aufsatz »Giovanni Pico della Mirandola. A Study in the History of Ideas« (1942) schlüssig belegten Thesen entkräften Edmund Husserls bekannten Vorwurf, »dass Cassirers Arbeiten etwas Reproduktives anhafte und es ihnen an philosophischer Originalität fehle« 6 . Cassirers Renaissance-Untersuchungen seien, so der Verfasser, nicht lediglich als rein historische Beiträge, sondern als »Rückprojektionen der Moderne« (S. 41), als historiographische Aktualisierungen der Renaissancephilosophie aufzufassen und, daraus folgend, als Rückprojektion einer humanistischen Tradition, in deren geschichtlicher Linie Cassirer sich selbst verorte.

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Lob und Kritik

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Wenngleich sich Andreas Jürgens bei seinen Ausführungen über Cassirers späte Goethe-Rezeption teilweise auf gebahnten Wegen bewegt, auf denen er mit seinem argumentativen Gepäck ganz gut vorankommt, gelingt es ihm überzeugend, der systematisch und theoretisch nur schwach konturierten Cassirer’schen Humanitätsidee ein begriffliches Relief zu geben und die bei Cassirer nur indirekt artikulierte Kulturkritik als ›Reflexionsmodus‹ zu präzisieren.

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Dem Buch beigegeben sind auch ein kleines Personenregister, das dem Lesepublikum eine schnelle Übersicht vermittelt, sowie ein umfängliches und aktuelles Quellen- und Literaturverzeichnis. Die angeführten Titel stammen aus verschiedenen Bereichen, Sprachen und Kontinenten, ihre Datierung reicht größtenteils bis zum Einreichungsdatum der Dissertation (2010).

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Ein formeller Kritikpunkt betrifft die Zwischenbetrachtungen I (Kapitel 3) und II (Kapitel 5). Beide Einlagen fallen leider viel zu kurz (anderthalb- bzw. einseitig) aus und stellen keine argumentative Einheit dar, um als selbständige Kapitel betrachtet bzw. nummeriert zu werden. Sie fassen vielmehr die wichtigsten Aussagen und Ergebnisse des abschließenden Kapitels zusammen und leiten auf das nächste über, wären also meines Erachtens am Ende des 2. bzw. 4. Kapitels vorteilhafter platziert gewesen.

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Die sonst manchmal störende, genre-übliche Sprach-Esoterik akademisch-philosophischen Schreibens, d. i. die Vorliebe für terminologische Kunststücke, tritt in der Dissertation von Andreas Jürgens kaum in Erscheinung. Die Vorzüge einer klaren Schreibweise kommen dagegen voll zur Geltung: Wir bleiben stets bei konkreten Fragen und spüren doch die Weite des Blicks, mit dem der Verfasser die Zusammenhänge überschaut. Alles in allem hat Andreas Jürgens eine gründlich gearbeitete, Kenntnis fördernde und gut lesbare Monographie vorgelegt, die eine große Forschungslücke in Hinsicht auf Cassirers Spätwerk füllt.

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Fazit

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Insgesamt lässt sich als Fazit festhalten: Die vorliegenden Bücher reihen sich glanzvoll in den Reigen jener Arbeiten, die Cassirers bemerkenswerten Beitrag zur Philosophie der Moderne mit glücklicher Hand ins wissenschaftliche Blickfeld rücken. Bekanntlich konnte Professor Ernst Cassirer nur das Beste aus einem herausfordern, wie sein damaliger Kollege in Yale, Charles W. Hendel, einst bemerkte. 7 Ein Humanist im schönsten Sinne des Wortes! Es bleibt nur zu hoffen, dass der Klassiker Ernst Cassirer künftig den Weg in die Lehrpläne deutscher Universitäten wiederfinden wird.

 
 

Anmerkungen

Birgit Recki: Cassirer, Leipzig: Reclam 2013, S. 9.   zurück
Siehe Dorothea Frede/ Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, WBG: Darmstadt 1997.   zurück
Charles Percy Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, übers. v. Grete u. Karl-Eberhardt Felten, Stuttgart: Klett 1967.   zurück
Zitiert nach Philipp Stoellger, S. 393.   zurück
Die von Jürgens ausgewählte Methode orientiert sich an der Transformations-These Heinz Paetzolds. Das philosophische Œuvre Ernst Cassirers zu verstehen heißt demzufolge, interne Transformationen seiner Philosophie zu begreifen. (Heinz Paetzold: Ernst Cassirer zur Einführung, 2. überarb. Auflage, Hamburg: Junius-Verlag, 2002, S. 11).   zurück
Auf Seite 43 zitiert Andreas Jürgens den auf 1. Februar 1912 datierten Brief von Edmund Husserl an Paul Natorp, in dem Husserl auf Cassirers Philosophie als »das feinstsinnige Mitleben mit fremder Originalität« vorwurfsvoll hinweist (vgl. Edmund Husserl: Briefwechsel, Band 5: Die Neukantianer. In Verb. mit E. Schuhmann hg. v. K. Schuhmann, Dordrecht/Boston/London: Kluwer 1994. [= Husserliana. Dokumente. Bd. 3,5. Briefwechsel]).   zurück
Vgl. John Michael Krois: Zum Lebensbild Ernst Cassirers (1874–1945). In: http://www1.uni-hamburg.de/cassirer/intro/krois.html (01.04.2014).    zurück