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Unbefangen im Kleinstaat

Neue Arbeit am „Mythos Schweiz“

  • Jürgen Barkhoff / Valerie Heffernan (Hg.): Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2010. 321 S. 14 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 69,95.
    ISBN: 978-3-484-10812-7.
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Vor einigen Jahren trafen sich in Dublin Schweizer und irische Philologen, um über »Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur« zu diskutieren. Von deutlich weiter entfernt war Richard R. Ruppel, Professor an der University of Wisconsin, angereist. Seinen Vortrag zu »Geschichte und Funktion des traditionellen Bundesfeierspiels«, nachzulesen im 2010 erschienen Sammelband, eröffnete er mit einer landeskundlichen Skizze, die einen ersten Eindruck vom »Mythos Schweiz« im 21. Jahrhundert vermittelt:

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Die Schweiz existiert heute als eine vertrauensvolle politische Kollaboration von vier verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen, die im Laufe der Jahrhunderte für individuelle Freiheit gekämpft haben, die Schutz in einer kollektiven Sicherheit gefunden haben, und in den letzten Jahrzehnten einen ungeahnten Wohlstand in dem Schweizer Bundesstaat erworben haben, den die meisten Schweizer als ihre Heimat bezeichnen würden. […]. Diese Schweizer Heimat ist von gewissen Konzepten geprägt, die auch heute noch Schweizertum verkörpern, und davon gewiss unabtrennbar sind, nämlich u.a. individuelle Freiheit, regionale Autonomie, direkte Demokratie und Neutralität. (S. 159)
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Diese Skizze, wohlgemerkt als ›Gegenstandversicherung‹ und nicht als Anlass weiterer Reflexionen formuliert, vermittelt jedoch nicht allein den Umriss des Themas, sondern auch und vor allem die Schwierigkeiten im Umgang damit: Wie die zahlreichen »gewissen« Einschränkungen zumindest indizieren, hat auch ein Band, der Größen wie »Heimat« oder »Schweizertum« auf ihren Konstruktionscharakter befragt, letztlich Anteil an dem theoretisch so fragwürdigen wie praktisch wohl unverzichtbaren Hybrid der Landeskunde, die notgedrungen voraussetzt, was zu begründen sie vorgibt. Dem ließe sich mit Adorno/Horkheimer beziehungsweise Blumenberg entgegnen, dass ein Ausstieg aus dem Mythos weder möglich noch nötig sei, doch genügt zur Legitimation der Arbeit am beziehungsweise im Mythos zunächst auch die schlichte Beobachtung, dass die Schweiz, von Adolf Muschg in seinem launigen Geleitwort als »das besterhaltene Stück strukturellen Mittelalters in Europa« (S. 2) bezeichnet, Nationenklischees offenbar gleich im Dutzend anzieht. Deren Persistenz im Schweiz-Diskurs erweist sich folglich als stärkstes Argument für den titelgebenden Ansatz des Bandes. Dieser, so viel sei vorweggenommen, schließt mit Gewinn an die bedeutendsten literaturwissenschaftlichen Schweiz-Arbeiten der letzten beiden Dekaden 1 an und kann bis auf weiteres als neues Standardwerk gelten.

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Mythos Schweiz – theoretischer Rahmen

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In ihrer ausführlichen Einleitung bemühen sich die Herausgeber um eine breite Kontextualisierung ihres Unterfangens. Mit »dem Konstruktionscharakter, der narrativen Form und der Innovationsfähigkeit« (S. 9) werden im Anschluss an Herfried Münkler sowie Aleida und Jan Assmann 2 drei literaturwissenschaftlich ergiebige Merkmale des Mythos’ hervorgehoben, um diesen anschließend als tragendes Element nationaler Identitätsbildung seitens »kollektiver Erinnerungsgemeinschaften« (ebd.) zu definieren. Der nachweisliche Einfluss mythischer Großerzählungen auf Gründung, Erhaltung und Distinktionspolitik von Nationalstaaten als »imagined communities« (Benedict Anderson) offenbart zugleich die epistemische Fragwürdigkeit der populären Alternative »Mythos oder Realität« (S. 11), insofern Mythen als identitätsstiftende »politische Handlungsorientierungen« (S. 10) dem geschichtlichen Werden und Fortwirken der jeweiligen nationalstaatlichen ›Realität‹ immer schon eingewoben sind.

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Die genuine Zuständigkeit der Literaturwissenschaft gegenüber einer kulturwissenschaftlich orientierten Historiographie 3 begründen die Herausgeber in der »Dynamik von Mythosnarrationen«, deren konstitutive »aktualisierende Um- und Fortschreibung« (S. 12) hermeneutischer, narratologischer und intertextueller Lektüren bedürfe. 4

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Die sieben Sektionen des Bandes bewegen sich mit den jeweils als Mythen klassifizierten Themen »Schweizerliteratur«, »Alpen«, »Eidgenossenschaft«, »Sonderfall«, »Multikulturalität« und »literarischer Gegendiskurs« (vgl. S. 19–25) auf bekanntem Terrain. Lediglich die Sektion »Mythos Irland« betritt Neuland, fällt allerdings mit nur einem Beitrag zu »Mythen, Märchen und Magie in Gabrielle Alioths Kinderromanen« (S. 309–321) denkbar schmal aus und kommt über das von Adolf Muschg als »witziges Gesellschaftsspiel« titulierte Unterfangen, »die Kulturgeschichte zweier Inseln […] auf Gemeinsamkeiten abzuklopfen« (S. 5), nur in Ansätzen hinaus. Eine Verhandlung des bereits zum Zeitpunkt der Tagung 2006 drängenden und seither noch einmal akuter gewordenen Mythos der »Neutralität« sucht man demgegenüber vergeblich. Ferner ließe sich mit Blick auf die Gesamtanlage fragen, ob sich die genannten Sektionstitel wirklich ohne Weiteres auf den skizzierten Mythosbegriff bringen lassen – eine Abgrenzung etwa zu Topos, Legende oder auch Diskurs böte sich an –, und auch mit der im Titel versprochenen »Gegenwartsliteratur« nehmen es offenbar nicht alle Beiträge besonders genau. Gleichwohl überzeugt die gut zwanzigseitige Einleitung in puncto Materialreichtum, Ausgewogenheit und klarer Darstellung und kann als aktuelle Einführung in den Diskurs ›Schweizer Literatur‹ überhaupt empfohlen werden.

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Zwielicht, Pfahlbau, Schienenverkehr – ausgewählte Beiträge

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Peter von Matt, seit Jahrzehnten erste Auskunftstelle in Sachen helvetischer Befindlichkeiten und stets höflicher, mitunter heftig kritisierter Kritiker allzu lieb gewonnener nationaler Mythen, 5 eröffnet den Beitragsteil mit einem »Plädoyer für einen neuen Blick auf das literarische Nachdenken über die Schweiz« (S. 31–44). Das führt zunächst zurück zu Hans Schriber, der um 1470 mit dem Weißen Buch von Sarnen die helvetische Gründungschronik halb kompilierte, halb erdichtete (vgl. S. 32); anschließend werden Nietzsches populäre »drei Formen des Umgangs mit der Geschichte« (S. 34) als Muster der seither erfolgten Schweizer Selbstbestimmungsversuche identifiziert. Dabei präsentiert sich die Eidgenossenschaft keineswegs als ›Sonderfall‹: Ein »monumentales«, auf Vorbilder ausgerichtetes Geschichtsverständnis lässt sich im Umfeld von Bürgerkrieg und Bundesstaatsgründung 1848 nachweisen und erlebt von 1933 bis 1945 eine Renaissance, das »Antiquarische« erweist sich als Movens der »Heimatmuseen«-Schwemme des frühen 20. Jahrhunderts, und schließlich identifiziert von Matt in der seit 1968 andauernden Auseinandersetzung mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ein »kritisches« Geschichtsverhältnis (vgl. S. 33 f.).

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Weniger als diese unterdessen ohnehin »totgelaufenen« (S. 34) Großformate interessieren von Matt nun allerdings »mentalitätsgeschichtlich aufschlussreiche inhaltliche Tendenzen im schweizerischen Schreiben« (S. 35), denen die alten Mythen nur mehr schattenhaft eingeschrieben sind. Solche »Themen und Motive, die es zwar auch in anderen Literaturen gibt, die aber in der Tradition des Schreibens in der Schweiz eine spezifische Aussagekraft gewinnen« (ebd.), findet von Matt im »Heimkehrer-Roman« (ebd.), im »schuldhaft handelnden Kollektiv« (S. 36) bei Gotthelf, Keller, Dürrenmatt und Frisch und schließlich in der »Allegorie von der Schweiz als Gefängnis« (S. 42). Als wiederkehrendes Moment der keineswegs erstarrten Klassiker erweist sich dabei die Offenheit einer ästhetisch inszenierten »moralischen Ambivalenz« (S. 39), eines »kostbar schillernden Zwielichts«, das nicht nur der »seltsamen Sippe« (ebd.) der Leute von Seldwyla eigne.

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Gerne hätte man in dieser Manier mehr erfahren über am Ende nur weiterer Forschung anempfohlene Topoi wie den »versiegelten Mund«, »die Erfahrung der Metropolen«, »das Meer, von dem wir in der Schweiz nur träumen können« oder Friedrich Glausers Wachtmeister Studer-Typus »im Schweizer Kriminalroman« (S. 43). Jener daraus notwendig resultierenden, zu Beginn des Beitrags in Opposition zur Evidenz des Mythos gesetzten »langsamen Beweisführung« der Wissenschaft (S. 31) zieht von Matt in seiner Miniatur jedoch die pointierte Form vor, womit die Preis- und Titelfrage »Was bleibt nach den Mythen?« auch ohne Rekurs auf Clemens Lugowskis »mythisches Analogon« 6 geklärt wäre: die Literatur. 7

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Geradezu theoriehungrig präsentiert sich demgegenüber Michael Böhler in seiner kenntnis- und materialreichen Diskussion der »Frage von Raum- und Zeitbindung in der Schweizer Literatur«: Ob Terry Eagletons Nationalismuskonzept zwischen »Irony and Commitment« (S. 45), Michel Foucaults »espaces autres« (S. 50), Anthony Giddens »dissembedding« (S. 52), Martin Heideggers hochambivalentes »Räumen« (S. 58) oder erste Göttinger Versuche einer digitalen »Literaturgeographie« (S. 55) – der Rekurs auf die Wegbereiter des bislang eher angekündigten als vollzogenen »spatial turn« (S. 54) erscheint Böhler als Ausweg aus dem leidigen »Gänseblümchenspiel ›Gibt es sie/Gibt es sie nicht?‹ « (S. 50), auf das die Frage nach Status und Umriss der Schweizer Literatur allzu häufig zusteuert. Stattdessen: »Gegeben ist Literatur als symbolisches Zeichensystem oder Medium und als soziales Handlungssystem oder Institution, und nun schauen wir hin, wie diese Literatur Raum ›räumt‹ und für den gesellschaftlich konstitutiven Raum synthetische Raumwahrnehmungsleistungen erbringt« (S. 58).

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An Kontur gewinnt diese voraussetzungsreiche Perspektive in Absetzung von der verbreiteten Reduktion des Raumes auf einen topographischen, von der Literatur nur ›verwendeten‹ Schauplatz. Böhler hingegen zielt auf eine literarische Poiesis des Raumes als »Entbettungsvorgang oder Raumöffnung«. Die nach großem theoretischen Vorlauf nur skizzierten Beispiele eines »entgrenzenden Spacing« in einem Walser-Mikrogramm (vgl. S. 59) und die »Raumschaffung einer radikalen Raumschließung« (S. 60) in Dürrenmatts Preisrede auf Václav Havel von 1991 mit ihrer berühmten Formel von der »Schweiz [...] als Gefängnis« fallen allerdings zu knapp aus, um Tragfähigkeit und Potenzial des entworfenen Ansatzes zu erweisen. So bleibt es der Leserschaft überlassen, über den Ironiegehalt der den Beitrag beschließenden Erledigung des »Gänseblümchenspiel[s]« zu entscheiden:

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Im Wortsinn Martin Heideggers gibt es die Schweizer Literatur, weil es eine Literatur gibt, die den gesellschaftlichen und geopolitischen Raum ›Schweiz‹ unermüdlich räumt, weil es Schriftstellerinnen und Schriftsteller gibt, welche die Schweiz aufräumen und einräumen, umräumen oder abräumen, auch gelegentlich das Feld räumen und das Weite suchen. (S. 61)
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Um Raum, oder konkreter: um Raumgewinnung geht es auch Hans-Georg von Arburg, der sich dem im Vergleich zum erhabenen, von Peter Utz und Hans Jürgen Schrader (S. 65–76 beziehungsweise S. 77–94) ausführlich gewürdigten Alpentopos eher apokryphen Pfahlbauermythos widmet. Wie der hintersinnige Titel »Nation aus dem Sumpf« andeutet, hegt der Lausanner Ordinarius dabei erkennbare Sympathie für diesen sozialgeschichtlich durchweg im Populären beheimateten topographischen Gegen- beziehungsweise Nebendiskurs. Mehr als eine Andeutung, dass gerade die damit einhergehende akademische Ablehnung zur ungebrochenen volkstümlichen Popularität der »Idee pfahlbauender Protohelvetier« (S. 117) beigetragen habe – woraus sich ja durchaus eine mentalitätsgeschichtliche These ableiten ließe –, lässt sich der Akademiker aber nicht entlocken und wählt stattdessen drei für das vornehmlich im Kinder- und Jugendbuch angesiedelte Genre erklärtermaßen nicht repräsentative Texte, »die je für eine historisch neuralgische Epoche aus der Geschichte nationaler helvetischer Mythenbildung stehen« (S. 118).

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In der Lektüre der in Theodor Vischers Professorenroman Auch einer (1878/79) eingelassenen Binnennovelle Der Besuch entwickelt von Arburg das »mythische Versprechen von Kommunikation und Transgression« (S. 123) als expliziten Gegenentwurf zum statisch-monumentalen, auf »Inklusion und Exklusion« (S. 121) zielenden Alpenmythos. Die Pfahlbauervariante, so von Arburg, erweist sich dabei als ambivalent, insofern sie einerseits den »innovativen Austausch mit Fremden« propagiert, im gleichen Zug jedoch die »kollektive Identitätsbildung« (S. 127) einer Nation unterwandert – eine Dialektik, die das Nachdenken über die Schweiz bis heute prägt.

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Auf eine Monosemierung dieser Ambivalenz zielte die nationalsozialistische Vereinnahmung der Pfahlbauten als »palisadenbewehrte Flucht- und Trutzburg vor den Ufern des angeblich gefährdeten und zu engen heimatlichen Grund und Bodens« (S. 129). In Jakob Bührers 1929 am Berner Stadttheater aufgeführter Tragikomödie Die Pfahlbauer liest von Arburg zunächst einige typische Momente des Schweiz-Diskurses wie Konformitätsdrang, »Angstlust vor dem Ausbruch aus Enge« oder den »Alpenmythos« (S. 130), um anschließend das heldenlose Ende des Stückes als Parodie auf den »moralischen Sumpf« des »,rechtschaffen Schweizerischen‘« zu deuten, das sich einerseits alle »faschistoiden Huldigungen« verbitte, andererseits aber dem »faule[n] ,Kompromiss‘« (S. 131) entschieden zu wenig abgeneigt sei und damit »unbedachte[n] Spiegelungen« (S. 136) faschistischer Diskurse Vorschub leiste.

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Kein Jahrhundert nach seinen Anfängen in den 1850er-Jahren scheint der Pfahlbauermythos damit gründlich diskreditiert, und tatsächlich trifft von Arburg auf seinem Streifzug durch die zeitgenössische Kunst auf eine allgemeine »Thematisierungsabstinenz« (S. 132) bei allerdings fortdauerndem implizitem Bezug. Dieser prägt auch Christian Hallers Roman Die besseren Zeiten (2006), der an der »nicht mundtot zu machenden Legende pfahlbauender Urschweizer das Funktionieren des Mythos als solches und damit eine Produktionsformel von Literatur schlechthin [exemplifiziere]: den für die literarische Sinngebung konstitutiven Sinnentzug und also den Motor des Erzählens« (S. 136).

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Reto Sorg, Leiter des Robert Walser-Zentrums Bern, versucht den »literarischen Mehrwert der Eisenbahn bei Peter Bichsel und Peter Weber« (S. 139–158) zu ermitteln und berührt damit ein ›nationales Interesse‹: »Die Schweizer sind nicht nur Weltmeister im Zugfahren, sondern pflegen auch ein sentimentales Verhältnis zur Eisenbahn und allem, was dazugehört« (S. 139). Was folgt, ist nicht unbedingt die Aufklärung dieses Verhältnisses, sondern eher eine souveräne tour dhorizon durch anderthalb Jahrhunderte helvetischer Bahngeschichte. Diese erscheint zunächst, etwa bei Keller und Heine, als »die kantischen a priori von Raum und Zeit außer Kraft setz[end]e und ein neues Zeitalter der Simultaneität und Virtualität einläute[nde]« Bedrohung, doch vermag Robert Walser bereits um 1900 im Bahnhof das »schönste Schauspiel der Welt« (S. 142) zu entdecken. Von Peter Bichsel lässt sich dagegen lernen, »dass die Schweizerischen Bundesbahnen kein neutraler Boden sind. Wer in ihnen fährt […], sieht sein Dichten und Denken dem für die Schweiz charakteristischen Zwang ausgesetzt, der nationalen Identität etwas abgewinnen zu müssen« (S. 151).

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Wie sich der Umgang mit diesem Zwang für den Autor gestaltet, der sich wie schon Carl Spitteler immerhin auf der erweiterten Sponsoring-Liste der SBB befindet (vgl. S. 151 f.), führt Sorg leider nicht aus. Stattdessen deutet er Peter Webers Bahnhofsprosa (2002) als verfremdende Arbeit an der »Bahnhofsmythologie« (S. 153). An die Stelle der bei Bichsel konstatierten, mimetisch zur Zugbewegung gleitenden Darstellung tritt eine Prosa, die »gleichsam aus dem Inneren des Bahnhofs heraus« (S. 154) zu ergehen scheint. Das bietet Raum für Impressionistisches wie »das Herumlungern, die Anonymität, die Reklame, die Massen-Erotik, die Shop-Ville-Ästhetik« (S. 153), vor allem aber erweist sich nicht nur das »Bahnhofsdeutsch« (S. 156) als Sprache jenseits des Nationalen, sondern die Vernetzung selbst, zunächst ein auf die Schweiz beschränktes »Infrastrukturprojekt avant la lettre« (S. 143), befördert »die Aufhebung des Nationalen im Virtuellen« (S. 155).

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Immer schon virtuell, wenngleich nach einer sehr handfesten Kartoffelspeise benannt, ist der so genannte ›Röschtigraben‹, dem sich Sabine Haupts Untersuchung widmet: »Die kulturelle Trennlinie zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz ist mit Abstand die prominenteste Markierung auf jener imaginierten, geopolitischen Schablone, auf der sich die helvetischen Binnendifferenzierungen abzeichnen« (S. 243). Mit dem »Mythos Multikulturalität«, wie ihn die IV. Sektion des Bandes ausruft, ist es auf den ersten Blick also auch in der viersprachigen Eidgenossenschaft als »Helvetia mediatrix« (ebd.) oder gar ›Musterfall Europas‹, wie ihn Jürgen Barkhoff (S. 197–214) sehr erhellend als »Diskursfigur« diskutiert, nicht allzu weit her. Haupts engagierter Beitrag zum »Mythos Kulturgraben. Literaturpolitische Diskurse und Realitäten innerhalb und jenseits der Sprachgrenzen« (S. 243–253) versucht sich demgegenüber am Nachweis, dass nicht die trotz kultureller Binnendifferenzen einigermaßen bewältigte nationale Einheit, sondern der Graben als Mythos aufzufassen sei.

[22] 

Haupt liest diesen vor allem als »diskursiven Aus- und Irrläufer des deutsch-französischen Kulturgrabens« (S. 244), welcher der »binnenschweizer Geschichte mit ihren historischen Konflikten« (S. 246) keineswegs entspreche, wenn auch während deutsch-französischer Krisen wie dem Ersten Weltkrieg »Übertragungen außenpolitischer Konstellationen auf die Schweizer Innenpolitik« (ebd.) nicht auszuschließen waren. Literaturwissenschaftlich gerät die Analyse allerdings erst, als sie die metaphorologische Dimension des Grabens als »sinnliches Orientierungsschema bei der Mythisierung und Ideologisierung des Kulturraums« (S. 249) in den Blick nimmt. Mit Rekurs auf Lévi-Strauss’ »Begriff der sozialen Struktur«, der »sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht«, 8 werden Charles Ferdinand Ramuz’ Roman La Séparation des Races (1922) und Max Frischs Stiller (1954) auf ihre die andere Seite des Grabens jeweils abwertende Raumsemantik befragt. Lassen sich bei Ramuz »ganz primitive, geradezu archaische Sprach- und Raumzeichen« (S. 251) identifizieren, findet sich Frischs »Inland-Emigranten-Ehepaar« 9 Stiller im eher implizit abgewerteten »touristischen Niemandsland am Genfersee« (S. 252) wieder.

[23] 

In dieser Richtung hätte man gern weitergelesen, doch der Beitrag endet nüchtern-pragmatisch:

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Die eidgenössische Kulturpolitik braucht den Mythos vom Graben. Solange nämlich die Protagonisten der Schweizer Kultur- und Bildungspolitik fest an ihn glauben und dabei so manches tun, um ihn so seicht wie möglich zu halten, solange bleibt das, was Außenstehende an der Schweiz so bewundern, auch erhalten. Eine funktionierende, d.h. dynamische Integrationskultur gibt es wohl nur, solange sie nicht zur Selbstverständlichkeit verkommt. (S. 253)
[25] 

2003 eröffnete die Literaturkritikerin Pia Reinacher ihren Essayband Je Suisse. Zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur mit der These, die Schweiz sei für die »jüngeren Schweizer Autorinnen und Autoren« (S. 283) kein Thema mehr – und gibt damit wiederum Valerie Heffernans Beitrag »Unschweizerische Schweizerliteratur? Ruth Schweikert, Peter Stamm, Zoe Jenny« (S. 283–296) das Thema vor. Dass Max Frisch schon 1965 gefragt hatte, ob »unser Land für seine Schriftsteller kein Gegenstand mehr [sei]?« (S. 248), ist der irischen Mitherausgeberin lediglich Anlass zu der Bemerkung, dass »beide Ausführungen am Ende einer Epoche stehen, in der die Schweiz eine tiefgreifende Krise erlebte, die ihr Selbstverständnis ins Wanken brachte« (ebd.). Dementsprechend verfolgt ihr Beitrag nicht den möglichen Zusammenhang zwischen Frischs Statement, der littérature engagée der darauf folgenden zweieinhalb Dekaden und der neuerlichen Depolitisierung in den Neunzigerjahren, sondern konzentriert sich ganz auf Reinachers These, die nach 1960 geborene Schweizer Autorengeneration sei »der Heimat und ihren Stoffen entlaufen« (S. 283).

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Dass diese Auseinandersetzung sehr wohl, wenn auch »auf verschlüsseltere Weise« (S. 284) virulent geblieben ist, soll anhand der drei als »Mythos« klassifizierten Topoi »Ferne« (S. 183 ff.), »Schneetod« (S. 289 ff.) und »Schweiz« (S. 291 ff.) nachgewiesen werden. Zwar gelingen Heffernan treffende Einzelbeobachtungen zu Zoë Jennys Blütenstaubzimmer (1997), Peter Stamms Agnes (1998) und – vor allem – Ruth Schweikerts Ohio (2005), doch gereichen sowohl der vage Mythos-Begriff (in den Ausführungen selbst ist meist von »Klischee«, »Thema« und »Bild« die Rede) als auch die Konzentration auf Reinachers Großthese, die mit drei Romanen weder zu be- noch zu widerlegen ist, zum Nachteil der Lektüren. Thesen, zumal pauschal resümierende wie »Die Schweiz ist nicht das, was sie einmal schien, heißt es in diesem Roman, und Schweikert scheut sich nicht, sich zu diesem revidierten Bild ihrer Heimat zu bekennen« (S. 295), aber auch Leerformeln wie »Spuren eines signifikanten Umdenkensprozesses« oder »Fehler der Vergangenheit« (ebd.) schweben seltsam gestalt- und bezuglos über den Romanen, die Heffernan en detail durchaus erhellend liest. Womit der Beitrag, wenn auch vornehmlich performativ, letztlich genau zeigt, worin Attraktivität und Notwendigkeit eines hochreflektierten, eher am Detail als am Großen und Ganzen interessierten Sprechens über ,Land und Leute‘ begründet liegen: »Das Ganze ist das Unwahre.« 10

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Fazit

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Schweiz schreiben bietet eine Vielzahl profunder, mitunter beeindruckend detailreicher, im Gesamteindruck allerdings etwas knapp gehaltener Einzelanalysen. Dass die sechseinhalb Sektionen weder im Hinblick auf das Thema Mythos noch auf das Thema Schweiz ein stimmiges, klar konturiertes Gesamtbild ergeben, darf dabei zumindest im Hinblick auf den Schweiz-Diskurs als Gewinn gewertet werden. Gleiches gilt für die vereinzelt bereits angezeigten Möglichkeiten beziehungsweise Notwendigkeiten weiterer Anschlüsse – dem Mythos eines abschließbaren oder gar abgeschlossenen Schweiz-Diskurses leistet der größtenteils sorgfältig redigierte Band keinen Vorschub. Wie deutlich geworden sein sollte, erweist sich das Verhältnis von Einzeltext und kulturellem Ganzen als neuralgischer Punkt der Analysen, der gelegentlich Züge eines Double-binds anzunehmen scheint: Je entschlossener der Fokus auf der »Physiognomie« (S. 5) dessen, was auch als »Mythos Schweiz« letztlich ›die Schweiz‹ meint, desto unbefriedigender die Arbeit am Text und vice versa. Es ist weder den Einzelbeiträgen noch dem Band als Ganzem anzulasten, dass sie dieses Problem eher zur Darstellung bringen als reflektieren. Um die Gretchenfrage jeder ›Landeskunde‹, inwiefern sie jene ›Kultur‹, die zu vermitteln – und sei es im Modus der Mythenkritik – sie vorgibt, gleichermaßen verstellt wie erschafft, wird die nächste diese Richtung gehende Unternehmung nicht herumkommen. Ihr Material findet sie hier.

 
 

Anmerkungen

Vgl. zur Einführung in folgender Reihenfolge: Corina Caduff/Reto Sorg: Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München: Fink 2004; Michael Braun/Birgit Lermen (Hg.): Begegnung mit dem Nachbarn (IV). Schweizer Gegenwartsliteratur, St. Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung 2005; Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz, München: Hanser 2001; Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur in der Schweiz. (Text und Kritik Sonderband). München: Text und Kritik 1998 sowie unlängst erschienen Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardspost. Zur Literatur und Politik der Schweiz, München: Hanser 2012.   zurück
Vgl. u. a. Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin: Rowohlt 2009; Aleida und Jan Assmann: »Mythos.« In: Hubert Cancik u. a. (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1988–2001, Bd. 4 (1998), S. 179–200.    zurück
Vgl. bspw. Guy P. Marchal: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität. Basel: Schwabe 2007.    zurück
An dieser Stelle läge ein Anschluss an Lévi-Strauss’ Mythenanalyse nahe; vgl. zum Aspekt der Transformation u.a. Claude Lévi-Strauss: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt: Suhrkamp 1976.   zurück
Als Beispiel höflicher Mythenkritik vgl. die 1. August-Rede 2009; von Matt war der erste Nichtpolitiker, der auf der Rütliwiese sprach (Peter von Matt: »Plädoyer für die Heldensage. 1. August-Rede auf dem Rütli.« In: NZZ am Sonntag, S. 16–17), als bislang heftigste, ans Reaktionär-Polemische grenzende Kritik vgl. Urs Paul Engeler: »Peter von Matt. Zeitgeists schönes Echo.« In: Die Weltwoche 47/2012, S. 26–28.    zurück
Vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman (1931). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994.   zurück
In diesem Sinne erweist sich die kontrovers diskutierte Verleihung des Schweizer Buchpreises 2012 an von Matt als vertretbare Entscheidung.    zurück
Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Bd. 1. Frankfurt/M.: 1977, S. 301.    zurück
Max Frisch: Stiller. Frankfurt/M.: 1978, S. 388.    zurück
10 
Theodor W. Adorno: »Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.« In: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Rolf Tiedemann u.a., Frankfurt/M.: 1980, S. 55.    zurück