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»Moderne von Innen und von Außen«?

Der literarische Primitivismus auf dem Prüfstand

  • Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 143) Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2012. VI, 340 Seiten S. 25 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-028666-3.
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Aus einem Panel am Freiburger Germanistentag 2010 und der im selben Jahr an der FU Berlin unter dem Titel »Das primitive Denken ist katatym« durchgeführten Tagung ist der Sammelband zum literarischen Primitivismus hervorgegangen. Als Herausgeberin fungiert die Basler Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Nicola Gess, die soeben eine umfangreiche Monographie zum Literarischen Primitivismus publiziert hat. 1 Der Sammelband ist in drei Sektionen aufgeteilt: »Theorie(n) des Primitivismus«, »Geschichte des Primitivismus« und »Primitivismus in Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts«. Unter den größtenteils diskurshistorischen Beiträgen der ersten und zweiten Sektion, die das »primitive« Denken des (literarischen) Primitivismus nachzeichnen, sind vor allem die Arbeiten aufschlussreich, die die (historischen) Forschungsbemühungen zusammenfassen und die Probleme der verschiedenen Perspektiven auf das Phänomen pointieren. Der Sammelband vermag in Erweiterung der wissenschaftsgeschichtlichen Perspektiven neue Fragen zu stellen und liefert im anwendungsorientierten dritten Teil überzeugende Werkanalysen. Für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Primitivismus ist der Sammelband (wie auch die Monographie der Herausgeberin) ein großer Gewinn.

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Wie Nicola Gess in der Einleitung bemerkt, ist die Forschung zum literarischen Primitivismus noch »recht überschaubar« (S. 1). Die junge Forschungsgeschichte, so kann man zusammenfassen, war bestrebt, den von der Kunstgeschichte besetzten und auf die bildende Kunst zugeschnittenen Begriff Primitivismus auf die Literatur zu übertragen, wobei immer wieder die Frage gestellt wurde, ob die Existenz eines literarischen Primitivismus überhaupt behauptet werden könne. Mittlerweile wird die Existenzfrage beziehungsweise die grundsätzliche Frage nach der Übertragbarkeit des kunsthistorischen Begriffs nicht mehr gestellt. Aber wie der neue Sammelband zeigt, ist die definitorische Arbeit alles andere als abgeschlossen, auch lässt er erkennen, dass das »Übertragbarkeitsproblem« keinesfalls gelöst ist. In der Einführung umreißt die Herausgeberin die »Chancen und Grenzen [des] Begriffes«, und die Beiträge führen diese Arbeit fort. Die daraus hervorgehenden definitorischen Stellungnahmen sind heterogen, trotzdem aber lassen sich Trends in der Beurteilung des literarischen Primitivismus ausmachen.

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Der Begriff des Primitivismus

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Die Herausgeberin plädiert in ihrem begriffs- und forschungsgeschichtlichen Überblick für eine Öffnung des engen kunsthistorischen Begriffskorsetts des Primitivismus. Sie beschreibt die objektbezogene kunsthistorische Tradition der Primitivismusforschung, die den Fokus auf die »Nachahmung von Objektqualitäten« (S. 3) richtete, und spricht sich dafür aus, dass die Prägung durch das »Primitive« für die Literatur auf einer anderen Ebene zu denken ist. Nicola Gess benennt mit der Perspektivverschiebung »von Artefakten auf Kulturen, beziehungsweise auf andere Weisen des Denkens und den daraus hervorgehenden Weltanschauungen für die Literatur« (S. 3) den theoretischen Ausgangspunkt, über den in der Forschung Einigkeit herrscht. Mit Verweis auf die Arbeiten von Erhard Schüttpelz und Wolfgang Riegel der 90er Jahre, respektive Sven Werkmeisters medien- und zeichentheoretischer Analyse des Primitivismus von 2010, weist die Herausgeberin darauf hin, dass die Literatur gerade in dieser ›gegenstandslosen‹ Auseinandersetzung mit dem »primitiven« Denken – in der Erfassung des »philosophischen Gehalt[s] des ›primitiven‹ Denkens« der bildenden Kunst überlegen war (S. 3).

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Das Primitive als Paradigma und Denkfigur

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Nicola Gess skizziert im Weiteren zusammenfassend das Verständnis des »primitiven« Denkens des 20. Jahrhunderts und bezeichnet das »Primitive« als ein multidisziplinäres Paradigma zur Bestimmung »dreier Anderer der modernen Gesellschaft«: der sogenannten »Naturvölker«, der Kinder und der Geisteskranken. Mit Gaston Bachelard und Erich Hoerl spricht sie vom Paradigma des »Primitiven« als einem »Poem« und einem »Denkzwang der Zeit«, was insbesondere in der Analogienbildung zwischen den drei Figuren des »Primitiven« evident wird (S. 4 f.). Das »Primitive« ist insofern als »Denkfigur« zu begreifen, als dass für alle drei Figuren analoge Konzepte eines alogischen Denkens formuliert werden. Begrifflich bestimmen die am Diskurs beteiligten Disziplinen dieses alogische Denken wahlweise als magisches, mythisches, prälogisches oder mythisches Denken (S. 5). Wo Nicola Gess in ihrer Monographie alle drei Figuren des »Primitiven« in den Blick nimmt und den humanwissenschaftlichen Alteritätsdiskurs zwischen Ethnologie, Entwicklungspsychologie und Psychopathologie absteckt, fokussiert der vorliegende Sammelband auf die Diskursfigur »Naturvolk« und geht insbesondere dem damaligen Verständnis des »anfänglichen Menschen« nach, der, so die damalige Vorstellung, in ihm überlebt hat (S. 6).

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Nachtrag zum Begriff des Primitivismus

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Mehrere Beiträge des Bandes erörtern, um die Spezifik des literarischen Ortes des Primitivismus auszudifferenzieren, das »Übertragbarkeitsproblem« der kunsthistorischen Begrifflichkeit (Gees, S. 2 ff.; Schüttpelz, S. 15–17; Hahn, S. 131). Das Problem wird jeweils äußerst knapp abgehandelt und endet jeweils in einem Plädoyer für einen erweiterten Begriff des Primitivismus (Stichwort: Referenzobjekt »primitives« Denken). Hierbei erstaunt, wie schematisch die Autoren die unterschiedlichen medialen Bedingungen des literarischen und bildkünstlerischen Primitivismus problematisieren. Das »Übertragbarkeitsproblem« zwischen bildender Kunst und Literatur wird auf das Problem der unterschiedlichen Zugänglichkeit der Medien reduziert. Die Literatur hat qua Sprachbarriere ›materialistisch-medial‹ gedacht einen weniger direkten Zugang zum »Primitiven«. Diese etwas kurzsichtige mediale Gegenüberstellung für das intermediale Phänomen Primitivismus überrascht – zumal die postkoloniale Kritik für die komplexe Natur der Aneignungsprozesse im Primitivismus (sowohl auf interkultureller als auch intermedialer Ebene) sensibilisiert, und die Kunstgeschichte sich längst von den objektbezogenen älteren Darstellungen entfernt hat. Diese (relative!) Insensibilität für die kunsthistorische und medienästhetische Perspektive ist der einzige große Kritikpunkt an den Sammelband.

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SEKTION I

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Theorie(n) des Primitivismus – Ausgewählte Beiträge

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Die sechs theoretischen Beiträge gewähren einen sehr guten Überblick, sowohl was die epistemologischen Zusammenhänge des Paradigmas und der Denkfigur des »Primitiven« anbelangt, wie auch im Bezug auf die Diskussion um die theoretische Verortung des literarischen Primitivismus. Um letztere exemplarisch zu zeigen, wird im Folgenden der Beitrag von Erhard Schüttpelz ausführlich behandelt. Daneben sind die Beiträge von Sven Werkmeister und Iris Därmann speziell zu erwähnen, die die diskurs- und wissenschaftsgeschichtliche Perspektive dieser Sektion weiten.

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Erhard Schüttpelz hat unter dem Titel »Zur Definition des literarischen Primitivismus« den programmatischsten Beitrag des Bandes verfasst. In einem knappen wissenschaftsgeschichtlichen Abriss unterscheidet er drei Forschungstraditionen, mit der sich die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem literarischen Primitivismus konfrontiert sieht. Die erste Tradition ist die ideengeschichtliche Perspektive, wie sie von Boas und Lovejoy ausgehend Gestalt annahm, und in der, so Schüttpelz, der »Primitive« aus der diachronen Perspektive heraus immer als Antipode einer Fortschrittsgeschichte gefasst wird (S. 14). Die zweite – bildkünstlerische – Tradition sieht er »aus den lokalen Selbstverständigungen einer nicht-wissenschaftlichen Praxis« (S. 15) erwachsen. Von dieser »Praxis«, die sich unmöglich ideen- und diskursgeschichtlich verallgemeinern lasse, so Schüttpelz, erfährt der Primitivismus seine begriffliche Prägung (S. 15). Er stellt klar, dass für den Bereich der Literatur keine »ähnlich prägnante Serie von literarischen Praktiken, literaturkritischen Kontroversen und ästhetischen Verallgemeinerungen« vorausgesetzt werden kann (S. 15 f.). Auf diese Feststellung hin kritisiert Erhard Schüttpelz die ersten Versuche der literaturwissenschaftlichen Übertragung des Begriffs Primitivismus. Die verdienstvollen Arbeiten von Joachim Schultz und Michael Bell (nebenbei auch Edward Saids Orientalismus) bezeichnet er als wenig zur Erfassung des Primitivismus beitragende Imagologien, die einen Primitivismus als »›Bild‹ aus Bildern« (S. 16) erstehen ließen. Dies ist wenig diplomatisch ausgedrückt. Schüttpelz’ Strategie, die Forschungsgeschichte herunterzubrechen, ist im Bildtechnischen und im Umgang mit der kunsthistorischen Tradition allzu holzschnittartig. Er plädiert in der Folge für eine kunsthistorische Auseinandersetzung »ohne imagologische Reduktion« und stellt interessanterweise für die Literatur im nächsten Atemzug wieder die klassische Vorbildfrage und fragt nach dem »primitiven« Referenzobjekt der Literatur (S. 16 f.). Von der ideen- und kunstgeschichtlichen Tradition, die die Vorbildfrage nicht beantworten könne, schwenkt er zur dritten Forschungstradition: der ethnologisch-anthropologischen, welche gemäß Schüttpelz »aus verschiedenen Gründen bereits früh den Vorbildcharakter des ›primitiven Denkens‹ thematisieren konnte und musste« (S. 17) und sich somit für die Literaturwissenschaft als fruchtbarster Weg der Anbindung erweist. Schüttpelz beschreibt die vom Primitivismus geprägte Geschichte der internationalen Ethnologie, in der Konstitution und Kritik des Primitivismus untrennbar miteinander verbunden sind. Parallel zum bildkünstlerischen aus der Praxis entstandenen Primitivismusbegriff sieht er die moderne ethnologische (Selbst)-Reflexion beziehungsweise eben den modernen Primitivismusbegriff in der Praxis Gestalt annehmen und sich erst langsam auf die Forschung übertragen: »Das kritische und historisierende Konzept entsteht auf Seiten der Praktiker des Feldes, wird erst später von kunsthistorischer bzw. wissenschaftsgeschichtlicher Seite aus verallgemeinert und dann für die Kulturwissenschaften zum Gemeingut« (S. 17).

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Primitivismus als Bumerangeffekt

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Im Folgenden plädiert Schüttpelz dafür, die anthropologische Forschungstradition für die literaturwissenschaftliche Erfassung des Phänomens Primitivismus ins Zentrum zu stellen. Schüttpelz spitzt dafür seine Thesen über den literarischen Primitivismus beziehungsweise die »ethnoliterarische Moderne« zu, die er in seiner einflussreichen Publikation Die Moderne im Spiegel des Primitiven von 2005 formulierte. 2 Darin konstatierte er eine literarische Heteronomie in Abhängigkeit vom Diskurs der wissenschaftlichen Disziplinen rund um die Figur des »Primitiven« und der »fortlaufenden modernen Diskussion um den epistemologischen und lebensphilosophischen Status fremder Fremderfahrung [...].« 3 Er umriss den Ort des literarischen Primitivismus als Teil einer Kette wissenschaftlicher und literarischer Texte, die die »fremde Fremderfahrung« anerkennen. Im Sammelband nun redet Schüttpelz nicht von der Spiegelung, die im Gewahrwerden der uneinnehmbaren »fremden Fremderfahrung« ausgelöst wird, sondern fasst den Primitivismus im verwandten Bild des Bumerangs – als Bumerangeffekt, der von der Kategorie (Johannes Fabian) des »Primitiven« ausgeht. Die moderne Allochronie, die die Wissenschaft durch die »Symmetrisierung« und »Anthropologisierung« (S. 19) des »modernen« sowie ur- und vorzeitigen »Primitiven« geschaffen hat, und aus der sich das Gegenüber der europäischen Evolutionsgeschichte ausschließen musste, produziert die Voraussetzung für den Primitivismus:

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Wer alle anderen aus seiner eigenen Exklusivität ausschließt, wird sich aus einer universaleren Ökumene ausgeschlossen fühlen. Diese gedankliche, aber auch affektive Konsequenz der Einrichtung einer machtgestützten Allochronie, einer Zeitbarriere im Terminus des »Primitiven«, führte unweigerlich in die Möglichkeiten eines ästhetischen und epistemologischen »Primitivismus«, das heißt: in die Möglichkeit, den Bumerangeffekt der eigenen Exklusivität nicht nur zu erfahren und als Heimsuchung durch ein unbekannt Fremdes zu empfinden, sondern ihn auch zu gestalten. (S. 22)
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Schüttpelz definiert den literarischen Primitivismus also als ein die gängige Erzählung des »Primitiven« durchkreuzender und ergänzender »Rekurs auf eine universalere – und zwar eine allochrone, sprich „primitive« – Ökumene der Menschheit» (S. 24). Diese Definitionsarbeit wird bestimmt fruchtbare Diskussionen auslösen. Es gilt nun sozusagen die einzelnen Rekurs-Praktiken der Texte auf der bibliographischen Liste, die Schüttpelz anfügt, genauer ins Visier zu nehmen (S. 24). Dieser zukünftigen Arbeit schickt er drei Punkte der Warnung voraus, in denen er abschließend auf die komplexe Natur der Rekurse hinweist. In Bezug auf die geäußerte Kritik an der schematischen Reflexion der bildkünstlerischen/kunsthistorischen Dimension und deren Einfluss auf den literarischen Primitivismus, sei hier noch darauf hingewiesen, dass Schüttpelz die Kritik insofern mit dem zweiten Warnpunkt abzumildern vermag, in dem er unterstreicht, dass die primitivistischen Texte als „Versprechen [...] einer ästhetischen Heteronomie« gelesen werden müssen und nicht als in (medialer) Selbstbezüglichkeit geschaffene ästhetisch autonome Produkte (S. 25).

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Der Primitivismus und das Wissen der Moderne

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Mehrere Beiträge des Sammelbandes fassen ähnlich Schüttpelz im wissenschaftskritischen, die Kategorien des »Primitiven« (selbst-)reflexiv erfassenden Moment den Primitivismus definitorisch zusammen. (bspw. Hahn S. 135 f.; Gisi, S. 156; etc.) 4 . Marcus Hahns Beitrag unter dem Titel »Primitivismus und Literaturtheorie« beispielsweise sieht den Primitivismus ebenfalls aus der wissenschaftlichen Kategorisierung des »Primitiven« erwachsen. Er skizziert, ausgehend von einer Analyse der Gattung des »Persischen Briefs« (im Besonderen Hans Paasches: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschland, 1912/13) und im direkten Bezug zu Schüttpelz’ Konzepten aus Die Moderne im Spiegel des Primitiven mit der Figur des »Primitiven Philosophen« ein sich sowohl in der Anthropologie und Literatur herausbildendes Reflexionspotential, das zur »Reversibilität der Beziehung zwischen den ›Modernen‹ und den ›Primitiven‹« fähig ist (S. 130). Die literarischen primitivistischen Texte beschreibt er (mit dem Verweis auf Bruno Latours Wissenschaftskritik) als Versuche »[...] die Moderne von außen und von innen zugleich zu betrachten«. Dabei unterscheidet er den Primitivismus eines Paasche (»satirische Einkleidung lebensreformerischer Ideologie«) vom »epistemologisch tiefenscharf[en]« Mann ohne Eigenschaften Musils (S. 133). Er definiert abschließend:

[19] 
Und überall dort, wo in der klassischen Moderne der literarische Primitivismus über bloßen Exotismus hinausgeht, findet man Verfahren, die zur wechselseitigen Zweckentfremdung von Wissenschaft und Literatur führen – wie bei Musil; Verfahren, die diesseits oder jenseits einer Bereinigung ihrer Grenzverläufe angesiedelt bleiben. (S. 136)
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Ganzheitlichkeit

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Auch die Beiträge von Doris Kaufmann und Claudia Öhlschläger umreißen die Implikationen der Kategorie des »Primitiven« auf das Wissen der Moderne. Kaufmann erforscht den Einfluss des Paradigmenwechsels in der Beurteilung der sogenannt »primitiven« Kunst auf die kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. Sie weist auf die diskursiven Gemeinsamkeiten der Disziplinen (das »Verstehensproblem des ›Fremdseelischen‹«, das Kunstwissenschaft, Ethnologie und Sozialpsychologie teilen) und vermag die unterschiedlichen disziplinären Aufnahmen der »primitiven« Kunst gut zu umreißen (S. 107 ff). Sie unterscheidet die für das »Primitive« aufgeschlossenen Parteien und zeigt auf, wie die »fortschrittlichen« kulturrelativistischen Ethnologen für die »primitive« Kunst meist unsensibel waren und die Epoche machende Kunstwissenschaft von Wilhelm Worringer diese in einer autonomen Sphäre denkt, die sich von den sozialpsychologischen Fragestellungen der Kulturwissenschaft entfernt. (S. 110 f.) Schlussendlich geht es Kaufmann darum, die Auswirkungen auf die (Selbst-)Reflexionskultur der beteiligten Disziplinen zu umreißen. Sie beschreibt den generellen wissenschaftskulturellen Wandel, an dem der Primitivismus beteiligt ist und deutet den großen Bogen der Verschiebung des Primitivismusdiskurses von einem Kunst- und Kultur- zum Psychiatriediskurs an – wobei sie sich mit der Ausarbeitung des Psychiatriediskurses ein wenig zu viel vorgenommen hat. Kaufmanns Angebot einer Definition des Primitivismus zielt auf den allgemeinen Wandel der Wissenschaftskultur in Richtung »Ganzheitlichkeit«, mit besonderem Blick auf die bildende Kunst und Kunstwissenschaft, die die »Ganzheitlichkeit« oder »Ganzheit« in den Autonomiediskurs überführt:

[22] 
Mit dem veränderten Begriff und Verständnis von Kunst [...] erweiterte sich der zeitliche, räumliche und »seelische« Begriff von Kultur. Die Ganzheit einer Kultur – in allen anderen Bereichen des Lebens ansonsten angeblich zerbrochen – ließ sich in der Untersuchung der autonomen, »ewigen« Sphäre der Kunst noch fassen. Das ist das Ergebnis der ästhetisch-kulturwissenschaftlichen Primitivismusdiskussion, in der prälogisches, archaisches, mystisches Denken zur Ganzheit des menschlichen Geistes und Erlebens zählte und zur »Wesenserkenntnis« einer Kultur gehörte. (S. 110 f.)
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Ein solches »Ergebnis« des Primitivismus zeichnen auch weitere Beiträge des Bandes. Ausführlicher ist bei Iris Därmann oder Sabine Schneider dargestellt, wie die Ganzheitlichkeit in einen »autonomen« ästhetischen Bereich zielen kann, der die Abkoppelung des Primitivismus von seinem »interkulturellen« Ausgangspunkt bedeutet. Wobei hier angefügt werden muss, dass gewisse Texte des literarischen Primitivismus die Ganzheitlichkeits- und Autonomiekonzepte explizit ironisch kommentieren.

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Faszinationsgeschichte des Primitivismus

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Auch Claudia Öhlschläger analysiert den Wandel des Kunstbegriffs und versucht die europäische wissenschaftliche Annäherung an das »Primitive« mit spezifischem Blick auf Wilhelm Worringers Abstraktionstheorie als »Poem« zu bestimmen. Vom Erweckungserlebnis Worringers im Trocadéro ausgehend – dessen primitivistische Initiation weder von der »primitiven« Kunst noch vom Ort für die »primitive« Kunst, sondern von der Begegnung mit Georg Simmel ausgeht – veranschlagt Öhlschläger, eine »Faszinationsgeschichte« des Primitivismus zu entwerfen (S. 59). Dieses Vorhaben bleibt leider im Stadium einer Skizze, denn für eine Faszinationsgeschichte müssten die beteiligten Akteure und ihre diskursiven Standpunkte genauer umrissen werden. Die Frage nach dem »Primitiven als Subjekt der Faszination« (S. 59) bleibt diffus, nichtsdestotrotz vermag Öhlschläger die Worringer’sche Verlagerung der Kunst in den Bereich des Mentalen (vgl. Kaufmann) gut zu beschreiben und liefert fruchtbare Anknüpfungspunkte.

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Abstrakter Kunstdiskurs als eurozentrischer Mediendiskurs

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Weiter in die Problematik des abstrakten Kunstdiskurses führen Iris Därmann und Sven Werkmeister. Beide bieten an ihre kunsthistorisch/bildtheoretischen und ethnohistorisch/zeichentheoretischen Ausführungen anschließend Ausblicke mit Ansätzen dafür, den Diskurs des Primitivismus über die Moderne und Avantgarde hinaus in den Blick zu nehmen und sozusagen den Primitivismus als größere »Faszinationsgeschichte« zu begreifen (ohne dies freilich so zu benennen). Därmann und Werkmeister diskutieren beide den nachprimitivistischen Diskurswandel im Zuge von Strukturalismus und Poststrukturalismus und deuten an, inwiefern die Literaturwissenschaft mit dem Erbe des Primitivismus theoretisch verfahren kann.

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Iris Därmann zeigt auf, inwiefern die Abstraktion der amerikanischen Nachkriegskunst (am Beispiel Jackson Pollock) und die Bildtheorien der abstrakten Kunst (am Beispiel Maurice Merleau-Ponty) weiter auf Kosten der indigenen Künste geführt wurden. Sie zeichnet nach, wie die »affektive Mimesis« totemistischer indigener Kunstpraktiken Jackson Pollock zum »Action painting« inspirierten (beziehungsweise wie er die Praktiken der nordamerikanischen Indigenen eben richtiggehend einverleibte) (S. 77 ff.) und wie die Bildtheoretiker des 20. Jahrhunderts – und im Beispiel Pollock der Maler selbst – die konkrete Referenz zugunsten einer abstrakten Theorie magischer Primitivität negierten. Die Ignoranz der Bildtheoretiker (Därmann nennt Merleau-Ponty, Heidegger, Benjamin, Foucault, Deleuze, Lyotard und Derrida (S. 85)) für die »primitive« Kunst und den Einfluss der kulturellen Fremderfahrung auf die Abstraktion beschreibt sie als paradigmatisch.

[29] 
Die Evokation einer Erfahrung von Magizität, die die Wegbereiter der Moderne in der Auseinandersetzung mit der primitiven Kunst in Atem gehalten hatte, insistiert in den fraglichen Bildtheorien (im semantischen Spiel der französischen Wendung me regarde) nurmehr als affizierender Bilderblick bzw. als Blick der Dinge, der deutlich macht, dass das Sehen »anderswo beginnt« als im sehenden Subjekt. (S. 88 f.)
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»Inverse Ethnologie«

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Sven Werkmeister fasst in seinem Beitrag die Ergebnisse seiner Dissertationsschrift 5 zusammen und weist auf die Schrift als Schnittpunkt der Diskurse um das »Primitive«. Er zeigt auf, inwiefern die primitivistischen Zeichentheorien eines Wilhelm Wundt oder Lucien Lévy-Bruhl, die nicht ohne die neuen analogen Aufzeichnungsmedien denkbar sind, fundamentale Bedingungen für die Diskursverschiebung von der Figur des Wilden zum »Primitiven« darstellen. Zentral für Werkmeisters Argumentation ist, dass die völkerpsychologische und ethnologische Sprachtheorie die Technik der neuen Medien in den Darstellungen der schriftlosen Völker respektive ihrer »primitiver« Zeichen wiedergespiegelt:

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Die Anfang des 20. Jahrhunderts diskutierten ethnologischen Beschreibungen primitiven Denkens im Allgemeinen und primitiver Sprache im Besonderen spiegeln die spezifischen Bedingungen und Verfahrensweisen analoger Aufzeichnungsmedien, insofern sie alle von einer engen Verknüpfung der primitiven Zeichenbildung mit den Bedingungen sinnlich-konkreter Wahrnehmung und Aufzeichnung ausgehen. (S. 40)
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Die primitivistische Zeichentheorie bleibt zeitlich nicht lange bestehen. Werkmeister spricht vom »Reinigungsprozess«, den er übereinstimmend mit Iris Därmann als Abkoppelung primitivistischer Theorien von einem »primitiven« Ausgangspunkt darlegt (S. 47). Mit der strukturalistischen Semiologie wird das »primitivistische Postulat der Verwobenheit von Zeichen und Bezeichnetem endgültig verabschiedet« (S. 45). Das Zeichen wird sozusagen entkörperlicht, ein Prozess, der sich im schriftfixierten Poststrukturalismus weiterzieht. Den (post-)strukturalistischen »Ausschluss eines Anderen der differenziellen Schrift« (S. 49) deutet Werkmeister in der Referenz auf die ethnologische Kritik Därmanns 6 als »Versuch einer skripturalen Europäisierung« (S. 49) und fragt mit Sybille Krämer nach der Möglichkeit der Anerkennung medialer Differenz, beziehungsweise »medial begründeter kultureller Differenz«, welche im Denken der Différance offen geblieben sei. Er fordert die Perspektive einer »inversiven Ethnologie«, die, so Werkmeister ein wenig zaghaft, »in gewissem Sinne eher in der Tradition des Primitivismus um 1900 [steht]« und

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[...] auf die Übersetzungen und Kontinuitäten zwischen jenem nicht-schriftlichen Fremden und der eigenen europäisch-symbolischen Ordnung [verweist], ohne die mediale (und kulturelle) Differenz zwischen Eigenem und Fremdem durch den Verweis auf die Unhintergehbarkeit der Schrift einzuebnen. (S. 49)
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Diese Versuche der ›Traditionsanbindung‹ des gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurses (vgl. Sabine Schneiders Beitrag) sind fruchtbar. Vor allem bieten sie Anschluss, die literarturwissenschaftlichen Darstellungen, die auf das (selbst-)reflexive, wissenspoetische Potential des literarischen Primitivismus abzielen, kritisch zu betrachten und weiterzuführen. Im Bezug auf die Medialität des »Primitiven« und Körperlichkeit der magischen Zeichen- und Wahrnehmungsform ist ein Weg aufgezeigt, die »Bilderebene« der Wissenspoetik primitivistischer Texte zu denken.

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SEKTION II

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Geschichte des Primitivismus – Darwin revisited

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Lucas Marco Gisi nimmt die Definition von Nicola Gess des »Primitiven« als Denkfigur auf und diskutiert den Primitivismus als wissenschaftlichen Ansatz, der in der Analogiensetzung von Onto- und Phylogenese in den Mythentheorien des 18. Jahrhunderts (bei Gianbattista Vico, Nicolas-Antoine Boulanger, Christian Gottlob Heyne) ihren Anfang nimmt. Er redet vom »ursprünglichen Primitivismus-Konzept« (S. 154), was ein wenig verwirrend ist, aber gleichwohl einleuchtet, und beschreibt den Weg von der »Methode« Primitivismus »zur ›Überbrückung‹ des Ursprungsproblems mittels Konjekturen« zum Faktum der Humanwissenschaften im 19. Jahrhundert (S. 154 ff.).

[39] 
Was in der konkreten Ausformulierung selbstverständlich immer eine binäre Logik des Eigenen und Fremden impliziert und dann oft auch – sei es negativ eurozentrisch oder positiv kulturkritisch – eine qualitative Bewertung nach sich zieht, ist also zunächst in einem neutralen Sinn Teil einer wissenschaftlichen Methode. [...] Innerhalb der sich konstituierenden Wissenschaften vom Menschen um 1800 ist bezüglich des epistemischen Status der Analogie von Phylo- und Ontogenese eine Verschiebung von der konjekturalen hin zu einer klassifikatorischen oder typologischen Funktion zu beobachten. (S. 156)
[40] 

Diese epistemologische Tiefe ist mitzudenken, wenn es gilt das wissenspoetische »Experimentierfeld« der Literatur abzustecken. Lucas Marco Gisi schlussfolgert für das Denken eines literarischen Primitivismus: »Die Literatur erweist sich somit als Experimentierfeld, in dem Konjekturen auf die Probe gestellt und damit abduktive Formen der Erkenntnisgewinnung initiiert werden« (S. 156). Mit seinem Blick in das 18. Jahrhundert intendiert Gisi an der Annahme zu rütteln, dass der Primitivismus in einem »kolonial-eurozentrischen, sei es kulturkritischen – evolutionistischen Denken« gründe (S. 143). Auch der zweite Beitrag der Sektion »Geschichte des Primitivismus« will dieser darwinistischen Erzählung entgegenwirken. Wie Gisi, der den Einfluss des »evolutionistischen Paradigmas« für die Entwicklung des Primitivismus keineswegs zurückweist, nur den von ihm ausgehenden Bruch relativiert, so verfährt auch Michael C. Frank.

[41] 

In seinem Beitrag unter dem Titel »Überlebsel. Das Primitive in Anthropologie und Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts« diskutiert er die »Voraussetzungen für die Denkfigur der Rückkehr zum Primitiven, wie sie im Primitivismus zum Tragen kommt« (S. 164). Er untersucht anhand des Konzepts des »Überlebsels« (dt. Neologismus für das Konzept des »survivals« bei Tylor) die sich wechselnden Vorstellungen über die »Beweise[n] und Beispiele[n] eines älteren Culturzustandes« in der Gegenwart (S. 163) – das heißt die Störungen in der Grundannahme der europäischen Zivilisation, die er mit Tzvetan Todorov auf die Formel »Sie (dort) sind jetzt, wie wir (hier) früher waren« bringt (S. 160). Vom evolutionsbiologischen und ethnologischen Konzept des Rudiments und des Atavismus ausgehend verfolgt er die »transdisziplinäre Denkfigur« (S. 165) in die populärwissenschaftlichen Diskurse der Kriminialanthropologie und Entartung und schließlich in die fiktionalen Texte. Er zeichnet den großen Bogen der Verschiebung der Kategorie des beziehungsweise eben zum »Primitiven« hin nach, die Ende 19. Jahrhundert ihren Ausgang nahm. Mit der Skizzierung der unterschiedlichen disziplinären Stränge, die die Denkfigur des »Überlebsels«/Rudiments prägen und jeweils das regenerative beziehungsweise degenerative Potential des »Primitiven« stark machen, unterstreicht Frank die Beweglichkeit der »primitiven« und primitivistischen Konzepte. In Übereinstimmung mit der Kritik Gisis am »evolutionistischen Paradigma« spricht er von einer »umfassenderen epistemologischen Zäsur« (S. 166) der 1860er Jahre, in der die darwinistische Evolutionsbiologie und ihr Konzept des Rudiments nur ein Narrativ unter vielen »naturalistisch-gradualistische[n], makrohistorische[n] Narrative[n]« ist. Er zeigt schön auf, inwiefern Darwins Evolutionsbiologie die Kariere der Degenerationskonzepte für Gesellschaft und Kultur befeuerte, obwohl dessen Theorie der Rudimente nicht darauf ausgelegt war. Frank fasst als Fazit seiner Tour de force von Evolutionsbiologie, Ethnologie, Psychologie zur Literatur die »Entartung als Hauptproblem des 19. Jahrhunderts« (S. 182) und fasst den großen Bogen der Geschichte der Auseinandersetzung mit dem »Primitiven« als eine kontinuierliche Bewegung ins Mentale (Vgl. Kaufmann):

[42] 
Das Fremdbild des »Primitiven« wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert nach und nach internalisiert, bis europäische Wissenschaftler und Literaten schließlich nicht mehr nur unter den »Wilden« Spuren ihrer evolutionären Ursprünge erblicken zu können vermeinten, sondern auch in den heimatlichen Städten und sogar in der eigenen Triebnatur, die als psychisches Überlebsel eine Brücke zu früheren Entwicklungsstadien schlug. Fortschritt wurde auf dieser Grundlage zu einem umkehrbaren Prozess (S. 186).
[43] 

SEKTION III

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Primitivismus in Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts

[45] 

In der Sektion III behandelt Alexander Honold Alfred Döblins »Geonarrativ« aus Berge, Meere und Giganten. Dieser Beitrag verdeutlicht, wie sinnvoll eine Untersuchung des Primitivismus unter dem Stichwort »markohistorische Narrative« (Frank) ist und zeigt exemplarisch auf, wie weit die Übertragung wissenschaftlicher Darstellungs- und Erkenntnismodelle in die Fiktion reichen kann (S. 228 f.). Elisabeth Heyne untersucht Elias Canettis Masse und Macht unter dem Aspekt der Interaktion der verschiedenen Erzählebenen des Textes. An Hans Henny Jahnns Medea handelt Burkhard Meyer-Sickendiek das Problem der »Anti-Kunst« primitivistischer Texte ab – die Frage nach der Möglichkeit der Distanznahme vom diskriminierenden Diskurs, den sie »an der Grenze des stereotypen Klischees« stets reproduziert (S. 319). Aage Hansen-Löves Beitrag zum russischen Neoprimitivismus ist instruktiv und sorgt zusammen mit dem Beitrag von Susanne Klengel für die notwendige Erweiterung des Blicks auf die internationale Dimension des literarischen Primitivismus. Der Text enttäuscht aber durch Überlänge und Redundanz. Besonders erwähnt werden sollen im Folgenden die Texte von Susanne Klengel und Sabine Schneider.

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»Präsenz der Bilder«

[47] 

Sabine Schneider zeigt auf, wie Hugo von Hofmannsthal in seinen literarischen Texten den Diskurs um das »primitive« Zeichen und die »primitive« Metapher, und insbesondere den »primitiven« Opferkult, wie ihn Erwin Rohde in seiner ethnologisch-primitivistischen Studie Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen beschrieben hat, rezipiert. Elektra, so die Lektüre Schneiders, ist als »primitivistische „Zeichenutopie unter dem Fanal der Präsenz« (S. 194) ausgestaltet. In »bewusste[r] Archaisierung« versuche Hofmannsthal, die »machtvolle[n] Gegenwart visionärer Phänomene in ihrer Eigenlogik« darzustellen (S. 200). Die primitivistische Versuchsordnung, beziehungsweise die poetologische Relevanz der Darstellung der visionären »primitiven« Präsenz Elektras auf der Handlungs- und Figurenebene besteht darin, dass Hofmannsthal damit seine auf die ethnologische Metapherntheorie zurückgreifende Vorstellung des Dichters als einem Schamanen zu realisieren versucht. Schneider schreibt:

[48] 
Wenn der Dichter als »Schattenbeschwörer ohne Mass« dem Bann seiner visionären Bilder ausgeliefert wird, die ihn zum entrückten Schamanen einer alle Distanz absorbierenden Gegenwart machen, dann ist Elektras geisterbeschwörender Bilderbann, ihr Wachträumen im Hypnoid von poetologischer Relevanz. (S. 199)
[49] 

In der Bewegung des Textes von der Opfervision Elektras zum Selbstopfer, so legt Schneider dar, thematisiert Hofmannsthal die »ästhetischen Risiken« der »primitivistischen Poetik im Zeichen visionärer Präsenz« (S. 208). Das »Going Native« von Elektra, respektive des Erzählers, findet im schweigenden Tanz ihren Höhepunkt und gleichzeitigen Umschlagspunkt.

[50] 

Sabine Schneider kommentiert mit der »Poetik der Präsenz« Hofmannsthals indirekt auch die Gefahren, denen die gegenwärtigen Theorien um das das »Leitparadigma der Präsenz« (S. 191) ausgesetzt sind. Wie Iris Därmann und Sven Werkmeister deutet sie die Logik an, die in der Anknüpfung der gegenwärtigen Debatte am Primitivismus liegt. Hier gilt es weiter anzusetzen und vor allem den primitivistischen Bilderdiskurs weiterzudenken. Die Verbindungen zwischen Bildender Kunst und Literatur – das heißt das »Übertragbarkeitsproblem« des Primitivismus – werden in den Texten direkt verhandelt, wie man bei Hofmannsthal sieht.

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Der primitive Philosoph – der primitivistische Philosoph?

[52] 

Susanne Klengels Beitrag, der dem brasilianischen Modernisten/Avantgardisten Mário de Andrade gewidmet ist, sprengt den europäischen Rahmen des Sammelbandes. Er stellt mit der brasilianischen Modernismo-Bewegung (ab 1922), die in der Ausrufung der Bewegung der Antropofagia (die die Einverleibung der europäischen Kultur propagierte) gipfelte (ab 1928) die seinerseits primitivistisch produktive »primitive« Kultur dar und zeigt auf, dass der Bumerang des Primitivismus weite(re) Kreise zieht. Der europäische Seitenwechsel zum »Primitiven«, das »Going Native« wird vom »primitiven Philosophen« der ausser-europäischen Literatur gespiegelt. Klengel redet (mit Hinweis auf Vivian Schelling) von de Andrades »Selbststilisierung zu einem ›primitive intellectual‹« und diese als »ernste Anverwandlung und spielerische Subversion zugleich« (S. 258). (Ob in dieser der literareflexiven Haltung zwischen Aneignung und Kritik, wie sie beispielsweise Hahn für Musil beschreibt, das verbindende primitivistische Element zu suchen ist, ist eine Frage, die der Text aufwirft.) Für Andrades primitivistischen Roman Macunaíma (1928), der eine spielerische Aneignung, eine ré-écriture von Theodor Koch-Grünbergs Schriften unternimmt, schreibt Klengel: (S. 262 f.)

[53] 
[...] Mario de Andrade verweist damit spielerisch auf die hochproblematische Annahme, dass es einen direkten Zugang zum fremden »primitiven« Wissen geben könne, und gleichzeitig auf die Notwendigkeit, Strategien zu entwickeln, um das epistemologische Problem als solches sichtbar zu machen. (S. 263)
[54] 

Dieser Roman begreift Klengel als Höhepunkt des Primitivismus Andrades, der sich später von der Literatur verabschiedet und sich der (Musik)Ethnologie und Folkloreforschung zuwendet. In der Rekonstruktion von dessen Begriff des »Lehrlings« (»in Sachen Tourismus«), der mehrfach in unveröffentlichtem Material auftaucht, zeichnet Klengel nach, wie Andrade sein Primitivismus-Projekt und den Primitivismus grundsätzlich mit einem »Verlernen« des Primitivismus außer Kraft setzt und beendet (S. 264 ff.):

[55] 
Seine [Andrades] Lehrzeit in Sachen Tourismus, die auch eine Lehrzeit in Sachen Primitivismus war, bedeutete im Grunde, zu lernen wie man den avantgardistischen Primitivismus verlernt, was ihn vom sicheren avantgardistischen Wissen zur Ethnologie führte. (S. 266)
[56] 

Der selbstreflexive literarische Primitivist, respektive primitivistische Philosoph (, der die Möglichkeit »sicheren avantgardistischen Wissen[s]« natürlich schon vorher in Frage stellte) beendet in letzter Konsequenz die ästhetische Annäherung an das (absolut) Fremde – und geht die direkte (einfache) Konfrontation ein.

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FAZIT

[58] 

Der Sammelband bietet eine panoramatischen Überblick über die gegenwärtige Forschung im Bereich literarischer Primitivismus. Die historisch und theoretisch orientierten Beiträge zeigen die Prägungen der Literatur durch den multidisziplinären Primitivismusdiskurs auf und versuchen mehrfach im wissenspoetischen literarischen Spiel zwischen Aneignung und Kritik des »primitiven« Denkens den literarischen Primitivismus definitorisch auszuzeichnen. Wiederholt wird bestimmt, dass die nicht einfach zu ziehende Linie zwischen Exotismus und Primitivismus dort verläuft, wo eine »wechselseitige Zweckentfremdung von Wissenschaft und Literatur« (Hahn, S. 136) beobachtet werden kann. Das Bild des Bumerangs der Kategorie des »Primitiven« (Schüttpelz), der in den literarischen Texten zurückschlägt, gilt es für die einzelnen primitivistischen Texte der Moderne und Avantgarde fruchtbar zu machen, um die diskursive und wissenspoetische Stellung der Texte zu fassen. Wobei die klassifikatorische Arbeit, zu der Erhard Schüttpelz’ Beitrag aufruft, dies gilt es zu bedenken, für den Primitivismus äußerst schwierig zu bewerkstelligen ist. Die Bandbreite der literarischen Beispiele des Sammelbandes (von Hofmannsthal bis Andrade) macht dies einmal mehr deutlich. 7 Es muss also weiter untersucht werden, inwieweit gerade die immer wieder als »Anti-Kunst« charakterisierten, häufig Stereotypen reproduzierenden avantgardistischen Texte (Vgl. Meyer-Sickendiek im Bezug auf Jahnn) die Kategorisierung des »Primitiven« und die Erfahrung der »fremden Fremderfahrung« reflektieren und oder ob diese Leistung auch »leisere« oder performativere Texte auszeichnen, die es gegebenenfalls auch neu in den »Kanon« zu integrieren gilt. Eine Fortführung der grundsätzlichen definitorischen Bemühungen und Kanondiskussion ist also gefragt. Der zweite Trend, der sich im Sammelband abzeichnet, ist die Diskussion einer überhistorischen zeichen- und medientheoretischen Perspektive, welche zulässt, die gegenwärtige Diskussion um Präsenz, Körperlichkeit, Mimesis und Bildlichkeit direkt mit dem Primitivismus des frühen 20. Jahrhunderts in Verbindung zu setzen. Für die konkrete Textarbeit ist diese Analogiensetzung ohne große Konsequenzen, sie schärft jedoch nochmals den Blick für eine umsichtige Rekonstruktion der Mechanismen (der Analogisierung) des Primitivismus. Eine »inversive« ethnologische Perspektive (Werkmeister), die die Übersetzungen und Kontinuitäten zwischen den Kulturen und Medien beschreibt, ohne die mediale und kulturelle Differenz einzuebnen, ist sozusagen primitivistisches Ideal und literaturwissenschaftliches Credo zugleich. Für den kunsthistorischen und bildtheoretischen Gesichtspunkt zeigen sich wenige Beiträge aufgeschlossen, eine Öffnung der Literaturwissenschaft für die bildkünstlerisch/intermediale Ebene des Primitivismus und die Reflexion postkolonialer kunsthistorischer Positionen ist erwünscht.

 
 

Anmerkungen

Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin). München: Wilhelm Fink 2013.   zurück
Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960). München: Wilhelm Fink 2005.   zurück
Ebd., S. 389. Allgemein: 4. Teil, Kap. 12: »Die Zeit der Modernen/Die Zeit der Primitiven«, S. 381–410.   zurück
Lucas Marco Gisi bspw. redet vom »reflexiven Primitivismus oder Meta-Primitivismus«. Das (selbst)reflexive Moment des Primitivismus unterstreichen bsps. auch ältere Studien von Michaela Holdenried oder Jutta Müller-Tamm, die die ästhetisch/mediale Dimension primitivistischer Texte in den Blick nehmen (Michaela Holdenried: »Der technisierte Barbar. Magie und Mimesis in Robert Müllers Tropen«. In: Alexander Honold / Klaus Scherpe (Hg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Bern: Peter Lang 2000, S. 303–319; Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg: Rombach 2005. – Interessant wäre in dem Zusammenhang eine Untersuchung, die den Einfluss der frühen und bis heute einflussreichen kunsthistorischen Begriffsbildung und Kategorisierung von Goldwater (Robert Goldwater: Primitivism in Modern Art. Cambridge MA/London: Belknap Press 1986 (1938)) auf die literaturwissenschaftlichen Konzepte analysiert (Stichwort: »intellektueller Primitivismus« für die Beschreibung der primitivistischen Kunst von Picasso in Absetzung von »romantischem/emotionalem Primitivismus« (Gauguin/Pont Aven; Die Brücke/Blauer Reiter).   zurück
Sven Werkmeister: Kulturen jenseits der Schrift. Zur Figur des Primitiven in Ethnologie, Kulturtheorie und Literatur um 1900. München: Wilhelm Fink 2010.   zurück
Iris Därmann: Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie. München: Wilhelm Fink 2005.   zurück
Die primitivistischen Texte lassen sich nur schon schlecht grob in ›praktisch‹ /mimetische (eine Kategorie, die immer wieder für die Beschreibung der dadaistischen primitivistischen Trommel- und Lautgedichte veranschlagt wurde) und eben reflexive Ansätze einteilen. Hier kann die Kategorisierung nach Referenzgrad helfen.   zurück