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Dem Schwemmsand der Geschichte widerstehen

Vorschläge für einen neuartigen Umgang mit dem historischen Relativismus

  • Olaf Breidbach: Radikale Historisierung. Kulturelle Selbstversicherung im Postdarwinismus. Berlin: Suhrkamp 2011. 274 S. Kartoniert. EUR (D) 11,00.
    ISBN: 978-3-518-29591-5.
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Ausweg aus dem Relativismus

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Mit dem Ausdruck ›radikale Historisierung‹ scheint Olaf Breidbach zweierlei bezeichnen zu wollen: Zum einen handelt es sich hierbei um den Befund, dass nicht nur Gegenstände der Geisteswissenschaften, sondern sämtliche Wissensbereiche (also auch Natur- und mathematische Wissenschaften) vom Historisch-Kontingenten unterwandert sind. Das Attribut ›radikal‹ wird somit zunächst quantitativ verstanden. Zum anderen bezeichnet ›radikale Historisierung‹ »eine Methode zur Analyse eines Traditionsgefüges« (S. 16). Während der mit der Panhistorisierung einhergehende Verlust universeller Maßstäbe üblicherweise in einen historischen Relativismus mündet und den Subjekten einer Kultur ihren »Halt« nimmt, schlägt Breidbach die Methode der »radikalen Historisierung« als eine Art programmatischen Rettungsweg vor:

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Der vorliegende Text versucht darzulegen, was zu machen ist, um den Selbstzweifel an einer nur relativen Bestimmung abzulegen. […] Er zeigt auf, dass auch die in sich rückverwiesene Selbstbestimmung Halt bietet. Sie kann dies, indem sie in ihre Geschichte sieht. Nehmen wir die für uns zu überblickende Geschichte und damit auch die Geschichtlichkeit der eigenen Position ernst, finden wir aus den Unsicherheiten und Fehlbestimmungen eines inkonsequenten Relativismus heraus. (S. 9 f.)
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Die hier von mir vorgeschlagene Doppeldeutung des Titels wird von Breidbach selbst nicht expliziert, spiegelt sich jedoch in der Gliederung des Gesamttextes in vier etwa gleichgroße Teile: Auf die Vorstellung des Problemansatzes im einleitenden ersten Teil folgt im zweiten Teil der Versuch, die »philosophische Diskussion um den Stellenwert des Historischen in seiner anthropologischen Dimension« (S. 14) einzufangen. Somit widmet sich die erste Hälfte des Buches der Stellung des Historischen in der Moderne sowie der Ausweitung des Historischen auf bisher nicht in ihrer Historizität begriffene Wissensbereiche. Die zweite Hälfte hingegen geht auf methodische Aspekte ein: Im dritten Teil trägt Breidbach die methodischen Grundlagen für seinen Ansatz zusammen, während er im vierten Teil schließlich die ›radikale Historisierung‹ als neue Methode konzipiert.

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Abgrenzungen von der Diskursanalyse

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Mit Breidbachs umfangreichem Programm geht stets eine Positionierung gegenüber und Abgrenzung von der Diskursanalyse à la Michel Foucault einher. Legt man Breidbachs Vorwort neben das Vorwort zur deutschen Ausgabe von Foucaults Ordnung der Dinge, werden die Differenzen beider Denkansätze unmittelbar ersichtlich: Foucault nennt die Mathematik, die Kosmologie und die Physik jene Wissenschaften, in deren »Geschichte […] man den beinahe ununterbrochenen Ausfluß von Wahrheit und reiner Vernunft beobachten [kann]« 1 , das heißt, es handelt sich um Disziplinen, die uns seit jeher ›Halt‹ bieten, weil sie sich möglichen Historisierungen (weitgehend) entziehen. In Abgrenzung dazu benennt Foucault vermeintlich weniger verlässliche Wissenschaften: »Die anderen Disziplinen jedoch – beispielsweise diejenigen, die die Lebewesen, die Sprachen oder die Ökonomie betreffen – werden als zu durchtränkt von empirischem Denken […] betrachtet, als daß ihre Geschichte anders als unregelmäßig sein könnte.« 2 Doch gerade diesen Wissensbereichen, die scheinbar in Gänze den historischen Kontingenzen ausgeliefert sind, will Foucault ein ›System‹ 3 unterlegen: »Was aber, wenn empirisches Wissen zu einer gegebenen Zeit und innerhalb einer gegebenen Kultur wirklich eine wohldefinierte Regelmäßigkeit besäße […], wenn die Geschichte des nichtformalen Wissens selbst ein System hätte?« 4 Dies ist die zentrale Hypothese des frühen Foucault, für die er schließlich auch fein säuberlich den Nachweis führt.

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Breidbach hingegen schlägt den entgegengesetzten Weg ein: Anstatt die historischen Wissenschaften mit ahistorischen Elementen bzw. ›Fundamenten‹ zu versehen, historisiert er die vermeintlich ahistorischen Wissenschaften:

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Warum eigentlich betrachtet sich die Biologie, die durch die Evolutionslehre fundiert ist, als eine ahistorische Wissenschaft? Baut sie ihren Erkenntnisansatz auf der Evolutionslehre auf, ist sie von ihrer ganzen Konzeption her historisch angelegt. Wenn derart die von ihr betrachteten Strukturen als Resultat eines Prozesses begriffen werden, sie also nicht einfach als vorgegebene Größen zu beschreiben sind, dann stehen sie keineswegs in einem Raum absoluter Bestimmtheit. (S. 9)
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Das gleiche gelte für die Physik und jede andere Naturwissenschaft: »mit ihrem Kalkül, den mathematischen Beschreibungen ihrer Aussagenzusammenhänge, operiert [sie] demnach in einer relativen Bestimmtheit, einer relativen Zeit – ohne den Halt absoluter Gewissheit« (S. 9).

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Demnach nehmen sowohl Foucault als auch Breidbach eine Aufwertung der Human- bzw. Geisteswissenschaften innerhalb der Wissenschaftslandschaft vor, nur dass sie die Annäherung von entgegengesetzten Richtungen vornehmen. Wie jedoch oben bereits gezeigt, will Breidbach keineswegs die Wissenschaften insgesamt dem Relativismus aussetzen. Vielmehr unternimmt er im Anschluss an seine ernüchternde Einsicht in die durch und durch historische Verfasstheit unserer Lebens- und Wissenswelt (und der damit einhergehenden Erfahrung der ›Haltlosigkeit‹) eine erneute und neuartige Systematisierung ebendieses allumfassenden Historischen: Das Historische »darf nicht zum Ausschluss aus einem systematischen Ansatz dienen, sondern muss als dessen Grundlage genommen werden« (S. 20).

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Für diese Systematisierung des Historischen bemüht Breidbach den zweiten im Begriff der ›radikalen Historisierung‹ anzutreffenden Bedeutungsaspekt, nämlich den einer Methode, welche Maßstäbe (für Bewertungen, Urteile usw.) bereitstellt, die nicht etwa aus einer ahistorischen Instanz gewonnen werden, sondern dem Historischen immanent sind.

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Maßstäbe

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Die Maßstäbe, die einen systematisch-wissenschaftlichen Umgang mit dem Historischen gewährleisten sollen, müssen aus dem Historischen selbst gewonnen werden. Naheliegend wäre hierbei, einen historischen Sinn zu objektivieren und die Bedeutung der eigenen Existenz daran zu ermessen. Der einfachste Objektivierungsmaßstab wäre sicherlich die Chronologie, also eine transkulturell verfügbare Skalierung von Ereignissen. Doch diese Möglichkeit weist Breidbach mit einem einleuchtenden Beispiel zurück: Es gibt verschiedene Entdeckungen Amerikas, die, trotz eindeutig zu ermittelnder Abfolge, in den jeweiligen Kulturen – von Breidbach werden vor allem Europa und China kontrastiert – als entsprechend semantisch aufgeladene Entdeckererzählungen tradiert werden, anstatt sich – von unserem heutigen Standpunkt aus – gegenseitig zu revidieren. »Geschichte [ist] eben nicht einfach in eine eindeutige Skala zu schreiben. Es ist nicht die objektivierende Chronologie, die Synopsis der Ereignisse, in der sich Geschichte objektiviert. Es ist vielmehr der Rückblick, die kontinuierliche Übersetzung in einer Kultur – das, was wir im Rückgriff Traditionen nennen –, worin sich Geschichte manifestiert.« (S. 113) Doch auch dieser mittels Traditionen hergestellte kulturspezifische Sinn könne sich dem Relativismus-Vorwurf nicht (mehr) entziehen und bilde daher ebenso wenig eine verlässliche Größe, um im Historischen Halt zu finden – stattdessen beharrt Breidbach mit Nachdruck auf der unhintergehbaren »Haltlosigkeit der eigenen Position« (S. 114). Halten wir fest: Wenn wir einen Maßstab im Historischen suchen, dann kann dieser ein objektiver oder ein subjektiver sein, also einer, der als vermeintlich ahistorische Konstante in der Geschichte selbst angelegt ist oder einer, der sich immer erst in der Perspektive des historischen Subjekts zum Ausdruck bringt (wobei sich aus der Perspektive des Subjekts das Subjektive freilich zumeist als Objektives – etwa als objektivierte Tradition – darstellt). Beides weist Breidbach zurück und sucht etwas Drittes.

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Breidbach geht hierbei zwar vom Subjekt aus, ersetzt aber den ›Standpunkt des Subjekts‹ durch eine Art ›Schwebepunkt‹:

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Der Einzelne findet sich einer Kultur überantwortet, die nur in einem Zufallsmoment bewegt ist. Auch hier bliebe doch für einen ersten Ansatz nichts als der Versuch, sich im freien Fall am eigenen Schopf festzuhalten. Dabei ist dieser Fall nicht einmal gerichtet; es ist kein Zentrum feststellbar, auf das hin sich alles bewegt. Eine Außenreferenz fehlt. Damit aber, und hier fängt sich Münchhausen in der Tat auf, ist das System allerdings in sich geschlossen. Es steht eben für sich und ist demnach aus sich zu bestimmen: Es steht nicht einfach ohne Halt, sondern befindet sich, bildhaft gesprochen, in der Schwebe. (S. 115)
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Damit ist Folgendes gemeint: Eine – z. B. wissenschaftliche – Aussage ist nicht der Beliebigkeit ihres historischen Entstehungskontextes ausgesetzt, denn »[s]chließlich hat die Geschichte ein Maß in sich selbst. Wie denn auch der Widerstand, den ein breiter Balken auf Schwemmsand gibt, zureichen kann, sich dort abzustoßen, ohne einzusinken« (S. 66). Dieser Balken, von dem Breidbach hier spricht, ist der Maßstab, den es zu beschreiben gilt, wenn wir eine Bewertung über eine historisch zu verortende Aussage abgeben wollen, die sich ihrerzeit an diesem Balken »abgestoßen« hat. Diese Metapher impliziert, dass der Maßstab (= Balken) sich nicht oder zumindest nicht in dieser Form bis in unsere Gegenwart erhalten hat, und zwar weil er im »Schwemmsand« der Geschichte irgendwann seine Widerstandskraft verliert. Die Historisierung, für die Breidbach plädiert, ist ›radikal‹ zu nennen, weil sie ihre Bewertungsmaßstäbe eben nicht bei der am ehesten verfügbaren Stelle (z. B. dem gegenwärtigen Wissensstand der Historiker) einholt, sondern diese Maßstäbe selbst zum Gegenstand historischer Forschung werden: Wenn uns eine (historische) Aussage begegnet (etwa in einem Schriftzeugnis), so müssen wir (irgend)einen Referenzpunkt dieser Aussage ausfindig machen. Am einfachsten ist es vielleicht, wenn es sich bei dieser Aussage um eine Replik handelt, beispielsweise in einem Briefwechsel. Die Aussage kann aber auch in eine kontrastive Relation zu Aussagen gesetzt werden, die zur gleichen Zeit in der Geschichte auftauchen, sofern dabei ein tertium comparationis als Maßstab herauszustellen ist. Durch eine derartige relationale Positionierung dieses interessierenden (sprachlichen) Elements »ergibt sich ein Gefüge von Quervernetzungen in einer Zeit (synchron), das dann noch um die Dimension der Historie (diachron) erweitert werden kann« (S. 204). Breidbach schlägt vor, »diese Diskussionsvernetzungen nicht aus der Totalität der Äußerungen in einer Kultur, sondern durch eine Analyse der Rezeptionslinien von Personengruppen und innerhalb von Personengruppen dieser Kultur in horizontaler Richtung, das heißt synchron, und in vertikaler Richtung, das heißt diachron, in den Blick zu nehmen« (S. 199).

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Archäologie

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Diese mit der horizontalen und der vertikalen Achse von Rezeptionslinien anklingende topologische Metaphorik ist angelehnt an den Vergleich, den Breidbach zu der Arbeit der Geologen zieht: Beide – Historiker und Geologen – rekonstruieren Vorgänge mittels Interpretation von Spuren. Breidbach knüpft somit an Foucaults Konzeption an, der die Methode seiner Diskursanalyse auch als »Archäologie« bezeichnet hat: Wenn man auf ein interessantes Objekt stößt, so trägt man die dieses Objekt überlagernden Sedimente ab und legt eine ›Schicht‹ frei. Diese Schicht enthält andere Objekte, zu denen der Archäologe das interessierende Objekt in Relation setzen kann. Auf diese Weise entsteht ein Relationsgefüge, dem der Archäologe interpretierend Bedeutung(en) abgewinnen kann: »In dieser Geschichte, die ihm die Relationen der Dinge darlegt, findet der Archäologe seine Wahrheit. Er bringt die Dinge dadurch, dass er sie in ihrem Verhältnis zueinander notiert, zum Sprechen.« (S. 149)

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Gleichwohl möchte sich Breidbach der archäologischen Methode Foucaults nicht uneingeschränkt anschließen (was bei der oben aufgezeigten Gegensätzlichkeit der Ausgangshypothesen auch verwunderlich wäre): Während Foucault die Relationen innerhalb derselben ›Schicht‹ beschreibt und diese stratologische Analyse nur für eine einzige »Epoche« (für diese dann aber unterschiedslos) gültig ist, interessiert sich Breidbach auch für die diachronen Relationen und nimmt hierbei keine radikalen Qualitätssprünge an (wie bei Foucault die »epistemischen Brüche«), sondern scheint sich die Sedimentierung eher als die Folge einer unablässig herabnieselnden Zeit vorzustellen, die das historische Material mehr und mehr verhüllt. Diese sukzessive Schichtung lasse auch im Nachhinein eine ziemlich genaue Bestimmung diachroner (vertikaler) Relationen zu. In dieser virtuellen Ausgrabungstätigkeit könne der Historiker Staubschicht für Staubschicht abtragen und hierbei Gleichzeitigkeiten, zeitweise Überlappungen, Vor- und Nachzeitigkeit usw. protokollieren.

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Ein echter Archäologe wäre an dieser Stelle schon ans Ende gelangt: Was er innerhalb derselben Schicht findet, wurde (wahrscheinlich) von denselben Individuen zur gleichen Zeit wahrgenommen und in einem – heute noch mehr oder weniger nachvollziehbaren oder mittels Interpretation zu ermittelnden – funktional-pragmatischen Zusammenhang verwendet. Der Historiker hat es schwerer, denn das, was er archäologisch aufspürt, hat oftmals schon selbst eine archäologische Geschichte: Er »begegnet […] Interpretationen – auch Selbstinterpretationen – von etwas, das erst in der Analyse dieser Interpretationen und im Aufweis von parallel berichteten Wahrnehmungen oder Dokumentationen überhaupt als Singularität zu rekonstruieren ist« (S. 121).

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Rezeptionsschichtungen

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Somit ist die Herausforderung benannt, die mit einer »radikalen Historisierung« einhergeht: Der (heutige) Historiker hat von seinem eigenen Standpunkt abzuweichen und stattdessen bestimmte, auf konkrete Objekte bezogene Standpunkte entlang der historischen Schichtungen zu rekonstruieren. Der »radikalen Historisierung« geht es nicht um eine Wahrnehmung von Geschichte, sondern um eine Wahrnehmung davon, wie Geschichte in der Geschichte wahrgenommen wurde. Auf diese Weise entstehe ein Netz von Rezeptionen des Historischen, wobei diese Rezeptionen – von unserer Gegenwart her betrachtet – selbst wieder in ihrer historischen Bedingtheit zu fassen sind. Mit dem Attribut »radikal« ist daher auch auf diese Verdopplung angespielt: »Die konsequente Historisierung der Positionen führt […] zu einer Historisierung der Historisierung selbst.« (S. 230) Um diese Reihungen von Bezugnahmen in der Dimension des Historischen zu verdeutlichen, verwendet Breidbach alternativ zum geologischen Modell das Bild einer Matroschka:

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Faktisch ist damit nicht eine einfache Schichtfolge, sondern eine russische Puppe zu betrachten, in der jeweils das vorläufig Vereinnahmte mit eingeschlossen und so in ein Ganzes gesetzt wurde, das sich fortlaufend aufbaute, dabei aber doch immer auch ein sehr eigenes Bild des Tradierten weiterreichte. (S. 122)
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Diese vertikal übereinander gelagerten Relationen zwischen Interpretationen und deren Referenzpunkten nennt Breidbach »Rezeptionsschichtungen«. Gemeint ist damit das Kommunikationsnetz in einem Wissenschaftsdiskurs, wobei vor allem die diachrone Achse in den Blick gerät. Dies könne von ideengeschichtlichen Ansätzen oder solchen der Konstellationsanalyse nicht geleistet werden, denn:

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Es ist zu analysieren, wer von wem wann wie wahrgenommen wird. Nur reicht es nicht, und dies ist der neue Schritt, dabei die entsprechenden Befunde zu katalogisieren, vielmehr ist aus der Untersuchung der Befunde das Gesamtbeziehungsnetzwerk in den Kommunikationsräumen des uns interessierenden Zeitfensters zu rekonstruieren. Dabei sind im Gefüge dieser Kommunikationsvernetzungen Schichtungen aufzuweisen, die den Bereich der wechselseitigen Rezeptionen und Nichtrezeptionen zu strukturieren erlauben. (S. 220)
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Solchen Anforderungen sei auch mit Foucault nicht mehr beizukommen. Kurz, Breidbach versucht seine Leser davon zu überzeugen, »dass die Großbegriffe Diskurs und selbst Paradigma in einer kleinteiligeren Analyse des Kommunikationsraumes der Wissenschaften und der Kultur aufzulösen sind« (S. 205) – und dies sei mit der Methode der »radikalen Historisierung« zu bewerkstelligen.

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Fazit und Kritik

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Da Breidbach Wissenschaftshistoriker ist, nimmt es nicht wunder, dass nahezu alle seine Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte stammen – zudem ist die Monografie Produkt seiner Arbeit im DFG-Sonderforschungsbereich Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800 5 . Gleichwohl will er seine Methode keineswegs auf diesen Gegenstandsbereich beschränken. Vielmehr seien in der Geschichte der Wissenschaften lediglich die besseren Beispiele zu finden, und zwar weil dort seit jeher die äußeren Randbedingungen (Praktiken, Techniken, Fertigkeiten etc.) bewusst erfasst, reflektiert und tradiert werden – »[d]emnach lässt sich an ihr exemplarisch demonstrieren, dass eine radikale Historisierung nicht ins Beliebige, sondern zu festen Maßstäben führt« (S. 66).

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Mit diesem knappen Verweis auf weitere mögliche Anwendungsfelder kann Breidbach jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den Ubiquitätsansprüchen seiner Ausgangshypothese nicht gerecht zu werden vermochte. Insbesondere bleibt der an den anfänglichen Befund einer unumgänglichen »Haltlosigkeit« des (post-)modernen Subjekts anknüpfende Aufruf zur Selbsthistorisierung ohne handfeste Anleitung. Am Ende der Lektüre fragt man sich als Leser noch immer, worin eigentlich die eigene »Haltlosigkeit« bestehe, und mehr noch: wie man denn nun, wenn sich tatsächlich einmal eine solche Lebens-, Identitäts- oder Sinnkrise bemerkbar machen sollte, darauf reagieren soll. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Übermaß an begrifflichen Abstraktionen und vielfache Wiederholungen gleicher oder ähnlicher Gedankengänge die Argumentationsstruktur des Textes undurchsichtig erscheinen lassen. Metaphorische Wendungen hingegen – wie ich sie oben nicht ganz ohne Augenzwinkern zitiert habe – mögen zwar gewisse Orientierungsfunktionen für die Leser erfüllen, werden aber der Komplexität des Gemeinten bei weitem nicht gerecht.

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Das kaum zu verbergende Missverhältnis zwischen Problemaufriss und Programm spiegelt sich in Breitbachs Appell zur Bescheidenheit:

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Das historische Programm zu radikalisieren, heißt denn auch zuerst, sich zu bescheiden. Die Bescheidenheit ist das Bekenntnis zu der uns eigenen Beschränktheit. In diesem Eingeständnis finden sich die Grenzen, über die wir dann aber bestimmen können, was uns eigen ist. Diese Bescheidenheit, der Verzicht, im Absoluten das Heil zu finden, gibt die Sicherheit im Momentanen. (S. 70)
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Breidbach scheint es dem Menschen also zuzumuten, dass er erstens die Bereitschaft aufbringt, seinen eigenen, kulturspezifischen Standpunkt entschieden zu schwächen, zweitens die Gefahren des Relativismus erkennt und drittens dann auch noch die Energie und den Witz aufbringt, gegen diesen anzukämpfen. Solche hochgesteckten moralphilosophischen wie sozialpolitischen Anforderungen lassen – zumal hinsichtlich fehlender bzw. lediglich kryptischer Ausführungen hierzu – ernsthafte Zweifel an der Möglichkeit einer praktischen Anwendung der »radikalen Historisierung« außerhalb wissenschaftsgeschichtlicher Spezialdiskurse aufkommen.

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Innerhalb der Wissenschaftsgeschichte hingegen und insbesondere in den von Breidbach bemühten Beispielen liegen die Vorteile der von ihm konzipierten geschichtswissenschaftlichen Methode auf der Hand: Statt Diskurse immer schon in ihrer Totalität überblicken zu müssen, um sie beschreiben zu können, ist mit der »radikalen Historisierung« eine regionale Eingrenzung und Differenzierung des Forschungsgebiets gefordert, bei der die Analyse ihren Anfang stets im Kleinsten nimmt:

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Es muss also nicht der gesamte Diskussionsraum nachgezeichnet werden, vielmehr kann die Analyse derart von einer Darstellung eines Fragments dieses Diskussionsgefüges ausgehen. Das Fragment ist auf ein Ganzes bezogen, das sich in ihm abbildet und das so ausgehend von diesem Einzelnen in den Blick zu nehmen ist. (S. 199 f.)
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Wäre Breidbach seinem Aufruf zur Bescheidenheit selbst gefolgt und hätte dem beanspruchten Wirkungsradius seiner Methode bewusst Grenzen gesetzt, so wäre aus seinem Buch unterm Strich vermutlich mehr geworden als eine bloße Verdichtung durchaus interessanter Überlegungen zum Geschichtsbegriff und zu methodischen Erfordernissen.

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Editorisch zu bemängeln ist das Fehlen eines Literaturverzeichnisses. Als hilfreich hingegen erweist sich ein ausführliches Begriffs- sowie Namenregister.

 
 

Anmerkungen

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 9.   zurück
Dieses System ist freilich nicht im strengen Sinne ahistorisch, wie in dem etwas paradox anmutenden Begriff des »historischen Apriori« deutlich wird: »Dieses Apriori ist das, was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, den alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird.« (Ebd., S. 204)   zurück
Ebd., S. 9 f.   zurück
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