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Präzise kartographiert

Thorsten Valks Studienbuch »Der junge Goethe«

  • Thorsten Valk: Der junge Goethe. Epoche - Werk - Wirkung. (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte) München: C. H. Beck 2012. 288 S. Paperback. EUR (D) 22,95.
    ISBN: 978-3-406-63854-1.
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»Was der junge Napoleon Bonaparte für die europäische Politik, das ist der junge Goethe für die deutsche Literatur« (S. 9) – mit dieser Reverenz an Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte 1 eröffnet Thorsten Valk sein Studienbuch zum jungen Goethe. Der Vergleich mit Napoleon ist gewagt, doch plausibel: Die Umwälzungen, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts das etablierte Literatursystem erschüttert haben, führt Valk auf das Werk des jungen Goethe zurück. Seine eingangs formulierte Grundthese lautet, dass es insbesondere Goethe gewesen sei, der innerhalb eines einzigen Jahrzehnts, zwischen 1765 und 1775, die deutsche Literatur in nahezu allen Gattungen erneuert habe. Valk bindet diese Einschätzung an die für Goethes Frühwerk zentralen Parameter »Originalität, Spontaneität und Authentizität« (S. 9), an denen bis ins 20. Jahrhundert hinein nahezu jedes Kunstwerk sich habe messen lassen müssen. Diese genieästhetisch akzentuierte Lesart der Goetheschen Werke prägt das Studienbuch maßgeblich: »Mit seiner ersten Tragödiendichtung revolutioniert Goethe die gesamte Dramenästhetik des 18. Jahrhunderts« (S. 134), stellt Valk etwa fest und erinnert daran, dass Goethes 1774 uraufgeführter Götz von Berlichingen geradezu ostentativ sämtliche Konventionen des klassizistischen Dramas sprengt und zugleich ein Höchstmaß an Authentizität dadurch erreicht, dass er die zeitgenössische Forderung nach einem schichtenspezifischen Sprachgebrauch auf der Bühne in radikaler Weise umsetzt (S. 134 f.). Dass der Eindruck des Spontanen und Authentischen indessen oftmals erst das Resultat einer aufwendigen Rhetorik und sprachkünstlerischen Inszenierung ist, vergegenwärtigt Valk andererseits an der berühmten Ode Wandrers Sturmlied (S. 97–103).

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Das Studienbuch über den jungen Goethe ist in fünf Hauptteile untergliedert: Auf eine ideengeschichtlich und sozialhistorisch ausgerichtete Einführung in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts (Teil I) folgen textnahe Interpretationen zu ausgewählten Gedichten und Dramen, zum Briefroman Die Leiden des jungen Werthers sowie zu den bekanntesten kunsttheoretischen Schriften (Teil II bis IV). Das Studienbuch schließt mit Ausführungen zur Wirkungsgeschichte des jungen Goethe, indem es sich den frühen Inszenierungen des Götz, den zeitgenössischen Debatten rund um den Werther sowie ausgewählten Gedichtvertonungen von Breitkopf bis Schubert zuwendet (Teil V). Annotierte Auswahlbibliographien bieten eine erste Orientierung und ermöglichen einen raschen Zugriff auf die kaum noch überschaubare Forschungsliteratur. Eine Zeittafel zum Leben und Wirken des jungen Goethe sowie ein Personen- und Werkregister runden den Band ab.

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Mit seinem Studienbuch Der junge Goethe hat Valk eine mustergültige Einführung vorgelegt, von deren Lektüre nicht nur Studierende der Germanistik profitieren werden, sondern auch all jene Leser, die sich einen soliden Überblick über Goethes Frühwerk verschaffen möchten. Hervorzuheben ist die souveräne Klarheit, mit der Valk im einleitenden Teil jenes zeithistorische Panorama entwirft, vor dessen Hintergrund in den nachfolgenden Kapiteln das Werk des jungen Goethe erläutert wird. So zeigt sich etwa, dass sich das Autonomiepostulat des jungen Goethe weitgehend der deutschen und französischen Aufklärung verdankt, auch wenn er die Aufklärungstradition in Werken wie dem Götz oder dem Werther mitunter heftig kritisiert.

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Die in Goethes Leipziger Studienzeit von 1765 bis 1768 entstehenden Werke würdigt Valk mit einer differenzierten Analyse. Er attestiert den Leipziger Rokokogedichten ebenso wie dem vermeintlich traditionellen Schäferspiel Die Laune des Verliebten eine formale und gedankliche Eigenständigkeit, die zunächst überrascht. Doch für Valk sind die Leipziger Gedichte nicht bloß Etüden eines Kunstnovizen; er führt exemplarisch an der Sammlung Annette vor, »wie Goethe in der gleichsam agonalen Auseinandersetzung mit den prominenten Vertretern des literarischen Rokoko neue Schreibweisen entwickelt, ungewohnte Darstellungsmodi erprobt und etablierte Motive neu konfiguriert« (S. 64).

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Valks Studienbuch verknüpft die Interpretation literarischer Werke mit der Darstellung jener kunsttheoretischen Schriften, die Goethe neben Hamann und Herder zum einflussreichsten Wegbereiter der Genieästhetik in Deutschland avancieren ließen. Die vermutlich 1771 in Frankfurt vorgetragene Rede Zum Shakespears Tag interpretiert er im Rekurs auf den Götz als »Selbstdeutung eines noch jungen Dichters«, der mit seinen Ausführungen nach »literarhistorischer Legitimation« strebt (S. 217). Eingehender widmet er sich dem Aufsatz Von Deutscher Baukunst, den er vor dem Hintergrund der architekturtheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts erschließt und dessen diskursgeschichtliche Fernwirkung er andeutet, die bis zur späten Vollendung des Kölner Domes im Jahre 1880 reicht.

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Wenngleich die Genieästhetik des jungen Goethe immer wieder in den Mittelpunkt des Studienbuches rückt, vermag sich Valk auf wohltuende Weise gegen ihre oftmals forcierte und vor begrifflicher Klarheit zurückscheuende Rhetorik zu immunisieren. Seine sprachlich gewandten und gedanklich luziden Interpretationen greifen etablierte Deutungstraditionen auf, setzen aber mitunter auch ungewohnte Akzente. Gerade weil Valk, wie seine Analyse der Leipziger Gedichte zeigt, auch neue Perspektiven ins Spiel bringt, erweist es sich als ungünstig, dass sein Buch gemäß den Vorgaben der Beck-Reihe Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte keinen Fußnotenapparat mit Forschungsdiskussionen enthält, sondern lediglich annotierte Auswahlbibliographien bietet. So ist nicht immer eindeutig nachzuvollziehen, wo und wie das Studienbuch an bereits vorliegende Goethe-Arbeiten älteren und jüngeren Datums anknüpft und wo es diese übersteigt.

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Dem Format eines Studienbuchs entsprechend verzichtet Valk sowohl auf einleitende methodologische Erörterungen als auch auf allzu spezialisierte Fragestellungen. Nach dem ideengeschichtlich und sozialhistorisch ausgerichteten Einführungsteil rücken die Werke selbst ins Zentrum des Interesses. Viele Leserinnen und Leser dürften daher mit Gewinn und Vergnügen zu einem Buch greifen, das, frei von jeder wissenschaftlichen Pedanterie und selbstgenügsamen Gelehrsamkeit, die Aufgaben einer fundierten Einführung konzis und elegant erfüllt.

 
 

Anmerkungen

Das erste Kapitel des ersten Bandes von Thomas Nipperdeys dreiteiligem Geschichtswerk Deutsche Geschichte trägt den Titel Der große Umbruch und dieses leitet Nipperdey mit dem Satz ein: »Am Anfang war Napoleon«, um in der Folge den »Umsturz der alten Ordnung« und damit den Beginn »der modernen Welt« vor allem Napoleons Wirken zuzuschreiben. – Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München: C. H. Beck 1983, 21984, S. 11.   zurück