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›Historische Epistemologie‹ und ›Science in Context‹
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Welchen Anteil haben Phantasie, Fiktion und Literatur an der Produktion des kosmologischen und astronomischen Wissens der Neuzeit? In einigen, heute ›klassischen‹ Konzepten zur Wissenschaftstheorie hat diese Frage bislang nur eine marginale Rolle gespielt. Seit den 1920er Jahren ziehen beispielsweise Logischer Empirismus, Kritischer Rationalismus oder auch der strukturalistische Ansatz Thomas S. Kuhns die sogenannte ›astronomische Revolution‹ des 16. und 17. Jahrhunderts als prominentes Beispiel für die Abgeschlossenheit wissenschaftlicher Systeme sowie deren ausschließliche Fundierung in Beobachtungs- und Experimentalreihen heran.
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Zeitlich parallel hat sich mit der ›Historischen Epistemologie‹ eine gegenläufige Strömung innerhalb der Wissenschaftshistoriografie herausgebildet, die eben diese scharfe Grenzziehung unter der Perspektive einer Geschichte des Wissens bewusst wieder durchlässig macht. Sie setzt weder die Gegenstände des Wissens noch das Wissen selbst im Sinne einer absoluten Wahrheit als überzeitliche Konstante, sondern interessiert sich für die Bedingungen, die in einer bestimmten historischen Phase in einem komplexen Zusammenspiel die Konstruktion eines spezifischen Wissens möglich machen.
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So sind seit den 1980er Jahren mit den Arbeiten Bruno Latours/Steve Woolgars, Steven Shapins/Simon Schaffers, Peter Galisons und Hans-Jörg Rheinbergers eine Reihe von historischen Fallstudien erschienen, die sich einem integralen, disziplinübergreifenden Blickwinkel einer ›Science in Context‹ verschrieben haben. Sie untersuchen am Beispiel konkreter »Wissenschaftskollektive«
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den Komplex technischer, rhetorischer, sozialer und politischer Praktiken, die in bestimmten historischen Phasen die Entstehung neuer »epistemischer Dinge«
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und »wissenschaftlicher Tatsachen«
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In dieser Tradition der ›Historischen Epistemologie‹ steht auch die Studie Frédérique Aït-Touatis zum Verhältnis von ›Science and Literature‹. Ausgehend von der These Michel Serres’, dass sich Literatur und Wissenschaften hinsichtlich ihrer wissenskonstituierenden Funktionen und Kompetenzen nicht klar unterscheiden lassen und gemeinsamen Anteil an der Hervorbringung von Wissen haben, untersucht Aït-Touati in ihrer Arbeit literarische und wissenschaftliche Texte zur Kosmologie, Astronomie und Optik des 17. Jahrhunderts unter einer dreifachen Fragestellung; gefragt wird erstens, nach der heuristischen Funktion von Fiktionen sowie den Strategien zur Herstellung eines einheitlichen und glaubwürdigen Weltbildes, zweitens, nach den Repräsentationsweisen von Nicht-Wissen, d.h. den literarischen Möglichkeiten der Beschreibung einer unbekannten, visuell noch nicht oder nur teilweise zugänglichen Welt sowie drittens, nach den Funktionen unterschiedlicher Rede- und Erzählformen sowie der Textsorten und Genres zur Beschreibung der kopernikanischen Kosmologie (vgl. S. 10).
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Parallellektüren und synthetische Methode
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Dem Umstand, dass es sich bei der ›nova scientia‹, aus der die Astronomie und Kosmologie der Neuzeit hervorging, um eine nationenübergreifend angewandte Wissenschaftsmethodologie handelte, trägt die Untersuchung erfreulicherweise Rechnung, indem sie englisch-, französischsprachige sowie lateinische Texte berücksichtigt. Angesichts dieser komparatistisch erweiterten Perspektive begrenzt Aït-Touati sinnvollerweise ihr Textkorpus durch eine genrespezifische Einengung. Nicht berücksichtigt werden beispielsweise die Vielzahl kosmologischer Texte des 17. Jahrhunderts, die eine ptolemäische oder neuplatonische Kosmologie repräsentieren, ebenso wenig wie literarische Texte, »that take a topic from science but not its modes of expression« (S. 8). Es geht ihr stattdessen um jene hybriden Texte, die sowohl narrativ als auch wissenschaftlich konzipiert sind: kurz, um »narrative treatises and fictions« (ebd.). Zudem ist die Arbeit zeitlich auf einen Untersuchungszeitraum von knapp 65 Jahren begrenzt. Dieser setzt am Ende des ersten Drittels des 17. Jahrhunderts mit Keplers Traum (1634)
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ein und endet an der Schwelle zum 18. Jahrhundert mit Christiaan Huygens Cosmotheoros (1698).
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Es erweist sich ebenfalls als sinnvoll, dass die Texte nicht in erster Linie chronologisch, sondern thematisch gruppiert und analysiert werden. Aït-Touati bedient sich dazu eines »synthetic plan that articulates the issues logically while retaining the chronology as much as possible within each chapter« (S. 11). Somit ergibt sich aus der dreigliedrigen Fragestellung eine ebenso übersichtliche wie transparente Einteilung in drei Großkapitel, bestehend aus jeweils zwei Unterkapiteln, die dann wiederum – mit Ausnahme von I.2 – jeweils einem Autor gewidmet sind. Dieser klug gewählte Aufbau erlaubt es, thematisch fokussiert die ›Poetiken‹ einzelner Autoren zu beschreiben, um diese dann wiederum synthetisch mit anderen Autoren parallel zu lesen und in Beziehung zu setzen. Insofern ist es z. B. nachvollziehbar, Keplers Traum mit den ›Moon-Novels‹ von Godwin bis Cyrano, die popularisierenden Darstellungen Fontenelles und Huygens’ und – unter dem Aspekt der Beobachtungspraxis – schließlich Robert Hookes Micrographia mit der wissenschaftskritischen Prosa Margaret Cavendishs in Verbindung zu bringen.
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Flüge der Phantasie
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Das erste der drei Hauptkapitel behandelt die Rolle literarischer Imaginationen bzw. Fiktionen für die Erzeugung wissenschaftlicher Tatsachen. Den Anfang der Analyse bildet Johannes Keplers sowohl Fiktion als auch gelehrte Information kombinierender Traum, der sich einerseits durch seinen Titel in die seit der Antike bestehende Tradition literarischer Traumerzählungen stellt, andererseits aber wesentliche Elemente der astronomischen und kosmologischen Diskussion um die kopernikanische Hypothese aufgreift. Nicht nur wird der Gang der Erzählung, die Reise zum Mond, durch einen ausführlichen Apparat von mehr als 200 Fußnoten ausführlich kommentiert, vielmehr übernimmt für Kepler der literarische Text zusätzlich die Funktion eines Gedankenexperiments, das im Blick vom stillstehenden Mond auf die sich bewegende Erde kulminiert und damit die heliozentrische Hypothese plausibilisiert und zugleich visualisiert.
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Keplers Traumerzählung werden sodann die Mondromane Francis Godwins und Cyrano de Bergeracs sowie die theoretische Abhandlung John Wilkins’ gegenübergestellt. Im Unterschied zu Keplers ›optical voyage‹ mittels Imagination lässt sich an diesen Texten der schrittweise Übergang hin zu einer ›mechanical voyage‹ nachverfolgen, mit dem auf der Darstellungsebene eine Transformation der Beglaubigungsstrategien von einer ›Poetik des Wunders‹ hin zu einer ›Poetik des Möglichen‹ korrespondiert. So werden bei Kepler die Mondreise und die kopernikanische Hypothese in Form des Gedankenexperiments eindeutig von der Gelehrtenrede des Erzählers, die den Stand ›gesicherten‹ selenographischen Wissens referiert, abgegrenzt. In Godwins The Man in the Moone (1638) wird dagegen die wissenschaftliche Rede erzähltechnisch unvermittelt in die fiktionale Erzählung integriert, wodurch beide in den Bereich des »possible [but] yet incredible« rücken (S. 72).
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Als einer der ersten Leser Godwins versucht John Wilkins in seiner Abhandlung The Discovery of a World in the Moone (1638) diese mögliche Fiktion in den Stand eines faktischen Wissens zu überführen. Er greift hierzu auf Theoreme der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung zurück, die sich im 17. Jahrhundert in unterschiedlichen Arbeits- und Forschungsfeldern (u. a. der Glückspieltheorie und dem Versicherungswesen) herausgebildet hat,
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um mit ihrer Hilfe »to shift Copernican theory from the weakest degree of certitude (Godwin’s possible fiction) to a higher degree, the probable« (S. 57).
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Dementgegen stehen am Ende dieser Reihe die beiden postum veröffentlichten Erzählungen Cyranos The Comical History of the States and Empires of the Moon (1657) und The Comical History of the States and Empires of the Sun (1662)
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. Die Flüge Dyrconas zum Mond und zur Sonne dienen hier nur nebenbei dem Nachweis der Erdrotation und ihrer Bewegung um die Sonne. An die Stelle des Gedankenexperiments treten eine ausführliche Beschreibung der nun durch mechanisches Fluggerät bewältigten Flugreise als auch ausgedehnte philosophische Unterredungen Dyrconas mit den Mond- bzw. Sonnenbewohnern, in denen christlich-aristotelische Positionen zur Natur- und Subjektphilosophie gegen neuere Ansätze einer materialistischen Naturphilosophie ausgespielt werden. Fiktion erhält hier die Funktion, Räume für ein blasphemisches und freies Denken zu eröffnen.
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Herstellung von Evidenz: Hypothese, Fiktion, Erzählung
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Im Gegensatz zu den literarischen Fiktionen des ersten Teils werden im zweiten Teil mit Bernard de Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes (1686) und Christiaan Huygens’ Cosmotheoros (1698) zwei wissenschaftliche, zugleich aber populär gehaltene Kompendien, in denen sich der Stand des kosmologischen Wissens am Ende des 17. Jahrhunderts spiegelt, auf ihren Gebrauch fiktionaler Rede sowie ihre unterschiedlichen Strategien zur Herstellung von Evidenz hin untersucht. Der entscheidende epistemische Umbruch, den beide Texte markieren, besteht hier darin, dass fiktionale Rede weniger eine Repräsentations- und Visualisierungsfunktion kosmologischen Wissens als vielmehr die Funktion seiner Beglaubigung übernimmt. Wie bereits im ersten Kapitel bedient sich Aït-Touati auch hier gezielter close-readings und zeigt auf, dass Fontenelle und Huygens, die gleiche Wirkungsabsicht verfolgend, sich entgegengesetzter Beglaubigungsstrategien bedienen. Fontenelle zunächst erachtet Fiktion und Erzählung als nützliche Mittel zur Darstellung und Rahmung wissenschaftlicher Fakten, indem er beispielsweise das Sonnensystem in der Allegorie der Oper als ein harmonisches und kontinuierliches ,›Werden‹ der Welten inszeniert oder auf der Basis von Analogiebildungen die Ausstattung der Bewohner einzelner Planeten detailliert beschreibt.
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Huygens dagegen bedient sich im Cosmotheoros einer Rhetorik des gelehrten Wissens. In Abgrenzung von der popularisierenden wie fiktionsreichen Darstellung Fontenelles, die er im Vorwort mit Nachdruck kritisiert, wendet er sich im beständigen – expliziten wie impliziten – Hinweis auf seine astronomische Ausbildung und Fachkenntnis und nicht zuletzt durch die bewusste Entscheidung für eine lateinische anstelle einer französischsprachigen Abfassung vor allem an eine astronomiekundige Leserschaft. Gegenüber Fontenelles ›leeren‹ – allein der Einbildungskraft entspringenden – Fiktionen erhebt er den Anspruch, für den Bereich möglicher Beobachtung überprüfbare Hypothesen, für die sich der astronomischen Demonstration (noch) entziehenden Bereiche dagegen zumindest ›glaubwürdige Vermutungen‹ (credible conjectures) zu formulieren. Den Grad der Glaubwürdigkeit der Hypothesen wie der Vermutungen versucht Huygens schließlich dadurch zu erhöhen, dass er beide Aussagetypen in ein möglichst widerspruchsfreies System des Wissens integriert, aus dem sich dann wiederum per Deduktion neue credible conjectures ableiten lassen sollen (vgl. S. 102–110).
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Die Parallellektüre beider Kompendien und die Herausarbeitung gegensätzlicher Verfahren zeigt, dass für eine Funktionsbestimmung von Fiktionen innerhalb der Ordnung des Wissens weniger eine »dichotomy between fiction and nonfiction, but rather […] a continuum going from more to less figuration« (S. 127) entscheidend ist. Fiktion erhält damit innerhalb des gleichen Genres eine Doppelrolle: Sie fungiert als konstruktives Vermögen der Wissensbildung, zugleich aber wird ihr auch die entgegengesetzte Funktion eines Abgrenzungskriteriums gegenüber hinreichend bestätigten und somit als ›gesichert‹ geltenden astronomischen Data zugewiesen.
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Poetik und Praxis des Beobachtens
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Mit dem dritten und letzten Lektüre-Kapitel Observing Monsters weitet Aït-Touati ihre Untersuchungsperspektive nochmals in zweifacher Hinsicht aus. Als innovativ erweist sich zunächst der Übergang von der makrokosmischen Perspektive der kosmologischen Debatte hin zu Robert Hookes Micrographia (1665). Es gelingt ihr, die enge Verbindung von Naturgeschichte und Astronomie aufzuzeigen, insofern Hooke für sein Werk Galileis SidereusNuncius (1610) zum Vorbild nahm und dessen Projekt einer Lesbarmachung der Wunder der Natur nun in Richtung des Mikrokosmos fortzusetzen versuchte.
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Die eigentliche Pointe des Kapitels besteht jedoch darin, dass sich sowohl in der Micrographia als auch in Hookes astronomischer Schrift An Attempt to Prove the Motion of the Earth (1674) eine weitere Transformation von einer Poetik der Wahrscheinlichkeit, die jeweils durch textuelle Argumentation plausibilisiert werden muss, hin zu einer ,Poetik des Beweises‘ durch naturalistische Bilder (etwa die detailgetreue Zeichnung eines Fliegenauges), Beobachtungen und eines ›experimentum crucis‹ ausmachen lässt (vgl. S. 163 ff.). Während diese These an sich mit Blick auf Hookes Vorwort zur Micrographia recht plausibel erscheint, muss allerdings ihrer letzteren Behauptung widersprochen werden, dass es sich bei Hookes Mikrografien um naturalistische Darstellungen (naturalistic drawings) handelt (vgl. S. 149–151). Diese erweisen sich im Gegenteil als höchst kunstvoll komponierte, artifizielle Miniaturen und dürften kaum dem ähneln, was naturaliter beim Blick selbst durch ein exzellentes Mikroskop des 17. Jahrhunderts zu sehen war. In diesem Punkt fällt ihre Arbeit methodologisch und inhaltlich hinter das erreichte Reflexions- und Wissensniveau zurück. Denn was Horst Bredekamp just für Galileis Mondzeichnungen des Sidereus Nuncius gezeigt hat,
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lässt sich auch auf Hookes Mikrografien übertragen: In beiden Fällen zeigt sich anhand der Zeichnungen, dass ästhetische Vorstellungen eine entscheidende Rolle für die Produktion von Wissen spielten, und ebenso, dass ästhetische Vorstellungen – und nicht etwa naturalistische Tendenzen – bewusst zur Herstellung von Objektivität eingesetzt wurden.
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Auch der Hooke’schen Methodologie wird mit den Schriften Margaret Cavendishs eine zeitgenössische Position gegenübergestellt. Mit einer Argumentation, die am ehesten der Position Robert Bellarmins, dem Berater Papst Pauls V. im Verfahren gegen Galilei (1616) ähnelt, unterzieht Cavendish in der theoretischen Abhandlung Observations upon Experimental Philosophy (1666) wie auch in dem utopischem Roman The Blazing World (1666) eine auf Instrumentalbeobachtung basierende Naturforschung einer grundlegenden Kritik. Der von den experimental philosophers behaupteten Faktizität instrumenteller Observation stellt sie die Fehlerhaftigkeit sowie die mangelnde Theoretisierung ihrer Beobachtungs- und Messinstrumente in Rechnung. Daraus wiederum folgert sie, dass der Gebrauch solcher Instrumente statt einer Verringerung eine Vergrößerung des Unwissens bewirke und so anstelle von »wonders« »monsters« enthülle (S. 180).
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Von dieser Instrumentalpraxis und ihrer Kritik wendet Aït-Touati nun nochmals die Blickrichtung auf die soziale Praxis der Wissenschaft des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Sie weist nach, dass sich Cavendishs Wissenschaftskritik wiederum vor dem Hintergrund einer konservativen Sozialkritik ereignet, die in der Durchsetzung der mechanistischen Philosophie den Umsturz der bestehenden politischen Ordnung befürchtete. Dies gilt insofern, als die mechanische Philosophie die Gewinnung wissenschaftlicher Tatsachen operationalisierte und damit eine »natural philosophy as a noble enterprise« (S. 178), die nicht auf Eifer und Anstrengung, sondern auf natürlicher Weisheit beruht, abzulösen drohte. Einerseits Gegenstand ihrer Wissenschaftskritik nutzt Cavendish andererseits wiederum die Verfahren der Vergrößerung und der Inversion des Blicks für ihren utopischen Roman The Blazing World in subversiver Weise als literarische Darstellungsverfahren (vgl. S. 183 f.).
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Offene Typologie: Factionalizing und Fictionalizing Narratives
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In der die Arbeit beschließenden Main Conclusion überführt Aït-Touati die Ergebnisse ihrer Einzellektüren in eine Typologie unterschiedlicher »poetics being used: fictional poetics (the imaginary voyage), the poetics of the conjectural probable (the theoretical voyage), and the poetics of of experimental proof (the optical voyage)« (S. 191). Das Resultat ihrer Textlektüren, dass sich diese Poetiken gerade nicht unabhängig voneinander betrachten lassen, sondern zwischen ihnen komplexe Interaktionen bestehen, macht die Fragwürdigkeit einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und literarischen Texten deutlich.
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Stattdessen schlägt Aït-Touati mit der Unterscheidung zwischen »fictionalizing narratives« und »factionalizing narratives« (S. 193) ein alternatives Analyseinstrument vor, das demgegenüber eine graduelle Abstufung und fließende Übergänge zwischen den Strategien der einzelnen Texte beider Textsorten erlaubt. Das Abgrenzungskriterium sieht sie hierbei in der Art und Weise, wie einzelne Textsegmente (räumliche/zeitliche/thematische) sowie Figuren- und Erzählerrede in den unterschiedlichen Textsorten miteinander verbunden und vermittelt werden. So weisen ›fictionalizing narratives‹ eine Tendenz zu »loose chains« zwischen den einzelnen Referenzebenen (planes of reference) eines Textes auf (S. 194). An Godwins Man in the Moone zeigt sich, dass die im Rahmen der fiktionale Rede entwickelten theoretischen Vermutungen mit dem Gang der Handlung, etwa dem plötzlichen Wechsel des Schauplatzes (hier von Europa zum Mond, vom Mond nach China) ebenfalls schlagartig abbrechen bzw. auf neue Vermutungen ›umschalten‹ können, ohne dass auf erstere nochmals Bezug genommen würde (vgl. S. 194). Dagegen kennzeichnet ›factionalizing narratives‹ eine Tendenz zu festen Verbindungen und Begrenzungen (etwa durch Voraus- und Rückgriffe oder korrigierende Erzählereingriffe), die (wie etwa bei Kepler oder Huygens) dazu dienen, die wissenschaftliche Information von einer Ebene zur nächsten zu erhalten und schrittweise zu modifizieren bzw. zu revidieren. Entscheidend an dieser Unterscheidung Touatis ist, dass sich auch diese beiden ›narratives‹ in den von ihr untersuchten Texten häufig überkreuzen, so etwa im Falle Cyranos, in dessen Text die philosophische Polemik zugleich als dynamisches fiktionales Prinzip fungiert (vgl. S. 195).
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Diese abschließende, offene Typologie erweist sich, wenngleich ihre theoretische Fundierung mit Blick auf die narratologische und textsemiotische Forschung ausführlicher hätte ausfallen können, vor dem Hintergrund der Textanalysen als überzeugend; sie bietet eine innovative Perspektive, wissenschaftliche und literarische Texte gemeinsam auf ihre unterschiedlichen, sich meist überschneidenden Strategien zur Hervorbringung und Beglaubigung von Wissen zu untersuchen. Allerdings sei an dieser Stelle auch erwähnt, dass bereits eine Reihe von wissenspoetologischen Arbeiten erschienen sind, die eine aus wissensgeschichtlicher Perspektive problematische trennscharfe Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und literarischen Texten, die dort Vorentscheidungen trifft, wo es gerade um das Aufspüren von Idiosynkrasien innerhalb einer Wissensordnung geht, schlicht umgehen. Sie verfolgen eine Fragerichtung, die – im Anschluss an Foucault – zunächst von den Ereignissen und Schauplätzen des Wissens wie auch entscheidenden epistemischen Transformationen ausgeht und diese erst daraufhin auf ihre wissensspezifischen Darstellungsoptionen befragt.
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Fazit
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Frédérique Aït-Touatis Studie Fictions of the Cosmos zeigt auf beeindruckende Weise die enge Verwobenheit von Literatur und Wissenschaft im 17. Jahrhundert auf. Das Hauptergebnis der Arbeit kann in dem überzeugenden Nachweis gesehen werden, dass literarische wie wissenschaftliche Texte von Kepler bis Huygens sich ähnlicher rhetorischer und narrativer Strategien zur Erzeugung von Evidenz und Glaubwürdigkeit bedienen. Aït-Touati leistet damit zugleich einen entscheidenden Beitrag für die Diskussion um die ›scientific revolution‹. Der schrittweise Wandel hin zum heliozentrischen Weltbild beschränkt sich nicht ausschließlich auf astronomische Beobachtungen und Berechnungen. Ebenso haben literarische Fiktionen Anteil an der Hervorbringung kosmologischen und astronomischen Wissens, insofern sie empirisch gewonnene Daten und Modelle aufgreifen, sie produktiv weiterdenken und dadurch zugleich plausibilisieren. Eine weitere wichtige Leistung der Studie besteht in der außerordentlichen Sorgfalt, Präzision und Differenziertheit der Einzellektüren, die nicht, wie mitunter in Arbeiten zu ›Science and Literature‹ der Fall, auf einzelne und vage Überschneidungen zwischen wissenschaftlichem und literarischem Diskurs beschränkt bleiben.
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Die Unterscheidung zwischen ›fictionalizing narratives‹ und ›factualizing narratives‹, die sich in der Mehrzahl der untersuchten Texte überkreuzen, liefert ein tragfähiges begriffliches Analyseinstrument zur Funktionsbestimmung von Fiktionen innerhalb des Prozesses der Wissensproduktion. Mittels dessen kann überzeugend gezeigt werden, dass und auf welche Weise Wissenschaft und Literatur gemeinsam Wissen hervorbringen.
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Aus der Fokussierung auf die epistemischen Narrative resultiert aber auch eine Schwäche der Arbeit, insofern die mittels der narrativen Verfahren verhandelten Gegenstände des Wissens ebenso wie das hierin ungesagte, nicht-thematisierte kosmologische Wissen damit stark in den Hintergrund treten. Denn vor allem die späteren Kompendien Fontenelles und Huygens’, aber auch schon Cyranos Erzählung rekurrieren auf ein relativ gesichertes und damit gefahrlos verhandelbares astronomisches und kosmologisches Wissen, an das sie ihre Fiktionen und Vermutungen produktiv anschließen können. Dagegen entwickeln sich zeitgleich (ab den 1630er Jahren) unter Beteiligung der führenden Experimentalphilosophen Europas ausführliche Diskussionen über die Teilbarkeit oder Unteilbarkeit der Materie wie auch über die Möglichkeit eines leeren Raums in Form eines Vakuums, die für die Frage nach Aufbau und Entstehung des heliozentrischen Kosmos eine ungleich höhere Bedeutung hatten, als etwa die fiktionalen und konjekturalen Verhandlungen um die Existenz und Ausstattung der Bewohner ferner Planeten in den hier untersuchten Texten von Kepler bis Huygens. Auffällig ist, dass ebenjenes Wissen, mit dem sich die Frage der Existenz des Nichts und damit zugleich die Frage der Existenz Gottes entscheidet, aufgrund seines häretischen Potentials in diesen Texten gerade nicht thematisiert wird bzw. nicht thematisiert werden kann. Eine Studie, die nach der Leistungen und Funktionen von Fiktion für die Kosmologie des 17. Jahrhunderts fragt, müsste ebenso auf die Grenzen bzw. die Begrenzungen der Fiktionen eingehen, die hier durch die diskursive Verknappung eines aus der Sicht christlicher Dogmatik brisanten und gefährlichen Himmelswissens markiert werden. Auch wenn Aït-Touati im letzten Kapitel ihrer Arbeit mit Margaret Cavendish noch eine Position konservativer Wissenschaftskritik anführt, so ergibt sich doch am Ende ein insgesamt zu stark geglättetes Bild einer ›fröhlichen Wissenschaft‹, in der Literatur und ›new science‹ einträchtig zusammenspielen.
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Positiv wäre schließlich noch die außerordentlich gute Lesbarkeit der Arbeit hervorzuheben. Hierzu tragen neben der durchgehend klaren und präzisen Sprache, die stringente und bis in die Mikroebene konsequente, thesenorientierte Argumentation wie auch die sorgfältigen und textnahen Lektüren selbst bei. Zudem lassen sich sowohl die Groß- als auch die Unterkapitel dank der oft elegant gewählten Hinführungen und Überleitungen wie auch der prägnanten ›conclusions‹ am Ende eines jeden Teilkapitels problemlos separat lesen.
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An der Schnittstelle von Literaturwissenschaft und Wissenschaftshistoriografie stehend, liefert Fictions of the Cosmos neue wichtige Impulse zur Beschreibung der Relation zwischen Poesie und Naturwissenschaft und dürfte so in beiden Disziplinen auf reges Interesse stoßen.
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Anknüpfungspunkte
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An die Studie Aït-Touatis ließe sich in mehrfacher Weise anschließen. Während Fictions of the Cosmos den kosmologischen Diskurs des 17. Jahrhunderts als Fallbeispiel für die historische Analyse der Verfahren der Wissensproduktion in literarischen und wissenschaftlichen Texten untersucht, könnte in einer wissenspoetologischen Studie zur Astronomie und Kosmologie der Frühen Neuzeit stärker das Auftauchen neuer diskursübergreifender Wissensobjekte in den Vordergrund treten, die dann ebenso auf ihre spezifischen Darstellungsoptionen hin untersucht werden könnten. Eine solche Betrachtungsweise würde zugleich den Blick auf die affektive Dimension astronomischen und kosmologischen Wissens erlauben. Denn sowohl die ›epistemischen Dinge‹ der kopernikanischen und nach-kopernikanischen Astronomie als auch die ›technischen Dinge‹ und wissenschaftstheoretischen Methodologien,
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durch die sie hervorgebracht werden, werden im 17. Jahrhundert selten affektneutral verhandelt. Mit ihnen verbindet sich vielfach ein ›kopernikanisches Pathos‹, das von einem emphatischen Lob der ›Vielheit der Welten‹ und deren Schöpfer bis hin zu diversen Denkfiguren und Praktiken der Selbstermächtigung reicht, die auf eine vollständige Beherrschbarkeit der Naturkräfte durch theoretische Erkenntnis abzielen. Ein derartiges Pathos lässt sich bereits in Fontenelles Entretiens beobachten und verschärft sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, in denen sich mit dem Aufstieg der Astronomie zu einer akademisch etablierten Disziplin, die neben der Mathematik nun zugleich zu einer Leitdisziplin der Aufklärung erhoben wird, intensive Wechselwirkungen zwischen astronomischer bzw. kosmologischer Wissensproduktion sowie literarischen Konzeptualisierungen und Darstellungsverfahren ausbilden.
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Aus einer solchen affektpoetologischen Perspektive könnte hier für die Zeit um und nach 1750 eine entscheidende Transformation aufgezeigt werden. Parallel zu den Anfängen einer wissenschaftlichen Anthropologie in Deutschland ereignet sich in literarischen wie auch kosmologischen Texten eine schrittweise Umcodierung einer emphatisch affirmierten, harmonischen und ganzheitlichen Kosmos-Vorstellung hin zu einem ›kopernikanischen Nihilismus‹. Dies gilt insofern, als Kosmos und Himmelskörper beispielsweise in Kants Kosmologie wie auch später einigen Texten Jean Pauls als eine grenzenlose und zugleich unbeseelte Maschine konzeptualisiert werden, deren Vergegenwärtigung alle menschlichen Selbstbehauptungsversuche im Sinne einer ganzheitlichen Kosmos-Überschau von vorn herein zum Scheitern verurteilt. Mit dieser Verschiebung verbindet sich zum Ende des Jahrhunderts zugleich eine Verschiebung der Funktionen literarischer Kosmos-Darstellungen von der Wissensproduktion hin zu diversen Formen ästhetischer Kompensation. Derartige auf Totalität, Überschau und Einheit abzielende Kompensationsversuche zeichnet etwa die literarischen Produktionen um 1800 aus.
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Für die trotz der benannten Mängel noch immer hervorragende Arbeit Frédérique Aït-Touatis spricht, dass sie in der Stringenz ihrer Argumentation noch immer offen genug bleibt, um derartige Anknüpfungen zu ermöglichen.
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