IASLonline

»Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine« 1

Der späte Versuch eines Luhmann Handbuchs

  • Oliver Jahraus u.a. (Hg.): Luhmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2012. 471 S. Gebunden. EUR (D) 59,95.
    ISBN: 978-3-476-02368-1.
[1] 

Forschungsstand und Selbstverständnis des Handbuchs

[2] 

»Systemtheorie ist eine besonders anspruchsvolle Supertheorie.« 2 Diese Selbsteinschätzung Niklas Luhmanns aus seinem ersten Hauptwerk Soziale Systeme liegt fast 30 Jahre zurück. Und auch das mit über 1000 Seiten weiterhin beeindruckende zweite zentrale Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft von 1997 mag im Angesicht aktuellerer Kultur- und Sozialtheorien, etwa der Akteur-Netzwerk-Theorie Latours und anderer, inzwischen zunehmend angestaubt wirken. Wozu also noch dieses Luhmann-Handbuch im Jahr 2012? Zumal an neuesten Einführungen wie Jens Brauns Marx – Weber – Luhmann (2011), Christian Borchs Niklas Luhmann (2011) kein Mangel herrscht und auch bewährte Schlüsselwerke wie z.B. Niklas Luhmann zur Einführung von Walter Reese-Schäfer (62012) oder Detlef Kruses Luhmann-Lexikon (42005) seit dem Tod Luhmanns sukzessive auf den neuesten Stand gebracht wurden.

[3] 

Die Herausgeber des neuesten Handbuchs sind sich dieser Problematik sehr wohl bewusst. In Abgrenzung zu dem vom Glanz Pariser Intellektualität zehrenden Foucault-Handbuchs oder dem im Metzler-Verlag noch ausstehenden Derrida-Handbuch, das »sich selbst als unmöglich betrachten würde und darin seine Ausstrahlung hätte« (S. ix), liest man im Vorwort, dass weder Luhmann selbst noch seine Theorie für solch eine Auratisierung taugen.

[4] 
So streng Luhmann stets Problemgenese als Theoriegenese und Theoriegenese als Problemgenese begriffen hat, so trocken ist auch der Zugang zu seinem Werk. Kann man bei den erwähnten Fällen bisweilen den Weltgeist wenigstens von Ferne erahnen – hier ist es nur eine Bielefelder Werkstatt, in der sich ein Denker daran gemacht hat, dabei zuzusehen, was im Großen passiert, wenn man kleine Begriffsumstellungen macht. Ein Luhmann-Handbuch muss deshalb mit solcher Detailarbeit fertig werden. Es kann sich weniger im Gestus der Bedeutung und der Erhabenheit der Debatten zeigen, sondern muss vielmehr kleinteilig das Handwerkszeug bereitstellen, mit dem sich dann arbeiten lässt. (S. ix)
[5] 

So ist dieser Einführung von Anfang an zu Gute halten, dass sie mehr sein will als ein weiterer Versuch, systemtheoretische Denkmuster im knappen Format darzustellen und statt dessen auf Gründlichkeit setzt. Zu diesem Zweck ist das Luhmann-Handbuch in acht Kapitel unterteilt, die von einer knappen biographischen Aufarbeitung bis zu einer abschließenden Diskussion wesentlich mehr abdecken als die gängige Einführungsliteratur.

[6] 

2. Problemstellung, Konzeption und Theoriearbeit

[7] 

Die Herausforderungen dieser Aufgabenstellung zeigen sich schnell. Luhmann war sich der Paradoxien seiner eigenen Beobachterposition als Soziologe und den daraus resultierenden Blindheiten gegenüber dem zu beschreibenden Gegenstand der ›Gesellschaft‹ seit seiner Bielefelder Antrittsvorlesung stets bewusst: Luhmann, so Armin Nassehi, »zeigt, dass auch die Soziologie nur sehen kann, was sie sehen kann – dass sie aber mit der besonderen Reflexionsmöglichkeit ausgestattet sein könnte, der Gesellschaft so etwas wie das Spiel des Unterscheidens unterscheidend vorzuführen.« (S. 402). Manifestes Indiz für dieses Dilemma des unterscheidenden Unterscheidens ist auch der längst zum Mythos avancierter Zettelkasten, eine ca. 90.000 Einträge umfassende und mit unzähligen Querverweisen versehene Sammlung von Lektüreergebnissen, Thesen und Fragen, von der im angemessen kurz gehaltenen biographischen Teil des Handbuchs berichtet wird. Allein die im Zettelkasten auftretende Verweisdichte von Stichwort zu Stichwort zeigt die Komplexitäten, die einem beim Versuch der systematischen Rekonstruktion von Luhmanns Theoriegebäude begegnen.

[8] 

Ihnen begegnend lösen sich die Autoren des Handbuchs von einer starren Abarbeitung der Termini und Theoreme zugunsten einer mehrschichtigen Darstellungstechnik – mit wechselndem Erfolg. Das zweite Kapitel zu Grundlagen und gedanklichen Vorarbeitern Luhmanns versucht die Vorläuferkonzepte zusammenzutragen, an denen sich Luhmann selbst orientierte. Hier finden sich neben den obligaten Referaten zu George Spencer-Brown und dem für Luhmann so überaus wichtigen Talcott Parsons auch Hinweise auf die phänomenologischen Wurzeln der Systemtheorie am Beispiel Edmund Husserls. Ungeachtet der Belesenheit und Präzision der entsprechenden Artikel zeigen sich hier einige Grundprobleme des Handbuchs.

[9] 

Zunächst ist es für Anfänger auf dem Gebiet der Luhmannschen Systemtheorie nur sehr bedingt zu empfehlen. So schreibt Armin Nassehi über Luhmanns Bezug zu Husserl: »Ich möchte behaupten, dass diese operative Theorieanlage Husserls für Luhmann stilbildend gewesen ist – womöglich stilbildender als der vielleicht ungewöhnlichere und deshalb auffälligere Rekurs auf die biologische Autopoiesistheorie.« (S. 13) Oder Richard Münch zum Verhältnis Luhmann-Parsons: »Das Treffen von Unterscheidungen, speziell die Unterscheidung System/Umwelt, und die Wiederholung der Unterscheidung in Systemen als Systemdifferenzierung sind die entscheidenden Antworten auf das Problem der Weltkomplexität, da sie die Reduktion von Komplexität ermöglichen.« (S. 19) Solche dem Kenner wohl einleuchtenden, aber auch nicht ganz neuen Überlegungen findet der Leser an einer Stelle des Handbuchs, an der weder die Bedeutung des Operativen noch der Autopoiesistheorie ohne entsprechendes Vorwissen sinnvoll eingeordnet werden können. Womöglich wäre es insgesamt lohnender gewesen, diese theoriegeschichtlichen Aspekte mit den begriffssystematischen Darstellungen von Luhmanns Begriffsapparat zu verschränken. Denn eine selbständige und kritische Einschätzung von Luhmanns Rekursen auf Vordenker sind ohne Verständnis der systemtheoretischen Grundbegriffe kaum zu leisten.

[10] 

Diesen gilt das folgende Kapitel. Schwer nachvollziehbar ist hier insbesondere, warum sich die Autoren für eine alphabetische Anordnung der zu klärenden Begriffe entschieden haben. Gegen die Logik des Alphabets ist die Unterscheidung ›System/Umwelt‹ sicher fundamentaler einzuschätzen als der Begriff der ›Autopoiesis‹, der entsprechend des aleatorisch anmutenden Arrangements am Anfang des Begriffsapparats gelandet ist – übrigens gegen Luhmanns eigene Darstellungspraxis etwa in Die Gesellschaft der Gesellschaft, das die Unterscheidung von System und Umwelt im ersten Kapitel klärt. Ähnlich unvorteilhaft erweist sich die alphabetische Ordnung auch, wenn dadurch die Begriffe der funktionalen Differenzierung und der soziokulturellen Evolution und ihre wechselseitige Bedingung künstlich voneinander getrennt werden. Das Fehlen eines das Personenregister ergänzenden Begriffsregisters erleichtert die Orientierung nicht.

[11] 

Bei all dieser Kritik sind jedoch die hohe Qualität und Präzision der im Begriffsteil versammelten Artikel unbedingt hervorzuheben. Hinlänglich vorinformierte Leser finden darin wahre Perlen, so etwa im Beitrag Iryna Klymenkos zur Autopoiesis oder Irmhild Saakes zur Binäropposition der kommunikations- und interaktions-theoretischen Begriffe Erleben und Handeln; auch wenn hier wieder kritisch zu bemerken ist, dass die von Luhmann nicht minder zentral gesetzten ›Symbolisch Generalisierten Kommunikationsmedien‹ in diesem Unterkapitel fast unbemerkt untergehen.

[12] 

Der größte Nutzen des Handbuchs zeigt sich ab dem fünften Kapitel. Hier werden zunächst in einem selektiven Überblick einige der wichtigsten Werke Luhmanns eingeordnet und aufgearbeitet. Dafür konnte auch der Bielefelder Soziologe und Luhmann Herausgeber André Kieserling gewonnen werden, der sich u.a. der kompetenten Darstellung von Luhmanns Frühwerk widmet. Das sechste Kapitel skizziert Verbindungen, Bezüge und Differenzen der Systemtheorie zu anderen Theorien. So versucht Tatjana Schönwälder-Kuntze Luhmanns Gesellschaftskonzept mit Hegels Ansatz zu verknüpfen. Hinsichtlich des Universalitätsanspruch beider Theorien steht Luhmann deutlich in der Hegelschen Tradition, allerdings entwickle Hegel seine Differenzlogik »auf Identität, d.h. in Bezug auf eine letzte Einheit hin [...], während es [Luhmann] um die Differenz von Identität und Differenz gehe.« (S. 264). Weitere Unterkapitel wie etwa zu Michel Foucault zeigen teilweise kaum beachtete Parallelen z.B. im Bereich einer Theorie der Macht auf, die, wie Tanja Prokić plausibel macht, überkommene Grabenkämpfe zwischen der französischen und deutschen Tradition weiter entschärfen helfen.

[13] 

Das siebte Kapitel gilt der Rezeption der Luhmannschen Systemtheorie und erstreckt sich auf Disziplinen von der Erziehungswissenschaft über die Gender Studies bis zur Wirtschaftswissenschaft. Dabei kommt Armin Nassehi zu der bedenkenswerten These, »dass die Soziologie Luhmanns letztlich nicht in der Soziologie angekommen ist. Es herrscht eine eigentümliche Distanz zwischen der Soziologie und der Theorie Luhmanns, obwohl diese stets nichts anderes sein wollte als Soziologie. […] Und es herrscht ein eigentümliches Missverhältnis zwischen Rezeptionsfrequenz und dem Einlassen auf die Theoriefiguren Luhmanns.« (S. 400). Luhmanns wichtigste theoretische Figuren und Motive – etwa die operative Selbstbezüglichkeit und die Diagnose, dass die Soziologie sich an der Bewältigung der damit verbundenen Paradoxien zu messen habe – seien in den Mainstream der soziologischen Theoriediskussion letztlich nicht eingegangen (S. 400).

[14] 

3. Anknüpfungspunkte und Fazit

[15] 

Aus literatur- und medienwissenschaftlicher Perspektive besonders anregend ist der Beitrag von Oliver Jahraus, der zunächst festhält, dass sich Luhmann erstens über Medien im Grunde nur als Massenmedien geäußert hat und dass zweitens die Systemtheorie selbst keine eigene Zeichentheorie besitzt. Dies erschwere methodisch die Vereinbarung mit an Strukturalismus oder Dekonstruktion geschulten Literaturtheorien (vgl. S. 369). Im Zentrum stehe aus systemtheoretischer Sicht nicht die Frage, was Literatur sei, sondern wie Literatur System sein könne: Gleichwohl erlaube es »die Systemtheorie [...], eine sozialsystematische Dimension von Literatur zu berücksichtigen, ohne in die Literaturferne der traditionellen Literatursoziologie zu verfallen.« (S. 370) In Bezug auf die Forschungen von Henk de Berg und Matthias Prangel, die in den 1990er Jahren versuchten, die System/Umwelt-Differenz explizit als Text/Kontext-Differenz zu verstehen (Vgl. S. 371), zeigt Jahraus, wie das Textverstehen aus der Rekonstruktion des Kontextes in einem soziologischen Rahmen neu zu denken wäre: Ein system-funktionales Verständnis von Literatur als Kommunikation müsste literarische Kommunikation in ihrem weitgehend autonomen Ereignischarakter betonen.

[16] 

Weitere Anschlussmöglichkeiten von Systemtheorie und Literaturwissenschaft ergeben sich hiervon ausgehend auch mit Blick auf Kommunikationsprozesse innerhalb des Literatursystems, das »auf besondere Weise andere Systeme, zum Beispiel das Recht (mit Kriminalsujets), beobachtet und so erkennen lässt, wie diese andere Systeme beobachten.« (S. 370) Der Ereignischarakter von Literatur verhindert von vornherein, diese ›Beobachtung‹ quasi-mimetisch als Abbildung zu denken und fordert vielmehr dazu heraus zu beschreiben, wie Literatur bestehende und neuartige Gesellschaftssysteme in Frage stellt, in dem sie diese in spezifisch fiktionalen Kontexten auf ihre Stabilität überprüft.

[17] 

Gelungen wäre das Handbuch dann, wenn es dem Kenner die Möglichkeit gibt, sich in den Begriffsbezügen und Theorieteilen genauer zu orientieren und vielleicht sogar neue Verbindungen zu entdecken, und wenn es dem Anfänger die Chance für eine erste Orientierung bietet. (S. xi)

[18] 

Ersteres ist im Luhmann-Handbuch ohne Zweifel gelungen. Gerade die mitunter herausragenden Kapitel zu Bezügen auf andere Theorieparadigmen wie auch zur Luhmann-Rezeption in den Einzeldisziplinen zeigen Verbindungen und Anwendungsgebiete auf, die in dieser Dichte und Übersicht anderswo schwerlich zu finden sind. Der nach Orientierung suchende Anfänger dürfte sich in diesem Handbuch dagegen ähnlich verloren fühlen wie die Mottenlarve in Luhmanns Zettelkasten.

 
 

Anmerkungen

Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 11.   zurück
Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 19.   zurück