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Zum Stand der Forschung über Sachsen-Weimar und Goethes Regierungstätigkeit

Die Kommentarbände zu den 'Amtlichen Schriften' in der Frankfurter Goethe-Ausgabe

Review article zu

  • Reinhard Kluge / Irmtraut Schmid / Gerhard Schmid (Hg.): Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe). Kommentar zu den 'Amtlichen Schriften'. Bd. 26K, hg v. Reinhard Kluge; Bd. 27K, hg. v. Gerhard und Irmtraut Schmid; Registerband: Bd. 26-27R, hg. v. Reinhard Kluge, Gerhard und Irmtraut Schmid. Berlin: Deutscher Klassiker Verlag 2011. CD-ROM. EUR (D) 35,00.
    ISBN: 978-3-618-60463-1.
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Die Akten des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar und ihre Publizierung

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Im Thüringischen Hauptstaatsarchiv in Weimar liegen Tausende von Akten, die Goethes Tätigkeit als Regierungsbeamter dokumentieren, allein bis 1786 ca. 11000. 1 W. Daniel Wilson hat 2004 darauf hingewiesen, dass an den Gesprächsberichten aus den 1790er Jahren deutlich wird, »wie viel Material vor allem zu Goethes amtlicher Tätigkeit noch unveröffentlicht in den Archiven schlummert.« 2 Diese Dokumente wurden lange Zeit kaum beachtet, weder von Historikern noch von Germanisten; gedruckt wurde davon nur ein Bruchteil.

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Anders als in der dreibändigen Ausgabe von Goethes Amtlichen Schriften 1950–1987 von Willy Flach und Helma Dahl, die in 570 Dokumenten nur Goethes Tätigkeit im Geheimen Consilium, dem dreiköpfigen obersten Beratergremium Herzog Carl Augusts, der eigentlichen Regierung, zum Gegenstand hatte, 3 unternimmt die Frankfurter Goethe-Ausgabe, wie schon die Münchner Goethe-Ausgabe der 1980er Jahre, den Versuch, in einer breiteren Auswahl alle Felder von Goethes Regierungstätigkeit in Weimar vorzuführen, also neben seiner Tätigkeit im Geheimen Consilium auch sein Engagement in den Kommissionen Bergwerk, Krieg, Steuer, Schlossbau, Wasserbau, Theaterleitung, Wissenschaft und Kunst.

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Gegenüber der Münchner Ausgabe, die chronologisch verfährt und amtliche Schriften auf mehrere Bände verteilt, 4 hat die Frankfurter Ausgabe erhebliche Vorteile: vierfacher Umfang an Dokumenten, alle Texte in zwei aufeinanderfolgenden Bänden (Bde. 26 und 27), systematische Gliederung nach Behörden und Kommissionen (in der Münchner Ausgabe nur innerhalb des jeweiligen Bandes), chronologische Trennung nur durch die Italienreise 1786–88, Buchstabentreue bei Goethe-Texten, während die Münchner Ausgabe alle Texte in moderner Rechtschreibung präsentiert.

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In den schon kurz vor der Jahrtausendwende erschienenen beiden Textbänden wurden auf gut 2000 Seiten 1238 Dokumente abgedruckt, zu denen es im ersten Kommentarband 39 Ergänzungen gibt. Die Herausgeber schätzen, dass sie damit »weniger als ein Viertel« (Registerband, S. 10) der in Frage kommenden Dokumente, also von Goethe selbst verfassten Schreiben, erfasst haben – auch das wohl noch eine zu optimistische Schätzung: realistischer ist die Hälfte, also weniger als ein Achtel. Alle Editionen von Amtlichen Schriften zusammengezählt sind heute – 2012 – etwa 2500 Akten publiziert. Dabei ist zu bedenken, dass Goethe an vielen Vorgängen aktiv politisch beteiligt war, in denen er selbst kein Schreiben verfasste. 5

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Diese Relationen sollte man im Kopf haben, wenn man aus Kluge-Schmid-Schmids Bänden sich ein Bild von Goethes amtlicher Tätigkeit in der Weimarer Regierung machen will.

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Umfang und Auswahl der Texte sind dennoch sehr verdienstvoll. Aber ohne Kommentar, der die Vorgänge erläutert und einordnet, erschließen sie sich nur Wenigen. Schon Willy Flach wies 1950 darauf hin, dass »keine der amtlichen Schriften Goethes« »für sich selbst« spreche, sondern »von Seiten der Forschung« »durch Erläuterungen erschlossen werden« müsse. 6 Die jetzt – 2011 – vorgelegten beiden Kommentarbände und der Registerband öffnen einer breiteren Leserschaft das Verständnis der amtlichen Texte. Wieviel Einarbeitung dazu notwendig war, zeigt der lange Zeitraum von 12 bis 13 Jahren, den Reinhard Kluge, Irmtraut Schmid und Gerhard Schmid für ihre Recherchen benötigten. Publikumsfreundlich ist die Ausgabe der beiden Kommentarbände und des Registerbands durch die Form einer CD-Rom für 35 € statt der vermutlich über 400 € für eine Buchfassung (die es alternativ nicht gibt), wenngleich die parallele Benutzung der in Buchform vorliegenden beiden Textbände und der nur am PC zugänglichen Kommentarbände etwas umständlich ist.

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Dem 1. Kommentarband, für die Jahre 1776 bis 1786 (von Reinhard Kluge), kommt besondere Bedeutung zu, weil Willy Flach dem ersten Band seiner Ausgabe von 1950 keinen Kommentarband folgen ließ, die Schriftstücke dieses Zeitraums also bis jetzt ohne Erläuterung geblieben sind, während die Dokumente für den Zeitraum 1788–1819 von Helma Dahl 1987 kommentiert wurden.

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Leserinnen und Leser, die sich erstmals mit der Geschichte dieses kleinen Fürstentums beschäftigen, erhalten ein anschauliches Bild der gesellschaftspolitischen Verhältnisse des Weimarer Staates und der darin politisch handelnden Akteure, weniger Akteurinnen. 7 Wer sich für die Entwicklung des europäischen feudalen Territorialstaates zum bürokratischen Anstaltsstaat interessiert, also zu jener Art von Staat, den wir heute noch haben, findet in der Geschichte Sachsen-Weimars von 1770 bis 1830 eine überschaubare, sinnlich handgreifliche Geschichte in den einzelnen Vorfällen, die jetzt durch die Kommentarbände gut verstehbar sind.

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Strukturen des Staates Sachsen-Weimar

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Geographisch war der Kleinstaat Sachsen-Weimar–Eisenach ein mitteleuropäisches, zentral gelegenes Land, leider aber abseits der großen Handelsstraßen, die Geld einbrachten. Politisch eingezwängt zwischen die Interessen der Großmächte Preußen und Österreich bestimmte das Lavieren zwischen beiden die Politik schon bis 1789, in den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen noch weit stärker. Goethe hat nach seiner Rückkehr aus Italien als Berater von Carl August auch die Außenpolitik kommentiert und mitbestimmt.

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Man lernt aus den Dokumenten und Kommentaren anschaulich die Vorgeschichte unseres Rechtsstaates kennen. In Weimar waren – wie überall in Europa – die Eigentums- und Besitzverhältnisse an Grund und Boden, Gebäuden und an Arbeit durch teils Jahrhunderte alte, schriftlich beurkundete Verträge geregelt, die von der Weimarer Regierung nicht ohne weiteres willkürlich verändert werden konnten. Die Landstände, d.h. die adeligen Gutseigentümer, hatten eine eigene Behörde, deren Landsyndicus ihre Interessen gegenüber der herzoglichen Regierung in Weimar vertrat; in Eisenach und in Jena befand sich eine »Landschaftskasse«. Es gab Streitereien über die Eintreibung von Steuern. Der Herzog besaß als Herrscher, wie überall üblich, die meisten Güter von allen Adeligen; über ein Drittel aller Güter im Lande Sachsen-Weimar gehörte ihm. Die Güter waren verpachtet, und die Regelungen der Pachtzahlungen waren Gegenstand des Geheimen Consiliums. 8

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Dazu kamen herzogliche Fabriken wie die Ilmenauer Porzellanmanufaktur. Charakteristisch für die Schwäche des Handels- und Gewerbebürgertums musste im Agrarstaat Sachsen-Weimar, wie fast überall im Frühkapitalismus, der Staat selbst als Unternehmer agieren. Wie stark die feudalen Strukturen noch waren, zeigt z.B. der Streit um Holz- und Fronfuhren der Gemeinde Oesterbehringen für das Amt Gross-Rudestedt im Jahr 1777. Im Streit um die Spanndienste wurden alte Urkunden hervorgeholt, die Gemeinde weigerte sich, Fuhren zu leisten, der Herzog drohte mit fiskalischer Klage. Am Ende siegte die Gemeinde, der Herzog gab auf. Die Fronabgaben waren – wie überall in Europa – auch in Weimar weitgehend in Geldabgaben umgewandelt worden. In einem Fall wurde aber noch um die Anzahl der Naturalabgabe »Rauchhühner« gestritten.

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Außer den Herrschafts- und Adelsgütern gab es freie Bauern, wie das Beispiel des Dorfes Melpers zeigt, dem mit Goethes Engagement finanziell geholfen wurde. Bei der Steuerpolitik ging es auch darum, ob die Steuerfreiheit des adeligen Grundeigentums gebrochen werden konnte. In Weimar klappte das nicht. Anstelle dessen wurden Wareneinfuhren besteuert, eine Art Mehrwertsteuer etabliert, damit der Adel unbehelligt blieb.

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Die feudale Gebundenheit des Eigentums war auch in Sachsen-Weimar schon so weit aufgeweicht, dass Bürger Landgüter kaufen konnten, wie Beispiele, etwa von Christoph Martin Wieland, Achatius Ludwig Schmidt und Goethe belegen.

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Untertäniger Briefstil und politische Realität klafften weit auseinander. Man liest erstaunt, mit welcher Vehemenz, Hartnäckigkeit, Widerspenstigkeit und Unerschrockenheit Bauern und Handwerker für ihre Rechte und ihr Auskommen eintraten. Als die Steuern für die Landgüter des Amtes Ilmenau neu festgesetzt wurden, bedeutete das für die Bauern zugleich eine Steuererhöhung. Sie wehrten sich mit allen Mitteln bis zur Revolte, die vom Militär niedergeschlagen wurde.

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Die Regierungsform war auf dem Weg zu selbständigen Ressortministerien, aber noch nicht dort angekommen. Es gab im wesentlichen drei zentrale Behörden: erstens die herzogliche Kanzlei mit dem Geheimen Consilium, die eigentliche Regierung, dem in den 1770er und 1780er Jahren angehörten: neben Herzog Carl August (1757–1828) der Geheimrat Jacob Friedrich Freiherr von Fritsch (1731–1814), seit 1754 im Staatsdienst, seit 1772 Wirklicher Geheimer Rat; er war der Dienstälteste. Ferner Christian Friedrich Schnauss (1722–1797) und Johann Wolfgang Goethe, seit 1782 von Goethe, beide seit 1779 Geheimräte. Eine Verteilung von Aufgabenbereichen gab es in diesem Gremium nicht.

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Die zweite Behörde war die sogenannte Regierung, das war eine die Geschäftsvorfälle und die Entscheidungen der Herzogs vorbereitende und ausführende Behörde, fast ausschließlich mit Juristen besetzt. Und drittens gab es die Finanzbehörde, Kammer genannt. Als geistliche Behörde wäre das Oberkonsistorium hinzuzufügen. Alle anderen öffentlichen Arbeiten wurden über dauerhafte oder zeitlich begrenzte Einrichtungen geleistet, »Kommissionen« genannt, der Straßenbau z.B. durch die »Wegebaukommission«, die Verwaltung des Militärs durch die »Kriegskommission«. Die Gliederung der Staatstätigkeit in Kommissionen war eine Vorform unserer heutigen Gliederung in Ministerien. 9

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Großes Gewicht hatte natürlich die Finanzverwaltung. Die sogenannte Kammer war alles zugleich: Finanzministerium, Bank, Finanzamt und Verwalterin der Güter des Herzogs. Die Staatsfinanzen waren von den Einkünften des Herzogs als größtem Eigentümer nur undeutlich unterschieden. Beim Herzog gab es noch keine strikte Trennung zwischen Privateigentum und Staatsbesitz. Als halb private Kasse gab es die herzogliche »Schatulle«, deren Leiter in den 1780er Jahren Friedrich Justin Bertuch war. Neben den landwirtschaftlichen Gütern besaß der Herzog auch Fabriken. So war die Ilmenauer Porzellanmanufaktur offenbar »Privatbesitz« von Herzog Carl August, zugleich erscheint sie im Verwaltungsakt als eine Fabrik in Staatsbesitz.

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Dieses System konnte mit der Einrichtung oder Schließung von Kommissionen flexibel auf die immer neuen staatlichen Aufgaben reagieren. Die Behördenorganisation war im Fluss, der Herzog erzeugte seit seinem Regierungsantritt 1775 eine Reformwelle, die aber von seinen Beratern und Beamten nach Kräften gedämpft wurde, unter energischer Beteiligung Goethes. 1785 wollte Herzog Carl August z. B. den unzeitgemäßen Kanzleistil reformieren, der Geheime Rat Schnauss hatte bereits neue Formulare entworfen. Goethe hat das verhindert. Nach seinem Votum von Ende November 1785 gegen die Vereinfachung unterblieb diese. (Bd. 26, Nr. 152, S. 335 f.; Bd. 26K, S. 307 f.)

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Zur Erhaltung der Macht eines absolutistischen Fürsten gehörte auch die kulturelle Repräsentation. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Hoftheater. 10 Im 18. und 19. Jahrhundert kam es in der adeligen und großbürgerlichen Oberschicht zu einer regelrechten Theatromanie, von der auch die kleineren Fürstenhöfe erfasst wurden. in Sachsen-Weimar wurde Herzog Carl August selbst zum Schauspieler. Das Theater trat in Konkurrenz zur Kanzel, die Stücke, ob Tragödie oder Komödie, diskutierten Probleme des sich herausbildenden neuen Menschen- und Weltbildes, die Aufführungen versammelten die adelige und bürgerliche Elite. Die Schauspielerinnen bildeten das Mätressenreservoir für den Herrscher und seine Hofadeligen, oder umgekehrt: Mätressen wurden als Schauspielerinnen engagiert. So auch in Weimar, wo Caroline Jagemann neben den Rollen in den Stücken auch die Rolle der Dauermätresse Carl Augusts übernahm.

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Goethe wurde in der Vielfalt seiner Funktionen der dienstbare Geist dieses Theatertreibens. Er war schon in den 1770er Jahren Stückeschreiber, Schauspieler und Regisseur. Nach seiner Rückkehr aus Italien wurde er für viele Jahre der Intendant des Weimarer Hoftheaters. Die Frankfurter Ausgabe zeigt, mit welcher Intensität Goethe diese Leitungsfunktion ausfüllte.

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Goethes Arbeitspensum und die Politik

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Goethes Position wird mitbestimmt durch die Schwäche des Herzogs. Bis 1786 konnte sich der Herzog mit wichtigen Reformvorhaben gegen den Widerstand seiner zäh am Alten festhaltenden Berater nicht durchsetzen. Entscheidend dabei war der Konservatismus Goethes. Der Herzog hatte Goethe nach Weimar gelockt in der Hoffnung, in ihm einen Mitstreiter im Kampf gegen die am Herkommen hängenden Beamten zu finden, eine Hoffnung, die kaum in Erfüllung ging.

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Natürlich sticht in der Dokumentation Goethes Rolle im Weimarer Staat heraus. Die schon oft festgestellte Größe seines Arbeitspensums wird in den Akten der vielen Kommissionen, die Goethe leitete, und den Aufträgen, die er erledigte, sinnfällig. Allein schon das Management bei der Wiedereröffnung des Ilmenauer Kupferbergwerks ist eine beeindruckende Leistung, ebenso ab 1791 seine Leitung der Kommission zum Wiederaufbau des 1774 abgebrannten Weimarer Schlosses. Dazu die aufreibende Tätigkeit als Leiter der Kriegskommission mit einer Vielzahl von Verwaltungsakten, später die Leitung des Theaters und die Aufsicht über die Bibliotheken.

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Hinzu kamen Einzelaufträge: Goethe kümmerte sich um das Wohlergehen des hoch verschuldeten Dorfes Melpers, er führte 1784 die Verhandlungen zur Sanierung der Finanzen mit der Weimarer und der Eisenacher Landständevertretung. Goethe setzte sich gegen die Erhöhung von Naturalabgaben von Bauern im Eisenacher Landesteil ein, wenn auch erfolglos.

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Man lernt erstaunt, mit welcher Vielzahl von einzelnen Verhältnissen der Herzog und seine drei obersten Berater zu tun hatten, Folge mangelnder Selbständigkeit der Regierung und der Kommissionen, und welch großes Arbeitspensum die Beamten und der Herzog bewältigten. Neben wichtigen Entscheidungen wie der Einführung von Wareneinfuhr-Steuern im Weimarer Landesteil und eines Bierpfennigs, der Stundung von Steuerresten, der Neuordnung des Konkursverfahrens, Berufung von Professoren an die Universität Jena, beschäftigte sich der oberste Staatsrat auch mit der Bohrung eines Brunnens und der Instandsetzung einer durch Hochwasser beschädigten Brücke, mit Zunftstreitereien zwischen Maurern und Dachdeckern, mit der Festsetzung der Klaftermaßes für Holz, der Beschaffung von Tuchen für die Hoflivree und der Abgabe von Bauholz aus den herrschaftlichen Waldungen an die Untertanen im Amt Greyenberg. Das ging bis in Kleinigkeiten wie der Schlichtung von Beleidigungen, Erzwingen der Einhaltung eines Eheversprechens, der Bestrafung eines trunksüchtigen Studenten und der Festsetzung der Form des Begräbnisses für einen im Duell erschossenen Studenten.

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Diese Arbeit vermehrte sich durch die Struktur der Entscheidungsprozesse. Ganz anders als erwartet wurde nicht mit Befehl und dessen Befolgung regiert, sondern die Entscheidungen fielen nach kollegialer Beratung einvernehmlich. In der Regel waren mehrere Ämter und Personen beteiligt, was einen umfangreichen Briefwechsel zwischen den Regierungsbehörden zur Folge hatte. Das erklärt die riesige Menge an Akten, die noch heute im Thüringischen Hauptstaatsarchiv lagern, obwohl ein großer Teil der tatsächlich angefertigten Schreiben sich gar nicht erhalten hat. Die Akten der Kriegskommission etwa sind bei der Gründung des Deutschen Reiches im Zuge der Übernahme der Weimarer Akten durch andere Behörden im 19. Jahrhundert fast vollständig verloren gegangen. Goethe hat seine amtliche Korrespondenz aus der Revolutionszeit »weitgehend« vernichtet. 11 Der derzeitige Leiter des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, Volker Wahl, schätzt, dass sich von den zwischen 1776 und 1786 tatsächlich angefertigten Schreiben nur noch etwa die Hälfte im Archiv befindet. 12

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Sinnfällig ist, dass auch ein kleines Fürstentum wie Sachsen-Weimar mit gerade einmal hunderttausend Einwohnern sich am Übergang in die neue Zeit des Kapitalismus und des Verfassungsstaates befindet. Das wird anschaulich in dem praktischen Handeln, welches die Dokumente spiegeln.

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Die Themen der Politik waren im Kleinformat die der größeren Staaten. Die Regierung bemühte sich, die Wirtschaft anzukurbeln, musste bei größeren Projekten selbst als Unternehmerin auftreten, so bei der Wiedereröffnung des Ilmenauer Kupferbergbaus. Der Ilmenauer Tuchindustrie wurde unter die Arme gegriffen, die Ilmenauer Porzellanmanufaktur musste durch Kredite unterstützt und neu verpachtet werden. 1782 wurde im Dorf Niederroßla eine herrschaftliche Walkmühle errichtet. Die staatliche Unternehmertätigkeit reichte bis zur Übernahme der Husarenkneipe durch die Kriegskommission. Gewerbebeschränkungen durch Zünfte oder bezahlte Konzessionen wurden gelockert, ohne das alte System abzuschaffen. In Ilmenau kümmerte sich die Regierung um die neu gegründete Zeug- und Raschmacherinnung (Rasch ist ein besonderer Wollstoff). Das Gewerbebürgertum setzte sich, wie überall in Europa, mit seiner Forderung nach Abschaffung der vielen – meist kirchlichen – Feiertage durch, um mehr Arbeitstage pro Jahr zu bekommen. Listig der Stil: die Feiertage wurden nicht einfach gestrichen, sondern auf Sonntage verlegt.

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Auch in Weimar gab es den Kampf des Staates gegen die Kirchenautonomie, die Zug um Zug eingeschränkt wurde, der Staat sorgte zugleich mit dem Entzug etwa der Kirchengerichtsbarkeit für Einnahmen aus Strafen. Man beseitigte Hindernisse der Freizügigkeit, indem die Geldabgabe für den Wohnortwechsel von einem Amt in ein anderes abgeschafft wurde.

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Der Staat übernahm immer weitere Aufgaben zur Schaffung und Erhaltung von Infrastrukturen. Durch Goethes Tätigkeit in der Wegebaukommission wird dies beim Straßenbau sichtbar.

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Die Finanzlage war wie auch in anderen Staaten prekär. In dem Kleinfürstentum gab es keinen jährlichen Staatshaushalt, keine selbständige Bank und keine Staatsanleihen, mit denen die oberitalienischen Stadtstaaten schon seit dem 15. Jahrhundert, die Könige von Frankreich oder England seit 200 Jahren ihre Kriege finanzierten.

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Zu erfahren ist, dass nach Auslaufen von Krediten Herzog Carl August bei seinem Herrschaftsantritt in den 1770er Jahren vor der Staatspleite stand und verzweifelt versuchte, einen Sanierer der Staatsfinanzen zu finden. Die Staatsschulden näherten sich der kritischen Grenze von einhunderttausend Talern, für die jährlich zwischen vier- und fünftausend Reichstaler Zinsen bezahlt werden mussten. Es gab verschiedene Gläubiger, u. a. das berühmte Bankhaus Bethmann in Frankfurt a.M. Die Aufgabe der Sanierung der Staatsfinanzen fiel ab 1782 Goethe zu, der damit die Schlüsselrolle in der Regierung erhielt. Nach Vorschlägen der Geheimräte Fritsch und Schnauss gelang 1784 die Übernahme der Schulden durch die Landstände, die Vertretung des Adels. Im Gegenzug wurde die Infanterie um die Hälfte verringert, wodurch sich die Militärausgaben, die vom Adel, eben den Landständen, aufzubringen waren, um die Hälfte reduzierten.

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Viel Raum nimmt die Universität Jena ein, die von mehreren Fürsten als Geldgebern, sogenannten »Nutritoren«, unterhalten wurde. Die Eingriffe der herzoglichen Regierung in die Selbstverwaltung waren groß und steigerten sich während der Revolutionszeit. 13

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Für die Struktur des Staates ist auch folgende kleine Begebenheit aufschlussreich. Als handelsreisende Juden sich beschweren, dass sie von Geleitreitern, welche für das Geld der Straßenbenützung eine sichere Durchreise durch das Staatsgebiet Sachsen-Weimar gewährleisten sollten, beleidigt und inhaftiert worden waren, vermittelt ein Weimarer Hofjude mit Namen Elkan in dieser Beschwerde.

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Die Situation der Kommentatoren und der Kommentatorin

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Die Situation der Kommentarbände wird durch den langen Zeitabstand zu den zuvor erschienenen Textbänden bestimmt. In dem Jahrzehnt bis zum Redaktionsschluss für die Kommentarbände 2008 hat sich die Absolutismusforschung verstärkt daran gemacht, mit dem Mythos absoluter Souveränität von Herrschaft in den sogenannten absolutistischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts aufzuräumen. Davon beeinflusst sind auch neuere Forschungen zum Staat Sachsen-Weimar-Eisenach. Hier geht es besonders um die Diskussion der »blühenden Legende« »vom Weimarischen Musenstaat« und dem angeblich »großzügigen Liberalismus seines Herzogs«, wie der französische Forscher Alain Ruiz 1979 formulierte. 14 Dass wichtige, quellengestützte Bücher zum Wandel dieses Staates erst nach der Drucklegung der beiden Textbände erschienen sind, macht die Besonderheit der Edition aus. Die HerausgeberInnen standen vor der Situation, bei ihrem Kommentar zu den bereits edierten Dokumenten die neuen Forschungen zu berücksichtigen und die Dokumente zum Teil neu zu bewerten.

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Sie haben das nur unvollkommen getan. Schon die Auswahl der Texte im zweiten Band von 1999 schuf Probleme. Denn bei der Auswahl der Dokumente über die Zeit nach Goethes Rückkehr aus Italien haben sich Gerhard und Irmtraut Schmid auf bisher unveröffentlichte Akten aus Goethes Kommissionstätigkeiten konzentriert. Das ist angesichts der umfangreichen Publikation von Akten aus dem Geheimen Consilium bei Helma Dahl in der Fortsetzung der von Willy Flach begonnenen Ausgabe von Goethes Amtlichen Schriften verständlich, zumal, anders als bei Flach, Dahls Ausgabe kommentiert ist.

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Da aber die politischen Entscheidungen nach Beratung im Geheimen Consilium fielen, die Kommissionen, denen Goethe vorstand, eher unpolitischer Natur waren, bietet der zweite Band der Amtlichen Schriften Goethes in der Frankfurter Ausgabe das Bild eines nahezu unpolitischen Beamten, dessen Hauptgeschäftsbereich Wissenschaft und Kunst ist. Allenfalls die Mitwirkung in der Kommission zur Reformierung der Universität Jena oder der Spielplan des Weimarer Theaters hatten nennenswerte innenpolitische Dimensionen.

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Damit wird Goethes politische Tätigkeit zur Verteidigung des Ancien Régime in den aufgeregten Zeiten der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und der Restaurationszeit nahezu komplett ausgeblendet. Dieses dadurch zwangsläufig schiefe Bild wird leider nicht durch einen einleitenden Text zu diesem Verfahren aufgefangen. Anders als im Band 26, dem 1. Band der Amtlichen Schriften, ist man daher darauf angewiesen, Dahls Ausgabe zusätzlich zu lesen, um ein zutreffendes Bild von Goethes Rolle und Politik in der Weimarer Regierung nach 1788 zu bekommen.

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Hinzu kommt, dass 2004 W. Daniel Wilson eine Sammlung von 572 Dokumenten, davon 405 erstmals ediert, zur Regierungstätigkeit des Staates Sachsen-Weimar-Eisenach in den beiden durch den Fortgang der Französischen Revolution aufgeregten Jahren 1792 und 1793 herausgebracht hat. 15 Besonders da der Band 27 für die Zeit seit 1788 die politische Korrespondenz fast ganz ausspart, wäre ein Eingehen auf diese Quellen und des sich aus ihnen ergebenden Bildes unerlässlich gewesen. Wilson hat mit seiner Publikation gezeigt, wie aktiv Goethe agierte und dass seine politische Rolle überhaupt weit größer war als bisher bekannt und zugestanden, sowie dass er keineswegs bei den Maßnahmen zur Unterdrückung nur volens nolens mitmachte, sondern aus Überzeugung.

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Mit dieser Quellenpublikation und der darauf basierenden Einleitung zum Bild des Staates Sachsen-Weimar hätten sich die beiden Schmids auseinandersetzen müssen. Wilsons Buch wird aber völlig übergangen, es taucht nicht einmal im Literaturverzeichnis auf. Das schlichte Unterschlagen der Quellenpublikation von W. Daniel Wilson zur Weimarer Politik in den Nachrevolutionsjahren 1792–93 ist ein gravierender wissenschaftlich handwerklicher Fehler; für eine solche Ausgabe ist er skandalös.

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Missachtet wird auch eine weitere Quellenpublikation von Wilson, sein Buch über das Verhalten von Herzog Carl August und Goethe gegenüber den Geheimorden von 1991. 16 Die Darstellung basiert auf der Präsentation von Akten, 60 Schriftstücke druckt Wilson ab und kommentiert sie. Auch Wilsons zweites Buch von 1999 zu diesem Thema: Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, ebenfalls eine Darstellung nach Originalquellen, wird völlig übergangen. Dass Schmid/Schmid bei der Unterdrückung von Freimaurerlogen Wilsons beide Bücher nicht erwähnen (Bd. 27 K, S. 40 ff.), ist ein schwer wiegendes Manko.

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Nicht zur Kenntnis genommen wird auch meine Dokumentation von 2004 über drei Fälle von Kindestötung in Weimar 1781–1783, darunter auch die Akte B 2754 zum Fall Höhn, 17 mit dem Resultat, dass die alten sachlichen Fehler weitergeschleppt werden; nicht einmal der Name der 1783 hingerichteten Johanna Catharina Höhn wird richtig angegeben.

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Die Liste übergangener, quellengestützter Forschungen zu Goethes amtlicher Tätigkeit und zum Weimarer Fürstentum lässt sich noch verlängern. Es fehlt die kritische Studie von Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800, München 1988. Auch Sigrid Damms nach den Quellen recherchierte Biographie von Christiane Vulpius-Goethe, die das Bild Goethes veränderte, fehlt im Literaturverzeichnis. Von den früheren kritischen Weimar-Forschungen fehlen die Textsammlung von August Diezmann von 1855, 18 das Buch von H. H. Houben über Zensur von 1928 19 und die späten Aufsätze von Karl Heinz Hahn. 20 Bedauerlich ist auch, dass der kritische Aufsatz von Karl-Heinz Fallbacher zur Entlassung Fichtes von 1985 übergangen wird. 21 Und es fehlt mein Diskussionsbeitrag zu den Folgen für die Bewertung der deutschen Klassik von 2005. 22

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Aber auch von den erfassten neueren Forschungen werden nur Details zitiert, im Fall von Wilsons Goethe-Tabu, das 1999 ein krass anderes Bild von Goethe entwirft, dem behaupteten liberalen Humanismus die Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen entgegenhält, nur wenige Einzelheiten genannt. Auch hier übergeht Kluge fast alles. Bei Goethes Votum zu Erbzinsen in Ruhla z. B. wird Wilson, der im Goethe-Tabu daraus zitiert und Goethes Standpunkt erörtert (S. 17 f.), nicht genannt, auch nicht in der weiterführenden Literatur am Schluss des Kommentartextes zu dieser Akte (Bd. 26 K, S. 280 f.). Kluge zitiert Thesen von Wilson ausschließlich, um sie als falsch zurückzuweisen.

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Die Diskussion über den Weimarer Staat hat im Jahrzehnt zwischen der Veröffentlichung der Textbände und der Kommentarbände durch Akten-Forschungen so stark an historischer Genauigkeit zugenommen, dass die Herausgeber einer solchen Goethe-Ausgabe an dem dadurch erzeugten neuen Bild nicht einfach vorbeigehen können. Die Forschungssituation hätte erfordert, dass in einem einleitenden Text vor den Stellenkommentaren auf sie eingegangen wird. Das aber ist unterblieben.

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Wie sich das Übergehen neuerer Weimar-Forschungen auswirkt, dazu zwei konkrete Beispiele:

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Die Kirchenbuße

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Bei der Abschaffung der Kirchenbuße (Votum von Goethe, Nr. 49, Bd. 26 K, S. 177 f.) besteht die Darstellung des Kommentators Kluge in der sachlichen Schilderung der Argumente und Gegenargumente und der Resultate. Das entspricht dem Ziel eines Kommentars. Problematisch aber ist dabei, dass man nur schwer erkennen kann, worum es Herder als Kirchenvertreter und Goethe als Vertreter der Weimarer Regierung ging. Man hat Goethes Votum als menschliches Handeln für unehelich Schwangere ausgelegt, die nun nicht mehr an den Pranger gestellt wurden. In Wahrheit aber ging es zugleich und in erster Linie um einen Machtkampf zwischen Kirche und Staat, kaum aber um Humanität. Die Weimarer Regierung hob mit der Abschaffung der Kirchenbuße das Recht der Kirche, Strafen in eigener Autonomie zu verhängen, auf.

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Zweitens ging es um Geldeinnahmen. Herder wollte die Umwandlung in eine Geldstrafe verhindern und bestand auf der erzieherischen Maßnahme, der Staat wollte die Umwandlung, weil er selbst das Geld einstrich. Fazit: Der Staat setzte sich gegen die Kirchenbehörde durch, verminderte deren Autonomie und unterwarf die Strafen fiskalischen Gesichtspunkten.

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Der Fall Höhn

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Ein weiterer Prüfstein für die Solidität des Kommentars ist der Fall Höhn. Die 24jährige Johanna Höhn hatte ihr ohne Hilfe geborenes Kind in einem Anfall von Panik unmittelbar nach der Geburt mit drei Messerstichen getötet, mit jenem Messer, mit dem sie die Nabelschnur durchtrennte. Sie wurde angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dass Goethe für die Hinrichtung der Hauptverantwortliche ist, nagt am Bild des überragenden Humanisten. Die Frage ist, wie Kommentator Reinhart Kluge den Sachverhalt darstellt.

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Die Überprüfung legt die Defizite des Textbandes wie des Kommentars bloß. Der Nachteil von Willy Flachs Edition von 1950 war, dass er zur Frage der Beibehaltung oder Abschaffung der Todesstrafe neben den Gutachten von Fritsch, Schnauss und Goethe das Votum des Herzogs nicht abdruckte, das für die Abschaffung der Todesstrafe plädierte. Dadurch wurde das Bild verfälscht, der Anschein erweckt, dass alle vier Mitglieder des Geheimen Consiliums für die Beibehaltung der Todesstrafe und damit für die Hinrichtung von Johanna Höhn waren. Durch das Votum des Herzogs wurde auch die These widerlegt, Goethe hätte sich nur dem Willen des Herzogs angeschlossen.

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Auch Kluge druckt 1998 das Gutachten des Herzogs nicht ab. Da nach der Edition aller Akten im Fall Höhn 2004 die Bedeutung des sogenannten Rescripts des Herzogs vom 13. Mai 1783 offenkundig war, hätte Kluge den Text als Nachtrag im Kommentarband von 2011 abdrucken müssen, was er aber nicht getan hat. Im Kommentarteil erwähnt Kluge das Rescript des Herzogs (S. 250), verschweigt aber, dass es ein Plädoyer für die Abschaffung der Todesstrafe ist. Der Herzog sagt darin:

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Wenn man erwägt, unter was für Umständen die That verübt wird, und wie leicht es geschehen kann, daß das Gemüth einer [eingefügt:] unehelich schwan­gern] Weibes=Per­son, [eingefügt:] bey oder kurz nach ihrer Entbindung,] in einem Augenblicke der Schwäche und Betäubung, durch den Eindruck der Furcht [eingefügt:] vor] der sie, wenn ihre uneheliche Schwangerschaft bekannt würde, unausbleiblich erwartenden Schande und denen dabey aus der Belä­stigung mit einem Kinde für sie erwachsenden Beschwer­lichkeiten übermeistert und zu Faßung, auch jählinger Ausführung des unnatürlichen Entschlußes, das unglückliche Geschöpf, von deßen Daseyn sie alle diese Übel zu besorgen hat, aus dem Wege zu reumen, hingerißen wird: So kann es nicht fehlen, daß diese Betrachtung nicht unter der Abscheu, den das Verbrechen selbst erweckt, einiges Mitleiden gegen die Verbrecherin mit mischen, und einen Bewe­gungs=Grund zu Milderung der Strafe an die Hand geben sollte. 23
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Das ist ein Plädoyer für die Berücksichtigung der Umstände bei der Tat für die Strafzumessung, d.h. die Milderung der Todes- in eine Zuchthausstrafe. Kluge dagegen verschweigt, dass sich Goethe und Schnauss gegen den Herzog stellten, während Fritsch bereit war, gegen seine Überzeugung die Abschaffung der Todesstrafe mitzutragen und damit Johanna Höhn zu begnadigen. Schon Goethe hat so getan, als ob Fritsch in seinem Votum für die Beibehaltung plädiert habe, und so wurde es, gegen den Text von Fritsch, von Historikern übernommen. 24 Erst Sigrid Damm hat das 1998 richtig gestellt. Auch Kluge hält an diesem Fehlurteil fest: »[...] sprach sich Goethe, seinen Kollegen folgend […]«(d. 26 K, S. 252). Die Korrektur dieser Ansicht bei Sigrid Damm und in der Darstellung bei mir 2004 nimmt Kluge nicht zur Kenntnis, Damms Buch wird wie die Aktenpublikation von mir nicht einmal im Literaturverzeichnis aufgeführt.

[59] 

Kluge schleppt auch andere, 2004 ausgeräumte Fehler weiter: Die Akten verfälschten den ersten Vornamen von Höhn zu »Anna« anstelle des korrekten Namens Johanna, der nur im Rescript des Herzogs und im Weimarer Totenbuch steht. Obwohl das längst richtig gestellt ist, hält Kluge am falschen Namen fest, ein vermeidbarer Fehler. 25

[60] 

Auch der mit Johanna Höhn gleichzeitige Fall von Kindestötung durch Maria Sophia Rost wird fehlerhaft dargestellt. Kluge: »In einem zweiten gleichzeitigen Fall hat Herzog Carl August das Urteil des Schöppenstuhls Jena in eine Zuchthausstrafe abgemildert, weil die Tatumstände nicht eindeutig zu klären waren.« (Bd. 26 K, S. 253) Das ist nicht richtig. Richtig ist vielmehr: Maria Rost leugnete die Tötung mit der Behauptung, ihr Kind sei tot geboren. Daher sollte sie gefoltert werden, um das Geständnis zu erzwingen. Carl August untersagte die Folterung. Er verwies den Fall gar nicht mehr an den Jenaer Schöppenstuhl zurück, sondern verfügte lebenslängliches Zuchthaus.

[61] 

Der Schöppenstuhl hat also gar kein Urteil gefällt. Wir sehen hier, wie in einer Zeit ohne strikte Teilung der Gewalten der Herzog willkürlich in einen Kapitalverbrechensprozess eingreifen, den Fall an sich ziehen und das Urteil selbst fällen konnte. Das alles verschweigt Kluge, auch den Ausgang berichtet er nicht: Auf Antrag ihres Bruders wurde Maria Rost nach knapp sechs Jahren aus der Haft entlassen.

[62] 

Hinzu kommen kleinere, aber signifikante Unkorrektheiten: Johanna Höhn fehlt im Personenverzeichnis, obwohl sie im Votum von Schnauss vorkommt. Schnauss schrieb seinen Namen selbst mit Doppel-s, Kluge schleppt die alte Schreibweise mit »ß« weiter fort, bedingt auch dadurch, dass Schnauss seine Voten regelmäßig nur mit »S.« unterschrieb. Die Münchner Ausgabe hat seit 1986 die richtigen Namensbuchstaben.

[63] 

Mit der fehlerhaften Darstellung des Höhn-Falles unterbleibt auch die Erörterung der Frage, warum sich der Herzog nicht durchsetzte. Inzwischen habe nicht nur ich gezeigt, sondern auch andere, neben W. Daniel Wilson z.B. Marcus Ventzke und Gerhard Müller, dass die behauptete Souveränität des Herzogs de facto nicht in allem bestand. Carl August war besonders im ersten Jahrzehnt seiner Regierungszeit auf seine Mitarbeiter angewiesen, vor allem auf Goethe für die Sanierung der Finanzen.

[64] 

Von daher wird verständlich, dass Carl August seine Reformen der 1770er und 1780er Jahre nicht gegen den Widerstand seiner Räte durchsetzen konnte. So ist z.B. zu erklären, dass Carl August in der Frage der Abschaffung der Todesstrafe für Kindesmörderinnen sich nicht gegen Goethe durchzusetzen wagte, der für die Beibehaltung plädierte und damit für die Hinrichtung von Johanna Höhn. Man begreift, dass die Formeln der Devotion der Regierungsbeamten einschließlich Goethes und die hoch trabenden Worte der Souveränität des Herzogs zum großen Teil nur Schein waren, die Regierungsbeamten eine Politik des beinharten Widerstands gegen Reformen des nur verbalen Souveräns betrieben und damit Erfolg hatten.

[65] 

Auch in den politischen Zielen von Herzog und Goethe haben die neueren Forschungen die These vom konservativen Herzog und dem bürgerlichen Reformer umgekehrt: Der Herzog war nicht nur in den 1780er Jahren, sondern auch später eher der Reformer, Goethe der am Alten festhaltende Konservative, so Wilson: »Goethe war schon in den 1790er Jahren nicht die treibende Kraft hinter diesen Reformen [in der Landwirtschaft], sondern er versuchte, sie zu blockieren.« »Der Herzog war die treibende Kraft hinter der Reform, Goethe bremste.« 26 Das alles erfassen Kluge und die Schmids nicht.

[66] 

Es geht nicht darum, dass Kluge und die Schmids das in den neueren Forschungen erscheinende Bild des Weimarer Staates und Goethes hätten übernehmen müssen. Sie hätten ja begründen können, warum sie an ihrem Bild festhalten. Was aber nicht geht, das ist die Unterschlagung dieser Forschungen. Die Herausgeber hätten darauf hinweisen müssen, dass es neben ihrem Weimar- und Goethe-Bild inzwischen auch ein anderes gibt.

[67] 

Die Textgestalt der Urkunden

[68] 

Nicht auf dem neuesten Stand der Forschung sind die HerausgeberInnen auch bei der Transkription. Weil für das Verständnis mancher Dokumente notwendig, haben die Herausgeber Dokumente anderer Verfasser als Goethe, in Ausnahmefällen, aufgenommen (Registerbd., S. 11). So ein Fall ist die Akte Höhn. Kluge bringt – wie Flach – die Voten von Fritsch und Schnauss neben dem Votum von Goethe. Die beiden 1998 und 1999 erschienenen Textbände drucken die Akten in unterschiedlicher Genauigkeit von Buchstaben und Zeichen ab. Während Goethes handschriftliche Texte buchstaben- und zeichengetreu transkribiert sind, werden Texte von anderen Verfassern nach den Grundsätzen der Goethe-Ausgabe des Klassiker-Verlages teilweise normalisiert. Das schafft zwar flüssig lesbare Texte, es geht aber leider auch manches, was die Texte über den Autor aussagen, verloren. So finden sich z.B. in den Voten von Fritsch und Schnauss zur Beibehaltung der Todesstrafe schwungvolle Unterstreichungen einzelner Wörter, welche zentrale Begriffe hervorheben und die Emotionalität der Autoren vermitteln.

[69] 

Außerdem entsteht durch die Unterschiedlichkeit der Schreibweise von Wörtern bei Goethe und anderen ein falscher Eindruck. Das Verfahren des Eingriffs in die historische Schreibung, die Flach 1950 und noch Wahl 2004 in seiner Dokumentation der Akten zu drei Kindesmordfällen praktizierten, ist für Handschriften des 18. Jahrhunderts veraltet. Heute kann nur die diplomatische, d.h. in allem originalgetreue Transkription den Ansprüchen an historische Genauigkeit genügen. Wer die originale Schreibweise und die Originalzeichen der Texte verändert, um sie leichter lesbar zu machen, verfälscht zugleich die Aussage der Originale. 27 Wer sich also den Text der Handschrift der Gutachten von Schnauss und Fritsch ansehen will, muss zu meiner Dokumentation greifen.

[70] 

Die Kontroverse zweier Goethe- und Weimarbilder

[71] 

Die Diskussion um die Bewertung des Staates Sachsen-Weimar und Goethes Rolle darin ist seit den späten 1980er Jahren geprägt durch zwei gegensätzliche Impulse. Während sich eine Fraktion bemüht, am Bild des liberalen aufgeklärten Musenstaates ohne größere soziale Konflikte und an Goethes Rolle als humanem Reformer festzuhalten, gibt es eine Gegenfraktion, welche dieses Bild als Legende und Märchen bezeichnet und aus den reichlichen Weimarer Akten im Archiv ein, wie sie meint, realistischeres Bild gewinnen will.

[72] 

Vor allem am Bild Goethes als Reformer wird festgehalten, so etwa bei Dieter Borchmeyers Buch über Die deutsche Klassik von 1994. Eckehart Krippendorff betont in zwei Büchern 1988 und 1999 die »›Modellhaftigkeit‹ des weimarischen Absolutismus«. 28 Dabei soll gar nicht bestritten werden, dass es positive Regierungshandlungen gab, wie oben dargestellt; es geht vielmehr um die Emphase der Ausschließlichkeit, mit der diese These vertreten wird.

[73] 

Dass auch sich kritisch verstehende Sozialhistoriker wie der späte Sengle an Goethe als ausschließlich großem Humanisten in seiner praktischen Amtstätigkeit festhalten, zeigt folgendes Zitat, dessen Sprache bemerkenswert ist:

[74] 
Goethes Tagebücher und Briefäußerungen bezeugen, daß ihn die mannigfaltigen Pflichten gegenüber der höfischen Geselligkeit und seiner niemals in Zweifel gezogenen dichterischen Berufung nicht davon abhalten konnten, stets die materiellen Bedingungen, auf denen die »Kultur von Weimar« beruhte, im Auge zu behalten, sie fortlaufend zu studieren und jedes Opfer zu bringen [!], um sie zu verbessern. Als Conseil-Mitglied widmete er sich vor allem dieser grundlegenden Aufgabe […]. 29
[75] 

Wie das schöne Bild Goethes aussieht, zeigt vier Jahre später z. B. auch Volker Wahl, als Leiter des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar der Herr aller Archivakten, in seinem Beitrag über die amtlichen Schriften Goethes im 3. Band des Goethe-Handbuchs:

[76] 
Die kollegiale Zusammenarbeit mit den anderen Geheimen Räten entwickelte sich ganz allmählich hin zu jener Form, in der er die Kollegen zur Mitwirkung fortriß. Was im ersten Jahrzehnt von Goethes Amtstätigkeit an Neuereungen im Herzogtum eingeleitet und durchgeführt wurde, trägt im besonderen auch den Stempel seine weitschauenden Sicht, aus der eine zutiefst menschenfreundliche Haltung in allen Angelegenheiten des Lebens erkennbar wurde. 30
[77] 

Als derselbe Wahl sieben Jahre später die Höhn-Akte herausgibt, korrigiert er dieses Bild nicht. Auch Wahl, der es infolge der Aktenedition zu den drei Fällen von Kindestötung 1781–1783 besser wissen müsste, folgt Goethes Lüge, er trete in der Frage der Beibehaltung der Todesstrafe und damit der Hinrichtung von Johanna Höhn nur seinen Kollegen bei (S. 805).

[78] 

Das neue Bild des Weimarer Staates und von Goethes Rolle

[79] 

In dem Jahrzehnt seit 1998/99 bis zum Redaktionsschluss hat sich das Bild des Weimarer Staates zur Regierungszeit Herzog Carl Augusts und das Bild der Tätigkeit Goethes in der Regierung sehr stark verändert. Vom Image des relativ fortschrittlichen, den Künsten zugewandten gemütlichen Kleinstaates ohne große soziale Spannungen, ein Bild, das Fritz Hartung 1923 begründete, 31 Joseph A. von Bradish 1937 unterstützte, 32 das nach dem Zweiten Weltkrieg Willy Andreas 33 und Hans Tümmler 34 ausmalten und das bis in die Gegenwart wiederholt wird, ist kaum etwas übrig geblieben.

[80] 

Die Erforschung des Fürstentums Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl Augusts und Goethes »Weimarer Musenstaat«, 35 ist seit dem Kaiserreich bestimmt worden durch die Überhöhung Goethes zum ethischen Vorbild und zur deutschnationalen Identitätsfigur. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich diese Tendenz sowohl in der BRD als auch in der DDR fort. 36 Die Realität schwand angesichts der Idolisierung von Dichter und Staat zwar nicht ganz aus dem Blick – so wurde etwa der Konservatismus Goethes gesehen und kritisiert –, die Verzerrungen waren aber so groß, dass Sachsen-Weimar einer der am besten erforschten Kleinstaaten war und zugleich sein historisches Bild sehr weit von der Wirklichkeit entfernt lag. 37

[81] 

Sachsen-Weimar war zur Goethezeit ein relativ rückschrittlicher Kleinstaat mit einem rigiden System der Ausbeutung und Unterdrückung, in dem Herzog Carl August und seine Regierung auf die Forderungen nach Menschenrechten mit Zwangsmaßnahmen gegen Reformer und starrem Festhalten am Feudalsystem reagierten und selbst bescheidene Reformen verhinderten. Sachsen-Weimar folgte nicht einmal den vorsichtigen Liberalisierungen anderer deutscher Staaten. Die Todesstrafe für Kindesmörderinnen wurde nach Diskussion und Entscheid im Geheimen Consilium 1783 praktiziert und beibehalten. Während Preußen die Folterstrafe bereits 1740/1754 abgeschafft hatte, wurde in Weimar an der Folter formell weiter festgehalten. Das innenpolitische Klima war geprägt durch ein System der Verdächtigungen, Bespitzelungen und Verbote, das alle wesentlichen Forderungen der damaligen Zeit nach Rechtssicherheit und Menschenrechten abwehrte. Den Bauern wurde die Versammlungsfreiheit und die Freizügigkeit verweigert, die Schreiber ihrer Eingaben an die Regierung wurden kriminalisiert. Das Gewohnheitsrecht der Studenten, sich zu versammeln, wurde nach Belieben außer Kraft gesetzt. Von der Universität gewiesene Studenten kamen auf eine schwarze Liste, mit Nachbarländern wurde der Austausch von Meldungen über relegierte Studenten vereinbart. Intellektuelle, vor allem in der Universitätsstadt Jena, wurden bespitzelt und mit Drohungen eingeschüchtert. Alle Arten von Versammlungen und Vereine wurden ausspioniert und überwacht, insbesondere die Geheimorden.

[82] 

Wie die Ausbeutung der Bauern konkret aussah, zeigen z.B. die vielen Steuern, welche die Bauern aufzubringen hatten. Neben den Frondiensten gab es, nach der Aufzählung von Johann August von Kalb aus dem Jahr 1776: Viehsteuer, Akzise, Tranksteuer, Kauf-, Tausch- und Sterbelehn, Abzugsgeld, Geleit beim Verkauf der Produkte, Beiträge zur Brandversicherung (Bd. 26 K, S. 617).

[83] 

Goethes Beteiligung an diesen Praktiken war sehr groß. Dass Goethe an dem System der Ausbeutung festhielt, zeigt der von ihm unterschriebene Bericht der Ilmenauer Steuerrevision 1796, der eine Steuererhöhung für die Ilmenauer Landgemeinden bedeutete, was diese aufbrachte (Bd. 26 K, S. 622 f.). Der Widerstand wurde im September 1796 militärisch gebrochen.

[84] 

Aus den Forschungen von Wilson, z. T. bestätigt von Marcus Ventzke, 38 ergibt sich im einzelnen: Goethe war mitbeteiligt, als der Regierungskanzler Ludwig Carl Schmid durch das Geheime Consilium gemaßregelt wurde, weil er das rechtswidrige weitere Auspressen von Hintersassen, also der ärmsten Klasse der Bauern, einschränken wollte. Goethe trug die Kriminalisierung des Beschreitens des Rechtsweges für die Untertanen aktiv mit. Die Beschwerdeführer und die Schreiber/Rechtsanwälte von Eingaben wurden mit Haft bedroht. Goethe ist es, wie schon oben dargestellt, zuzuschreiben, dass die Magd Johanna Catharina Höhn aus Tannroda, die ihr neugeborenes Kind getötet hatte, 1783 hingerichtet wurde. Goethe war beteiligt an der Regierungspraxis, Oppositionelle als Unmündige, Unvernünftige und im Geist »Verrückte« zu diffamieren, um gegen sie schärfer vorgehen zu können. Goethe befürwortete 1795, offenbar auch schon 1786, die Relegation von Studenten auf bloßen Verdacht und auf Denunziation hin, ohne dass diesen die zur Relegation führende Tat nachgewiesen wurde oder es auch nur ein förmliches Untersuchungsverfahren gab. Auch hier ist zu beachten, dass die Unrechtmäßigkeit dieses Verfahrens auch damals der öffentlichen Meinung entsprach.

[85] 

Goethe war 1789 der Scharfmacher beim Verbieten von studentischen Geheimorden an der Universität Jena, weil nach der Verschwörungstheorie von den Geheimorden die Französische Revolution ausgegangen sei. Mit Goethes Beteiligung verkaufte Sachsen-Weimar Soldaten für den Krieg gegen die Kolonisten nach Amerika, »zu einem Zeitpunkt, als Goethe den Soldatenhandel Hessens kritisierte«. 39

[86] 

Goethe hat sich massiv an der Einschüchterung von Wieland, Herder, Fichte und Schiller beteiligt. Durch eine wirkungsvolle persönliche »Behandlung« wurden diese zur Aufgabe ihrer Sympathien für die Französische Revolution in der Publizistik bewogen. Herder ließ sich 1792 mit hohen Geldzahlungen seine Revolutionsbegeisterung regelrecht abkaufen. Goethe selbst überbrachte ihm eine Sonderzahlung von 250 Reichstalern – in bar! –, das entspricht etwa der Höhe eines Jahresgehalts eines Jenaer Professors. Am nachhaltigsten hat die Einschüchterung Schillers funktioniert, über den Goethe eine Spitzelakte anlegen ließ. Nach seiner Maßregelung wurde er zum innerlich überzeugten Parteigänger der Konterrevolution. Goethe unterschied sich, und das ist das Gravierende, von den Genannten dadurch, dass diese eingeschüchtert wurden, er aber aus eigenem politischen Willen handelte.

[87] 

Verstärkt seit den Freiheitskriegen und Napoleons Untergang spielte auch in Weimar die Zensur eine größere Rolle, unter Goethes manchmal vehementer Befürwortung von Maßnahmen zur Unterdrückung von Angriffen gegen die Regierung. So erhielt der Jenaer Professor der Medizin Lorenz Oken nach einem Artikel in seiner Zeitschrift Isis oder Encyclopädische Zeitung über das Wartburgfest 1817 sechs Wochen Festungsarrest wegen »Vergehens gegen die höchste Regentenwürde des Landesfürsten, Vergehen gegen die Amtswürde der obern Landesbehörden und des academischen Senats zu Jena, Verunglimpfungen deutscher Regenten und Regierungen und Beschimpfung auswärtiger Amtsbehörden«. Die 1816 verkündete Pressefreiheit half da nicht. Allerdings wurde das Urteil von der höheren Instanz aufgehoben. Oken verlor aber seine Professur, ging später nach München und 1833 an die Universität Zürich. Seine Zeitschrift Isis erschien bis 1848 in Leipzig (Bd. 27 K, S. 53 f.). Goethe hat sich stark für die Bestrafung und Entlassung Okens eingesetzt und er sprach sich für eine staatliche Bücherzensur aus (Bd. 27 K, S. 37).

[88] 

Das Bild der Kommentare in der Frankfurter Ausgabe

[89] 

Die Ausgabe der amtlichen Schriften in der Frankfurter Ausgabe und vor allem die Kommentare nehmen einen Teil der Kritik am Weimarer Fürstentum auf, zielen aber auf die Erhaltung des geschönten Goethebildes. Tenor von Reinhard Kluge:

[90] 
Sein [Goethes] Ziel ist die Beseitigung von offensichtlich unerhörten Mißständen der Verwaltung, ist Hilfe für in Not geratene Menschen. Weitergehende strukturelle Reformen zugunsten der Bauern [...] mußten an den traditionellen Vorrechten des feudalen Grundbesitzes scheitern. (Bd. 26 K, S. 107)
[91] 

Wie sehr sich Kluge bemüht, Goethe aus Menschenrechtsverletzungen herauszuhalten, zeigt sich in folgender Bemerkung zu den Akten der Kriegskommission, der Goethe vorstand:

[92] 
Der sogenannte Soldatenhandel, die Geschäfte mit dem Verkauf von Zuchthaushäftlingen und Vagabunden an England, gehörte übrigens in die Verantwortung der Regierungen von Weimar und Eisenach, nicht in die Kriegskommission, wie Wilson 1999, S. 50 und 56, anzunehmen scheint. Die einschlägigen Akten konnten daher in unserem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden. (Bd. 26 K, S. 564)
[93] 

Kluge will Goethe reinwaschen. Hier werden die Beschränkungen der Dokumentation und ihre Absicht deutlich: Das Kriterium, nur Goethes eigene Texte und nur zu deren Verständnis notwendige weitere Akten abzudrucken, führt zu einer Einschränkung der Dokumentation von Goethes wirklicher Regierungstätigkeit. Der Unterschied des in den Einleitungen von Kluge und Schmid/Schmid gezeichneten Bildes zu dem in Wilsons Einleitung zu dessen Aktenedition von 2004 ist so groß, dass man meint, hier sei von zwei verschiedenen Staaten und zwei verschiedenen Goethes die Rede.

[94] 

Es gibt aber auch den Willen der Kommentatoren, Goethes Rolle realistisch zu verkleinern. In einem Punkt setzt der Herausgeber Kluge Goethes Leistung herab, indem er Goethes Anteil an der Sanierung der Staatsfinanzen gegenüber dem Anteil der Geheimräte Fritsch und Schnauss verringert (26 K, S. 260). Zu Unrecht. Nachdem Kalb als Direktor der Kammer abgesetzt war, wurde Goethe als Oberaufseher praktisch der Leiter der Kammer. Goethe verhandelte als Spezialkommissar mit einer Abordnung der Landstände, er hatte vom Herzog die Vollmacht, Verträge mit den Landständen abzuschließen (Bd. 26 K, S. 261).

[95] 

Insgesamt muss man bedauern, dass die Herausgeber die Chance vertan haben, sich auf die aktuellen Kontroversen um das Weimar- und Goethe-Bild einzulassen und die Leserinnen und Leser der großen Frankfurter Goethe-Ausgabe über den Stand der wissenschaftlichen Erforschung des Kleinfürstentums Sachsen-Weimar zu informieren. Schade.

 
 

Anmerkungen

Vgl. W. Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte in klassischen Weimar, München 1999, S. 35 und S. 306, Anm. 90. Zu Wilsons Buch meine Rezension: Rüdiger Scholz: Goethe und die Menschenrechte im Staate Weimar. Ein Lehrstück zur politischen Parteilichkeit der Klassik, in: Colloquia Germanica, Bd. 33, 2000, S. 367–385.

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W. Daniel Wilson: Goethes Weimar und die Französische Revolution, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 67.

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Die im Goethe-Jahr 1949 konzipierte Ausgabe von Goethes Amtlichen Schriften ist ein Torso geblieben. Ursprünglich war eine große umfassende Ausgabe mit vielen Bänden geplant. Es sollten alle Kommissionen, in denen Goethe, meist als Leiter, tätig war, dokumentiert, die Schriftstücke anderer, die zum Verständnis von Goethes Schreiben notwendig sind, in Regestform publiziert werden. Es gibt im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar Vorarbeiten dazu. Vgl. Willy Flach: Goethes Amtliche Schriften, Bd. 1, S. XX. Das Projekt einer umfassenden, kommentierten Ausgabe ist in Weimar nicht aufgegeben, die Finanzierung aber nicht gesichert. Damit steht der Termin des Erscheinens in den Sternen. Vgl. Volker Wahl: Amtliche Schriften, in: Goethe-Handbuch, Bd. 3, 1997, S. 797–819, hier S. 816f.; Wilson, Goethe-Tabu (Anm. 1), S. 36 f. Wilson schätzt, dass die im 1. Band von Goethes Amtlichen Schriften von Flach abgedruckten Akten »höchstens fünf Prozent der schriftlich überlieferten amtlichen Tätigkeit Goethes im Geheimen Consilium in diesem Zeitraum [1776–1786]« ausmachen. Goethe-Tabu (Anm. 1), S. 36.

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Bd. 2,2, 1987; Bd. 3,2, 1990; Bd. 4,2. 1986; Bd. 6,2, 1988.

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Darauf verweist Flach: Goethes Amtliche Schriften, Bd, 1, S. X.

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Ebenda, S. XXII.

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Die Rezension von Volker Wahl, die – erst nach Fertigstellung des vorliegenden Beitrags – im Goethe-Jahrbuch 128, 2011, S. 289–293, erschien, beschreibt nur die formalen Leistungen der Edition, die Felder und die Anzahl der edierten Schriftstücke, geht zutreffend auf das Verhältnis zur Edition der Amtlichen Schriften von Flach-Dahl 1950–1987 ein, sagt aber inhaltlich nichts zu der Erweiterung unserer Kenntnisse über den Staat Sachsen-Weimar und über das Bild Goethes; das überlässt er der Entscheidung der »Goetheforschung« (S. 293). Wahl thematisiert auch die von mir im folgenden erörterten Mängel der Edition und der Kommentarbände nicht.

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Vgl. dazu und zum Folgenden Wilson, Goethe-Tabu (Anm. 1), S. 80–87.

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Zur Struktur der Regierungsbehörden Vgl. Flach, Amtliche Schriften, Bd. 1, Einleitung, S. XXVII-LXIII, kürzer und übersichtlicher Wilson, Goethe-Tabu (Anm. 1), S. 42 f. Sehr unübersichtlich und unvollständig Volker Wahl: Amtliche Schriften, in: Goethe-Handbuch, Bd. 3, 1997, S. 798–802.

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10 

Zur Rolle des Theater in der Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts vgl. jetzt: Patrick Primavesi: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800, Frankfurt a. M./New York 2008.

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11 

Helma Dahl, Amtliche Schriften, Bd. 2,1, S. 28f.; Wilson, Goethe-Tabu, S. 43.

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12 

Wahl, Amtliche Schriften (Anm. 8), S. 809.

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13 

Das ist in dem Buch von Gerhard Müller gut erforscht: Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena, Heidelberg 2006. Dazu meine ausführliche Rezension: Rüdiger Scholz, Goethes Universitätspolitik im Zeitalter der Französischen Revolution, IASL Online, 2007.

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14 

Alain Ruiz: Universität Jena anno 1793/94, in: Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur, hg. v. Julius H, Schoeps, Duisburg 1979, S. 95–132, hier S. 115; zitiert nach W. Daniel Wilson, Goethe-Tabu (Anm. 1), S. 21.

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15 

W. Daniel Wilson: Goethes Weimar und die Französische Revolution. Dokumente der Krisenjahre, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2004. Dazu meine Rezension in: Colloquia Germanica 37, 2004, S. 340–344.

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16 

W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991.

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17 

Rüdiger Scholz (Hg.): Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn. Kindesmorde und Kindesmörderinnen im Weimar Carl Augusts und Goethes. Die Akten zu den Fällen Johanna Catharina Höhn, Maria Sophia Rost und Margaretha Dorothea Altwein, Würzburg 2004.

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18 

August Diezmann: Aus Weimars Glanzzeit. Ungedruckte Briefe von und über Goethe und Schiller, nebst einer Auswahl ungedruckter vertraulicher Schreiben von Goethe’s Collegen, Geh. Rath von Voigt, Leipzig 1855.

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19 

H. H. Houben: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart, Bremen 1928.

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20 

Karl-Heinz Hahn: Goethe und Weimar – Weimar und Goethe, in: Goethe-Jahrbuch 93, 1976, S. 11–37. – Ders.: Im Schatten der Revolution – Goethe und Jena im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81–83, 1977–79, S. 37–58. – Ders.: Carl August von Sachsen-Weimar. Ein Versuch, in: Impulse 5, 1982, S. 264–309.

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21 

Karl-Heinz Fallbacher: Fichtes Entlassung. Ein Beitrag zur Weimar-Jenaischen Institutionengeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 67, 1985, S. 111–135.

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22 

Rüdiger Scholz: Goethes Agieren im Weimarer Staat und die Humanität der Klassik, in: Colloquia Germanica 37, 2004, S. 129–151.

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23 

Scholz 2004 (Anm. 16), S. 65 f.

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24 

Ein Beispiel für viele: Friedrich Sengle: »Erst am 4. November schließt er [Goethe] sich dem Votum von Schnauß und Fritsch an.« Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zum Spätfeudalismus und zu einem vernachlässigten Thema der Goethe-Forschung, Stuttgart/Weimar 1993, S. 48.

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25 

Vgl. Rüdiger Scholz: Goethes Schuld an der Hinrichtung von Johanna Höhn, in: Goethe-Jahrbuch 2003, Weimar 2004, S. 324–331; Scholz 2004 (Anm. 16). – Auch den ersten Vornamen von Susanna Margaretha Brandt gibt Kluge falsch mit »Anna« wieder (S. 252).

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26 

Goethe-Tabu (Anm. 1), S. 28, 159.

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27 

Es ist auch kein Trost, dass Kluge und Schmid/Schmid historischer verfahren als die Münchner Ausgabe, welche alle Dokumente mit Christian Gottlob Voigt in heutiger Schreibweise druckt.

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28 

Ekkehart Krippendorff: »Wie die Großen mit den Menschen spielen.« Versuch über Goethes Politik, Frankfurt a. M. 1988; ders.: Goethe. Politik gegen den Zeitgeist, Frankfurt a. M./Leipzig 1999. Das Zitat bei Wilson, Goethe-Tabu, S. 30. Vom »Modell Weimar« spricht auch Gert Ueding in Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 4, S. 65 ff., zitiert nach Wilson, Goethe-Tabu, S. 26.

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29 

Sengle 1993 (Anm. 23), S. 50.

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30 

Volker Wahl: Amtliche Schriften, in: Goethe-Handbuch, Stuttgart/Weimar 1997, Bd. 3, S. 802.

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31 

Fritz Hartung: Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775–1828, Weimar 1923.

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32 

Joseph A. von Bradish: Goethes Beamtenlaufbahn, New York 1937.

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33 

Willy Andreas: Carl August von Weimar. Ein Leben mit Goethe 1757–1783, Stuttgart 1953.

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34 

Hans Tümmler: Goethe als Staatsmann, Göttingen 1976; ders.: Das klassische Weimar und das große Zeitgeschehen, Köln 1975; ders.: Carl August von Weimar, Goethes Freund. Eine vorwiegend politische Biographie, Stuttgart 1978; ders.: Goethe der Kollege. Sein Leben und Wirken mit Christian Gottlob Voigt, Köln, 1970; ders.: Goethes Briefwechsel mit Christian Gottlob Voigt, 4 Bde, Weimar 1949–1962; Geschichte Thüringens. Hg. von Hans Patze und Walter Schlesing, 5. Bd.: Politische Geschichte in der Neuzeit. Köln/Wien 1984. Darin im 1. Teil, 2. Teilband: Hans Tümmler: Die Zeit Carl Augusts von Weimar, S. 615–780, 847–863.

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35 

Zur Geschichte dieses ideologischen Begriffs Wilson, Goethe-Tabu (Anm. 1), S. 21–26.

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36 

Z. B. bei Karl-Heinz Hahn (Hg.): Goethe in Weimar. Ein Kapitel deutscher Kulturgeschichte, Leipzig/Zürich 1986 (Bildband mit beschönigenden Texten). Dazu Wilson, Goethe-Tabu (Anm. 1 ), S. 300. Zur Weimar-Publizistik in der DDR Wilson, Goethe-Tabu (Anm. 1), S. 32 f.

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37 

Zur Geschichtsschreibung über Sachsen-Weimar siehe W. Daniel Wilson, Tabuzonen um Goethe und seinen Herzog. Heutige Folgen nationalsozialistischer Absolutismuskonzepte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70, 1996, S. 394–442; Wilson, Goethe-Tabu (Anm. 1), S. 21–33.

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38 

Marcus Ventzke: Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1775–1783, Köln 2004.

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39 

W. Daniel Wilson, Unterirdische Gänge (Anm. 3), S. 201.

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