IASLonline

Hochseiltänzer über Ruinen

Hans Ulrich Gumbrecht erzählt die Geburt der Gegenwart aus der Latenz und seine Geschichte mit der Zeit

  • Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2012. 355 S. Gebunden. EUR (D) 24,95.
    ISBN: 978-3-518-42304-2.
[1] 

Wer hat Angst vor der ›Gegenwart‹?

[2] 

Bei der Untersuchung der Gegenwartskultur sind gemeinhin zwei konkurrierende Gruppen am Werk. Literaturkritiker pflegen ihre feuilletonistischen Ausbeuten zu sammeln. Das Ergebnis sind dann mehr oder minder bunte, oft schon saisonal wechselnde Galerien von Autorenporträts und Rezensionen. Viele Literaturwissenschafter scheint immer noch die unhistorische Nähe zum Gegenstand der Gegenwart zu schrecken; je kürzer die Geschichte der Literatur ausfällt, so kann man mit Blick auf die einschlägigen Bücher von Nicholas Boyle (2008/2009) und Hermann Kurzke (2010) feststellen, um so knapper – und um so schlechter – kommt die Gegenwartsliteratur dabei weg.

[3] 

Literaturkritik und Literaturgeschichte klassischen Zuschnitts ist Hans Ulrich Gumbrechts Sache nicht. Der in Stanford lehrende und in namhaften deutschsprachigen Feuilletons publizierende Romanist Hans Ulrich Gumbrecht ist ein Vordenker im weiten Feld zwischen Kulturkritik und Konstruktivismus. Er arbeitet sozusagen an der Front einer Kulturtheorie der Gegenwart. Seine Hauptaufgabe seit Jahren: der feuilletonistisch oft übertraktierten und wissenschaftlich vernachlässigten Gegenwart mit neuen Begriffen, originellen Ideen und eleganten Konzepten auf die Spur zu kommen.

[4] 

Gumbrechts Schlüsselbegriffe lauten »Präsenz«, »Stimmung« und »Latenz«. Sie machen von vornherein den avancierten Anspruch der Arbeit klar. Und sie rechnen mit einem Leser, der neben den Phänomenen auch den sich selbst beobachtenden Beobachter im Blick behalten muss.

[5] 

Eine ganze Reihe von Büchern bezeugt Gumbrechts beharrliche Arbeit am Gegenstand: schon 2004 in der Programmschrift Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz 1 , dann 2010 in dem Essay Unsere breite Gegenwart, 2011 in dem aus einer Artikelserie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hervorgegangenen Buch Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, im gleichen Jahr (mit Florian Klinger) in dem Sammelband Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften und 2012 in dem Band Präsenz 2 .

[6] 

Wann beginnt die Gegenwart?

[7] 

Diesen Büchern gelang es hierzulande, die Fachwelt zu spalten und die Feuilletons zu besetzen. Auch in den USA sind Gumbrechts Thesen nicht ganz unumstritten. In Stanford musste er sich nach seinem Vorstellungsvortrag die Kritik gefallen lassen, warum er die Zuhörer, die eine »›ernstzunehmende Vorlesung‹« erhofften, mit einer »›albernen Erzählung‹« (281) gelangweilt habe. Substantialistische Thesenbildung, Anti-Hermeneutik, ›Heideggerisieren‹, »stimmungsorientierte Literaturwissenschaft« 3 , so lauten einige Stichworte der Kritik.

[8] 

Doch eines, das müssten auch die Gegner anerkennen, ist Gumbrecht gelungen. Mit dem terminus post quem »Nach 1945« im Titel seines neuen Buches verlängert er die Gegenwart so stark nach hinten, wie es jüngst nur noch groß angelegte Literaturgeschichten wie die von Wilfried Barner (1994, 2. Auflage 2006) wagten. Was hat der Nachkrieg noch mit unserer Gegenwart zu tun, zumal die wichtigsten Autoren, die Gumbrecht in seinem Werk anführt, Heidegger und Sartre, Borchert und Beckett, Benn und Celan nicht mehr unsere Zeitgenossen, sondern längst gut im Kanon aufgehoben sind?

[9] 

Sehr viel, meint Gumbrecht, weil, verkürzt gesagt, unsere Gegenwart in der Nachkriegszeit beginnt. Sie läuft ein als Phase der ›Latenz‹ im Sinne einer kulturellen Zeitstimmung, die (da sie ja sozusagen nur »in der Luft« liegt) aber erst im Nachhinein, und das auch nicht mit empirischer Sicherheit, konstruierbar ist. Fassbar ist die ›Latenz‹ indes als »Stimmung«. Dieser Begriff meint eine Ahnung, eine leise, mitfühlende Berührung durch die äußere Welt, immer im Wissen darum, dass, was uns berührt oder anrührt, nicht greifbar ist.

[10] 

Die Überwindung der »historischen Zeit«

[11] 

An den Effekten der Stimmung soll man sie erkennen: die Latenz jener Zeit nach 1945, in der sich ein neuer »Chronotop« (Bachtin) abzeichne, der die alte »historische Zeit« abgelöst habe. Kennzeichnend für die heute überwundene Erfahrung der »historischen Zeit« sei eine abschließbare Vergangenheit, aus der man lernen könne, sei die Gegenwart als Übergangsmoment und sei eine Zukunft mit offenen Möglichkeiten; in dem neuen Chronotopen baue sich zwischen einer Vergangenheit, die uns so vielfach zuhanden ist, dass wir sie nicht einfach hinter uns lassen können, und einer eher bedrohlichen Zukunft eine Gegenwart auf, die Gumbrecht als »breit« bezeichnet, weil sie sich in den »simultanen Welten« der Technik, der Kultur, der Politik, der Gesellschaft, Ökologie usw. abspielt.

[12] 

Mit der ›breiten‹ Gegenwart und der ›Stimmung‹ als gefühlter Zeiterfahrung ist der Denkrahmen abgesteckt, in dem sich Gumbrechts komplexe Theorie der »Präsenz« entwickelt. Man kann auch sagen: Präsenz – im Sinne einer Zeit-Raum-Erfahrung – ist das Bindeglied, das jene Gegenwart mit der sich darin ,breit’ machenden ,Stimmung’ verknüpft. Wenn diese Präsenz einer stimmungsorientierten Gegenwart nicht sichtbar ist, aber dennoch als vorhanden gedacht und empfunden werden kann, ist sie ›latent‹. Diese »Latenz« der Gegenwart ist eine der scharfen Kanten von Gumbrechts Theorie, an denen sich widerspruchsfreie Konzepte stoßen müssen (Gumbrecht spricht hier gerne von »ontologischen Ambiguitäten« 4 ).

[13] 

Die Entdeckung der Latenz

[14] 

»Latenz« ist das erste Wort im Buchtitel auf dem Cover. Dieses Wort hat eine lange Geschichte 5 mit psychoanalytischen Wurzeln. Doch mit Freuds Antagonismus »manifest« –»latent« hat Gumbrechts Begriffsgebrauch wenig zu tun. Und das ist die erste Überraschung. Gumbrechts Theorie ist das Bekenntnis zu einer unsichtbaren Gestalt. Was den Autor fasziniert, ist die intellektuelle Energie und die hermeneutische Produktivität dieses Begriffs, in dem Stimmungsanalyse und Selbstreflexion, Ablehnung von Eindeutigkeit und Affirmation von Widerspruch zusammenkommen.

[15] 

Die ›ontologischen Ambivalenzen‹ machen den Begriff flexibel, verwischen aber auch terminologische Grenzen. Latenz ist etwas, das da ist, ohne dass man es sehen oder greifen kann. Wir können es mit dem von dem niederländischen Historiker Eelco Runia geborgten Bild des blinden Passagiers erfassen. Der ist anwesend, beansprucht auch Raum, doch niemand kennt ihn, und niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wo er ist, schon gar nicht, ob er überhaupt existiert.

[16] 

Die Metaphorologie, Gumbrechts Methode, Abstraktes in Bildern zu denken, ist hier gar kein schlechter Ratgeber (er spricht vom »Stau« der Zeitstimmung [239] und von den »Furchen«, welche die Latenz in der Gegenwart hinterlässt [309]). Auf der Umschlagabbildung des Buches werden Hochseilartisten über den Frankfurter Nachkriegsruinen gezeigt. Die Latenz wäre hier im Raum zwischen den Artisten der Luft und den Ruinenbewohnern, die sich nicht einmal ansehen, zu suchen. Man kann Latentes nicht sehen, aber gut lesen.

[17] 

Latenz als Präsenz der »breiten Gegenwart«

[18] 

Und hier wird die Sache interessant. In welcher analysierbaren ›Stimmung‹ befinden wir uns eigentlich (philosophisch und ästhetisch gesprochen), wenn wir unsere Gegenwart beschreiben? Die Latenz der Gegenwart besteht Gumbrecht zufolge darin, dass sie eine lange und langsame Präsenz hat, länger zurückreichend, als man in der germanistischen Literaturwissenschaft, die dazu tendiert, die Gegenwart 1968 oder erst 1989/90 beginnen zu lassen, anzunehmen bereit ist. Eben dies ist die zweite kleine Überraschung.

[19] 

Die Latenz unserer Gegenwart beginnt nämlich schon »Nach 1945«: In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – hier lehnt sich Gumbrecht an Forschungen seines Leipziger Kollegen Anselm Haverkamp 6 an – entsteht jener oben skizzierte neue Chronotop. Dies ist ein Zeitraum, der auf einer Metaebene nicht die »historische Zeit« ist, die wir mit Fixdaten wie 1956, 1968 oder 1989 einzufrieden meinen. Sondern eine nichtlineare »Zeitform, die von der wiederholten Gewissheit bestimmt wurde, dass durch eine Erscheinung, die niemand je gesehen hatte, endlich ›etwas‹ hervorgebrochen sei« (239 f.).

[20] 

Diese Latenz von Erscheinungen, »die niemand je gesehen hatte«, ist für Gumbrecht der Ursprung der Gegenwart. Und gerade weil sie niemand gesehen, wohl aber einige erwartet haben, ist der, welcher die »Entbergung von Latenz« (241) betreibt, den traditionellen Historikern immer einen Schritt voraus. Im Streit um eine Kulturtheorie der Gegenwart ist Gumbrecht der Igel.

[21] 

Konfigurationen der Latenz

[22] 

Die Kapitelüberschriften, unter denen Gumbrecht seine Stimmungsanalysen als entborgene Latenz-Phänomene subsumiert, sind entsprechend stachlig. Sie bringen Disparates zusammen, die Hauptwörter ragen heraus wie objets trouvés: »Kein Ausgang und kein Eingang«, »Unwahrhaftigkeit und Befragungen«, »Entgleisungen und Behälter«. Was ist damit gemeint?

[23] 

Hier muss man etwas zur Entstehung des Buches sagen. Hans Ulrich Gumbrecht gibt darüber im Schlusskapitel Auskunft. Es heißt »Coda: Zur Form des Buches«. Hier erfährt man, dass am Anfang weder eine Projektidee noch eine »Intuition« stand, sondern der »unwiderstehliche Drang, Bilder und Texte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zu betrachten und zu lesen« (321 f.). Dazu gehören auch die eigene Kindheit, die Studienjahre und die wissenschaftliche Karriere. Latenz ist insofern ein Ausgangsort für die eigene Biographie (Gumbrecht wurde 1947 in Würzburg geboren).

[24] 

In diesem Sinne dienen die Kapitelüberschriften nicht nur dem Ausdruck der ontologischen Mehrdeutigkeiten. Sie rücken auch die persönlich erfahrenen ›Stimmungen‹ in die Distanz einer transhistorischen, hybriden Theorie. Gumbrecht spricht von »Konfigurationen von Topoi«, in denen man die Formen der Situationen der Latenz nach 1945 beobachten kann.

[25] 

Eingeschlossene Kultur

[26] 

Die erste Konfiguration veranschaulichen Jean-Paul Sartres 1944 uraufgeführtes Dreipersonenstück Huis clos (Geschlossene Gesellschaft) und Wolfgang Borcherts Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür, das 1947 als Hörspiel ausgestrahlt und als Theaterstück inszeniert wurde. Dabei geht es um die Unzugänglichkeit der Räume. Aus Sartres Salon kommt niemand hinaus, Borcherts Held Beckmann kommt nirgends hinein, schon gar nicht heim. Der ersehnte Raum, der (wieder) zur Heimat werden soll, bleibt ein »Objekt der Begierde«, ein »Latenzraum« (56). Und Heimat bleibt wie auch Identität ein unfrommer Wunsch der Nachkriegszeit.

[27] 

Eine wahre Allegorie der Nachkriegsstimmung des Eingeschlossen- und Ausgeschlossenseins ist das Schicksal der »Graf Spee«. Das deutsche Panzerschiff lag im Dezember 1939 stark angeschlagen vor Montevideo. Hitler befahl dem Kapitän, weiterzukämpfen. Doch der versenkte sein Schiff, das zuvor von einem Großteil der Besatzung verlassen worden war, in Küstennähe und erschoss sich wenig später. Das bis 2004 noch teilweise sichtbare Wrack und die in Südamerika gebliebenen deutschen Soldaten verkörpern die merkwürdige Situation des »Nicht-Weggehen-Können[s]« und »Nicht-Eintreten-Wollen[s]« (65).

[28] 

»Unwahrhaftigkeit und Befragungen«

[29] 

Für die zweite Konfiguration steht abermals Sartre Pate. In seinem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts (1943) hat er (im zweiten Kapitel) die Unwahrhaftigkeit von der Lüge abgegrenzt; unwahrhaftig ist, wer die Wahrheit vor sich selbst verschweigt. Gumbrecht deutet die in der Nachkriegszeit manifeste Dimension der auf Wahrhaftigkeit abzielenden Interviews, Dokumentationen und Reportagen als Reaktion auf die latente Unwahrhaftigkeit dieser Projekte. Göring, der sich als »Staatsmann einer besiegten Nation« aufführte, verbarg »vor sich selbst die Wahrheit«, dass er ein Kriegsverbrecher war (117).

[30] 

Der Kinsey-Report (1948, deutsch 1955) ist wohl das »berühmteste Zeugnis« 7 für die Latenz des Unwahrhaftigen, das in der empirisch nie ausreizbaren Zielmarke steckt, die sexuelle Identität ganz transparent zu machen: wie ehrlich ist der Proband mit seinen eigenen Gefühlen?

[31] 

Erkenntnisse im »Winterschlaf« (239)

[32] 

Man mag sich fragen, wie diese Beobachtungen aus unterschiedlichen Medien und Kulturen zusammenpassen? Dieses methodologische Problem ist ein Grundelement von Gumbrechts Theorie. Wenn es keine wetterfeste Position gibt, von der aus das intellektuelle Klima der Nachkriegszeit zu beschreiben ist, dann geht es darum, die Wirkungen dieses »nicht fassbaren Wandels« (158) zu dokumentieren, so komplex diese Wirkungen auch sind. Zu Sartre, Göring, Kinsey gesellen sich die Geschichten von Don Camillo und Peppone (seit 1946), die amerikanische Fernsehserie Father Knows Best (ab 1954, übrigens das Vorbild der Simpsons), Marilyn Monroe-Filme, die Ermordung John F. Kennedys 1963, ein zeitdiagnostisch wertvolles Gedicht von Stefan Andres (»Manchmal im Traum«, 1948): allerorten unwahrhaftige Antworten auf wissbegierige Fragen, Erkenntnisse im Tiefschlaf einer Zeit, die sich ihres Potenzials nicht bewusst ist.

[33] 

»Entgleisungen und Behälter«

[34] 

Unter der »Entgleisung« versteht Gumbrecht, dass die Geschichte von ihrem vorgesehenen Kurs abweicht. Hier wird der Kulturkritiker zum rückwärts gewandten Propheten. Man kann den Ruin der Geschichtsteleologie in den katastrophischen Eisenbahn-Geschichten der Nachkriegszeit verfolgen, die Gumbrecht hier ausspart 8 .

[35] 

Besonders lohnend ist Gumbrechts Blick auf Paul Celans 1944/45 entstandene Todesfuge. Celans Gedicht ist eine Inkunabel der Nachkriegslatenz und wird mit großer analytischer Prägnanz als Ursprungsort einer Gegenwart kommentiert, die vor der unbegriffenen Koinzidenz von Tod und Leben erschrickt. Im »Grab in der Luft« trifft die Sehnsucht nach Geborgenheit auf die tödliche Bedrohung einer unkontrollierbaren Macht. Das Zitat »Grab in der Luft« ist dabei keine Metapher, es bringt zur Sprache, wie ein Überlebender und nachgeborener Zeitzeuge durch die präsente, aber latente Welt der Opfer des Holocausts berührt worden ist und wie diese, wenn man so sagen darf, ›blinden Passagiere‹ der Geschichte den Leser anrühren.

[36] 

Auch die Sammlung von Fundstellen zum Topos »Gefäß« vermittelt einen guten Eindruck vom Charakter einer Zeit, die der Leere eine Form gab (etwa im Existentialismus). Entgleist sei, so Gumbrecht, damit auch das Verhältnis zwischen Denken und Erkennen. Vor allem in den nuklearen Selbstvernichtungsszenarios zeigt sich, wie sehr das nach 1945 Gedachte in seinen Folgen nicht mehr zu erfassen war.

[37] 

Kritisch anzumerken ist dreierlei:

[38] 

1. Kritik der Theorie als »Ausdruckstanz« 9
Im vorletzten Kapitel erzählt Gumbrecht, wie er Jacques Derrida und Pina Bausch zu den »Presidential Lectures« nach Stanford holte: »Der Abend, an dem Pina Bausch vor einem sprachlosen Publikum mit einer jungen brasilianischen Balletttänzerin Le Sacre du printemps einstudierte, war einer der seltenen Augenblicke meines Lebens, an dem ich mir vor lauter Schönheit und auch aus einem Gefühl des Stolzes über das Erreichte wünschte, die Zeit würde stillstehen.« (295)
Sprachlosigkeit ist eine Eigenschaft der Latenz, die zu entbergen das Gegenteil erfordert. Durch den Intuitionsüberschuss entsteht ein kräftiger Theorieschub, der dazu führt, überall, in Populärkultur wie in der E-Literatur, in Film, Musik, Politik und Sport, Latenzen zu wittern. Dem »enorme[n] Maß an Latenz« entspricht die Präsenz einer Vergangenheit, die höchst »beunruhigend und unzugänglich« (306) ist. Der Beobachter höherer Instanz kann die Geschichte nicht einfrieren, die Zeit nicht vollends hinter sich lassen. Insofern ist Gumbrechts Theorie ein konstruktivistischer Ausdruckstanz mit der Zeitgeschichte, kunstvoll genug, um die Grenzen der Wissenschaft zu erweitern.

[39] 

2. »zu früh für eine Autobiografie« (327)
Damit zusammen hängt ein zweiter struktureller Einwand. Mag auch die autobiografische Miniatur (wie im siebten Kapitel »Entbergung von Latenz?«) als Mittel der eigenen Latenzbetrachtung beglaubigt sein, so gerät die Untersuchung doch in eine Schieflage. Der Lebensstoff wirkt ungegliedert und bisweilen selbstherrlich. Und ob Gumbrechts »Geschichte mit der Zeit« auch die seiner Generation ist, wird sich noch erweisen müssen.

[40] 

3. Latenz der Begriffe
Bedingt durch den Vorzug der »Intuition« (305) vor dem Argument, schillern die begrifflichen Verbindungen in einer gewissen Ambiguität. Wer sich auf die Rückseite der Phänomene denkt, droht deren Vorderseite zu verdrängen. So bei dem Begriff des Chronotopen. Er suggeriert eine Zeitkonstruktion, enthält aber auch eine räumliche Komponente, einen Ort in der Zeit. Die Bedeutung dieses Zeit-Ortes weist weniger auf die zeitliche, vielmehr auf die räumliche Ausdehnung der Gegenwart, worauf auch der Präsenz-Begriff abzielt, der die Zeiterfahrung der Welt sozusagen verräumlicht und resubstantialisiert.
Es sei hier nur erwähnt, dass von Gumbrechts Präsenz-Modell einer »breiten Gegenwart« die temporal akzentuierte Präsenstheorie einer reinen Gegenwart im Sinne George Steiners zu unterscheiden wäre. 10 Entauratisierung des Kunstwerks versus Aufstand gegen das Sekundäre, erlebte versus gedeutete Kultur, breite versus tiefe Gegenwart, Stimmung versus Erhabenheit, Semiologie der Wirkung statt Grammatik der Schöpfung: So wären die Positionen Gumbrechts und Steiners zu umreißen.

[41] 

Und wo bleibt das Positive?

[42] 

Unbedingt zu würdigen ist Gumbrechts Versuch, eine ästhetische Geschichte der Philosophie der Zeit zu schreiben. Dieser Versuch ist originell, innovativ und streitbar im besten Sinne.

[43] 

1. Gumbrecht entdeckt die »Latenz« der Nachkriegsjahre als den »Ursprung« unserer Gegenwart (239). Damit liefert er eine Genealogie der Gegenwart, der man sozusagen beim Entstehen über die Schulter zuschauen kann. Gumbrecht gibt Antworten auf die Frage, wann die Gegenwart beginnt, welche Vergangenheit wir eigentlich aufarbeiten und wie wir die Historisierung der Geschichte zu Ende denken können.

[44] 

2. Gumbrecht stellt einen geschichtstheoretischen Rahmen bereit, innerhalb dessen erstens die künstlerischen und philosophischen Zeitdiagnosen der Nachkriegsjahre (Heimatlosigkeit, Identitätsverlust, Nervosität und ,Geworfenheit’) auf ihre Effekte hin überprüft werden können. Und zweitens bietet er Hilfe bei der Suche nach alternativen Figuren der Selbstreferenz nach dem Ruin des »Habitats des cartesianischen Subjekts« 11 .

[45] 

3. Das Latenz-Buch ist eines der schwierigsten, aber zugleich eines der eingängigsten, ja persönlichsten Bücher Gumbrechts. Es dürfte insofern dem Erstleser schwerfallen, die komplexe Theorie mit den spannenden Lebensabschnittserzählungen (etwa über seinen Konstanzer Lehrer Hans Robert Jauss 12 ) auszubalancieren. Allemal lohnend wird es sein, das Buch mehrmals zu lesen, als Gegenwartstheorie, als Kompendium von intellektuellen Zeit-Stimmungen und, worauf der Koblenzer Historiker Christian Geulen hinweist, als anregende Quelle. Es ist nicht verkehrt, mit Gumbrecht gegen den Strom zu schwimmen, um zu diesen Quellen zu gelangen.

 
 

Anmerkungen

Claude Haas: Memoiren eines unglücklichen Konstruktivisten. (Rezension über: Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.) In: IASLonline [10.03.2007] URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1806 Datum des Zugriffs: 07.01.2013.   zurück
Sebastian Böhmer: Wer hat Angst vor einer Philosophie der Präsenz? Hans Ulrich Gumbrecht blickt zurück nach vorn. (Rezension über: Hans Ulrich Gumbrecht / Jürgen Klein [Hg.]: Präsenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012.) In: IASLonline [19.11.2012]
URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3169 Datum des Zugriffs: 07.01.2013.   zurück
Steffen Martus: Sehnsucht entziffern, Sommer beschwören. In: Die Zeit, 09.06.2011.    zurück
Hans Ulrich Gumbrecht: Zentrifugale Pragmatik und ambivalente Ontologie. Dimensionen von Latenz. In: H.U. G. / Florian Klinger (Hg.): Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2011, S. 9–19, hier S. 17.   zurück
Vgl. den einschlägigen Artikel von Hans-Gerd Janssen im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer. Bd. 5, Basel/Stuttgart: Schwabe Verlag 1980, S. 39–42.   zurück
Vgl. Anselm Haverkamp: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002; A. H.: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg. Berlin: Kadmos Kulturverlag 2004. Keines dieser Bücher wird im Literaturverzeichnis von Nach 1945 aufgeführt.   zurück
Hans Ulrich Gumbrecht: Nach der Latenz. In: Neue Zürcher Zeitung, 04.02.2012.   zurück

Christian Geulen hat darauf hingewiesen in seiner Rezension von Gumbrechts Nach 1945, in: H-Soz-u-Kult [09.11.2012] URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012–4–124 Datum des Zugriffs: 08.01.2013. – Geulen verweist auf Arno Schmidts Erzählung Leviathan (1949), Dürrenmatts Kurzgeschichte Der Tunnel (1952) wäre zu ergänzen.

   zurück

Stephan Schlak: Die Überführung der Theorie in Ausdruckstanz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.2012.

   zurück
10 
Vgl. v.a. George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Übersetzt aus dem Englischen von Jörg Trobitius. Mit einem Nachwort von Botho Strauß. München: Hanser 1990.   zurück
11 
Gumbrecht: Zentrifugale Pragmatik und ambivalente Ontologie. Dimensionen von Latenz. In: H.U. G. / Florian Klinger (Hg.): Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2011, S. 9–19, hier S. 18.   zurück
12 
Hans Ulrich Gumbrecht: Mein Lehrer, der Mann von der SS. Die Universitätskarriere von Hans Robert Jauß zeigt, wie man mit NS-Vorgeschichte eine bundesrepublikanische Größe werden konnte. In: Die Zeit, 07.04.2011, S. 62.   zurück