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Experimente am Schreibtisch

  • Christoph Zeller (Hg.): Literarische Experimente. Medien - Kunst - Texte seit 1950. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte Bd. 296) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2012. 433 S. EUR (D) 54,00.
    ISBN: 978-3-8352-5861-7.
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Einleitung

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Mit dem Sammelband Literarische Experimente. Medien – Kunst – Texte seit 1950, der hervorgegangen ist aus einer im März 2010 an der Vanderbilt University in Nashville veranstalteten Tagung, schließt Christoph Zeller an eine Reihe von jüngeren Publikationen zum Phänomen des ›literarischen Experiments‹ und dem Verhältnis von Experiment und Literatur an. 1 Dabei unterscheidet er sich besonders von dem von Marcus Krause und Nicolas Pethes herausgegebenen Sammelband zu den Literarischen Experimentalkulturen, dem gleichsam eine Vorreiterstellung für das erneute literaturwissenschaftliche Interesse am Experiment zukommt, als auch von den Veröffentlichungen des von Michael Gamper geleiteten Forschungsprojekts zu »Literatur und Experiment«, an dem neben Martina Wernli und Jörg Zimmer auch der Verfasser der vorliegenden Rezension mitgearbeitet hat.

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Kennzeichnend für diese beiden Projekte ist vor allem, dass sie einen im weitesten Sinne wissensgeschichtlichen Zugang zu ihrem Gegenstand favorisieren und das Experiment als ein Verfahren betrachten, das in Literatur und Wissenschaften gleichermaßen wirksam ist, ein Verfahren, das überdies nicht erst in der Literatur der Avantgarden und Neo-Avantgarden, sondern auch – wie bei Krause und Pethes – in der Literatur des 19. Jahrhunderts oder aber – wie in Gampers groß angelegter »Literaturgeschichte des Experiments« 2 – bereits in der Literatur seit 1580 beobachtet werden kann.

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Ausschluss des Metaphorischen

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Die damit vorgenommene »Ausweitung des Experiment-Begriffs« (S. 27) betrachtet Zeller mit Skepsis. In der ausführlichen Einleitung seines Bandes kritisiert er, dass der wissensgeschichtliche Ansatz sich »kaum zur Beschreibung spezifischer ästhetischer Qualitäten« (S. 27) eigne, dass er sich auf »[s]emantische Unbestimmtheit und metaphorische Übertragung« (S. 29) gründe und seine Grenze finde, »wo der Literatur die Funktion der Erkenntnisgewinnung zuerkannt wird.« (S. 30)

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Obgleich gefragt werden kann, ob Zeller es sich mit dieser Kritik nicht zu leicht macht und die Anlage der genannten Projekte verfehlt – und zudem nicht unterschätzt, in welchem Maße auch wissenschaftliche Metaphern in Literatur und Kunst als Generatoren ästhetischen ›Eigensinns‹ fungieren –, ist die engere und auch andere Fragestellung seines Bandes plausibel. So zielt er weniger auf die Untersuchung literarischer und künstlerischer Manifestationen einer ›Experimentalität‹, die bis ins 20. Jahrhundert meist allein den Wissenschaften zugesprochen wurde. Vielmehr versteht er den Band als Beitrag zur Rekonstruktion der »Geschichte experimenteller Literatur«, die »sich gegen 1950 als eigenständige literaturhistorische Phase zu erkennen« gegeben habe (S. 45).

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Allerdings ist die Bestimmung der ›experimentellen Literatur‹, wie sie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts beobachtet werden kann, kein einfaches Unterfangen, und sie war es auch nie. 3 Zwar betonte Gottfried Benn in dem kurzen Stück Lyrik, das 1949 in seiner Ausdruckswelt erschien: »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte, in dem der Lyriker sich bewegt. Hier modelliert, fabriziert er Worte, öffnet sie, sprengt, zertrümmert sie, um sie mit Spannungen zu laden, deren Wesen dann durch einige Jahrzehnte geht.« 4 Doch anstatt als Grundlage emphatischer Bekenntnisse zu einer experimentellen Produktion von Lyrik sowie von Literatur überhaupt zu dienen, stießen diese inzwischen oft zitierten Ausführungen auf Ablehnung – gerade bei Autoren, die mit avantgardistischen und neo-avantgardistischen Schreibweisen eng vertraut waren.

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Bekannt ist vor allem die Kritik, die Helmut Heißenbüttel in seinem 1965 gehaltenen Vortrag Keine Experimente? vorbrachte. Wie er betont, lasse der Begriff des Experiments sich in den Feldern von Literatur und Kunst »gar nicht eindeutig erklären in Hinblick auf die Objekte, auf die er angewendet wird, sondern nur als Kennzeichen derer, die ihn gebrauchen.« 5 So finde die »öffentliche Meinung« in ihm »ein Schlagwort, mit dem sie etwas, das ihr nicht unmittelbar deutlich ist, das sie aber beunruhigt, eingrenzen kann, einen Namen, der zugleich polemisch und neutralisierend zu verwenden ist.« 6 Statt Poetiken etwa der zeitgenössischen Konkreten Poesie zu erklären, helfe der Begriff des Experiments, sie auszugrenzen und stillzustellen.

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›Experimentelle Literatur‹ seit 1950

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Die Literaturwissenschaft hat der von Heißenbüttel beschriebenen Begriffsverwendung inzwischen klar entgegengearbeitet, sich also nicht damit begnügt, die Rede von einer ›experimentellen Literatur‹ deren Verächtern zu überlassen – die zunächst nicht selten selbst Literaturwissenschaftler waren. 7 Doch wie kann die ›experimentelle Literatur‹ seit 1950 als wissenschaftlicher Gegenstand bestimmt werden?

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In der Einleitung seines Bandes betont Zeller, dass es hierfür wichtig sei, das ›Experimentelle‹ nicht als Ergebnis einer Übertragung der wissenschaftlichen Erkenntnismethode zu verstehen: Dann nämlich werde, wie in Zolas Le roman expérimental, zwar »eine ›experimentelle‹ literarische Ästhetik« formiert, doch unter »Aussparung des Literarischen« (S. 25). Darüber hinaus sei eine weitere Einschränkung erforderlich. Selbst wenn es als eigenständiges ästhetisches Phänomen aufgefasst werde, dürfe das ›Experimentelle‹ nicht mit einer allgemeinen »Neigung zur Überwindung von Konventionen und zur Innovation ästhetischer Kommunikationsformen« (S. 26) gleichgesetzt werden: Denn das hieße, ein ›Experimentieren‹ gleichsam zur Norm avancierter Literatur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu erklären.

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Innerhalb des damit umsteckten Rahmens, so betont Zeller, bieten besonders die Schriften Max Benses Anhaltspunkte, um die Spezifik der ›experimentellen Literatur‹ seit 1950 zu erkennen. Charakteristisch für diese Literatur sei demnach, dass sie zwar auf wissenschaftliche Begriffe, Modelle, Verfahren und Erkenntnisse rekurriere, doch ohne sich mit einer »metaphorischen Anwendung« (S. 36) zu begnügen. Stattdessen werde Wissenschaftliches hier immer auch in den Dienst einer Arbeit am eigenen Material gestellt, was für Literatur zuerst heißt: an Sprache.

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Deutlich wird das etwa, wenn Bense 1960 in der Programmierung des Schönen unter dem Stichwort »Methodische Dichtung« ausführt: »Sprache auf Logik und Statistik zurückgeführt […]. Man entnimmt der Sprache, was der Sprache zu entnehmen ist; Inhalte von außen nur als Vorwände für Sprache; Darstellungen im Dienste des Experiments«; 8 oder wenn er 1967 in seinem Vortrag über Engagement und Experiment erklärt: »Schreibend experimentieren heißt einen kreativen Gebrauch vom Schreiben machen […], um Sprache effektiv so zu zeigen, wie sie sich von sich selbst her zeigt und um ihre materiale zufällige historische also veränderliche Realität offenbar werden zu lassen.« 9

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Charakteristika ›literarischer Experimente‹

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Aus dem hiermit umrissenen Programm, die Materialität und Medialität der Literatur im Rückgriff auf wissenschaftliche Begriffe, Modelle, Verfahren und Erkenntnisse (»Logik und Statistik«) gleichsam im Prozess des Herstellens (»schreibend experimentieren«) zu reflektieren und zum Gegenstand des Herstellens zu machen – ein Programm, das vor allem in Konkreter Poesie umgesetzt worden sei, sich aber auch in Visueller und Digitaler Poesie wiederfinden lasse –, leitet Zeller schließlich einige Charakteristika ›literarischer Experimente‹ ab. Erkennbar seien diese etwa daran, dass sie

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Sprache und Schrift thematisieren und so ihre Materialität und Medialität vorführen; verschiedene mediale Aspekte miteinander verbinden; ihre theoretischen Voraussetzungen darstellen; ihr Druckbild und Lautbild akzentuieren; nach methodischen Prinzipien verfasst sind (Reduktion, Variation, Kombination, Permutation); auf Zufall, Statistik und Wahrscheinlichkeit beruhen; mit Hilfe von Maschinen produziert wurden, ohne Rücksicht auf individuelles Talent und subjektive Weltsicht; durch Kooperationen mehrerer Individuen verfasst wurden; Erzählen in Frage stellen; Zweifel an der Verweisstruktur der Sprache, damit an der Wirklichkeit wecken; auf ihren Entstehungsprozess hindeuten; ihre Wirkung ins Kalkül ziehen; in der Tradition optischer Poesie verfasst wurden oder sich auf sie beziehen; nicht bloß Experimente darstellen oder aufzeichnen, sondern Experimente sind. (S. 44)
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Dieser Katalog ist nachvollziehbar und erhellend, rückt aber auch ein grundlegendes Problem bei der Bestimmung ›experimenteller Literatur‹ in den Blick. Während Texte sich auf stark traditionsgebundene Ordnungskategorien wie die literarischen Gattungen oft bereits in Untertitel oder Titel beziehen, weisen sie sich meist nicht selbst als ›experimentell‹ aus. Vielmehr werden sie in der Regel erst im Nachhinein von Autorinnen, Lesern, Kritikerinnen und Literaturhistorikern, die unterschiedliche Interessen verfolgen und nach unterschiedlichen Kriterien urteilen, als ›experimentell‹ verstanden und erklärt.

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Dass das zu besonderen Schwierigkeiten bei der Konstitution des Gegenstandes ›experimentelle Literatur‹ führt, 10 ist Zeller bewusst. Nachdem er moniert hatte, bei Gamper gelte prinzipiell alles als ›experimentell‹, »was entsprechend benannt wird« (S. 29), verweist er nun deshalb selbst darauf, dass die genannten Charakteristika ›experimenteller Literatur‹ allenfalls eine orientierende Funktion erfüllen können: Ob Texte als ›literarische Experimente‹ beschrieben werden, hänge letztlich immer »vom Urteil und den Absichten ihrer Leser« ab (S. 44).

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Anlage des Bandes

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Im Anschluss an Zellers Einleitung zur Theorie und Geschichte ›literarischer Experimente‹ und ›experimenteller Literatur‹ präsentiert der Band 15 Beiträge, die in vier Sektionen mit den Titeln »Theorie«, »Medien«, »Politisierung« und »Narrative Verfahren« gegliedert sind. Dabei beschränken die Literarischen Experimente sich fast ausschließlich auf Texte zu deutschsprachigen Experimenten – eine Ausnahme bildet etwa Alice Staškovás Aufsatz zu Bohumila Grögerovás Rukopis –, zeugen ansonsten aber vom Bestreben, ein möglichst breites Feld an ›experimenteller Literatur‹ zu konstituieren, es in ganz verschiedener Hinsicht zu explorieren und die Geschichte dieser Literatur als eine zu zeigen, die längst nicht abgeschlossen ist.

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In diesem Sinne wenden die hier versammelten Beiträge sich nicht nur Autoren zu, deren Behandlung in einem solchen Zusammenhang zu erwarten wäre: Neben Bense, Heißenbüttel, Eugen Gomringer und Oswald Wiener (Bernhard J. Dotzler, Thomas Wild, Christoph Zeller) zählen hierzu auch Oskar Pastior (Jürgen Brokoff) und Ror Wolf (Carola Gruber). Sie widmen sich darüber hinaus auch Autorinnen und Autoren wie W. G. Sebald (Richard T. Gray), Elfriede Jelinek (Gabriele Dürbeck), Rainald Goetz (Mark Looney) und Thomas Meinecke (Agnes C. Mueller), deren Texte nur selten oder noch gar nicht als im engeren Sinne ›experimentell‹ betrachtet worden sind.

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Die breite Anlage des Bandes zeigt sich außerdem daran, dass neben Beispielen aus Lyrik (Anneka Metzger), Dramatik (Dürbeck), Roman (Gray) und Textcollage (Zeller) auch der Dokumentarfilm (Inge Münz-Koenen) und der Comic in den Blick genommen werden, dessen Bedeutung für ›literarische Experimente‹ der 1960er und 1970er Jahre Monika Schmitz-Emans in einem instruktiven Beitrag untersucht, und dass zuletzt auch Überlegungen zum Werkbegriff in den Avantgarden (Stephen K. Dowden) und zu Schreibformen wie dem text messaging (Lutz Koepnick) aufgenommen worden sind.

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Programmierung des Zufalls und Postmedialität

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Wie aber modellieren und konturieren die einzelnen Beiträge das Feld der ›experimentellen Literatur‹ seit 1950? Da es an dieser Stelle nicht möglich ist, die Aufsätze im Einzelnen zu rekapitulieren, sei nur auf einige der von ihnen behandelten Aspekte verwiesen, die für weiterführende Überlegungen fruchtbar erscheinen. Bemerkenswert ist zunächst der Beitrag von Bernhard J. Dotzler, der unter dem Titel »Ergriffenheit – Gedankenflucht. Oswald Wieners experimentelles Schreiben und die Zäsur der Kybernetik« Möglichkeiten andeutet, den Einsatz und die Bedingungen dieser ›experimentellen Literatur‹ genauer zu bestimmen.

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So verweist Dotzler am Beispiel der Kategorien der ›Ergriffenheit‹ und ›Introspektion‹ darauf, dass »das (erkenntnis-)theoretische Werk Oswald Wieners« sich als »kontinuiertes literarisches Experiment« (S. 76) begreifen lässt. Im Blick auf Bense und Wiener erinnert er jedoch auch daran, dass ›Zufall‹ für die im Anschluss an die Kybernetik und unter Voraussetzung des Computers durchgeführten ›literarischen Experimente‹ etwas anderes heiße als für die Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Denn im Unterschied zu einem realen Würfelwurf müsse der vom Computer simulierte programmiert und diese Programmierung wiederum aufwändig dissimuliert werden (vgl. S. 82). 11

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Die seit 1950 veranstalteten ›literarischen Experimente‹ können demnach zum großen Teil als welche begriffen werden, die ein »Computer- als Schreibspiel« (S. 92) betreiben oder zumindest von einer Experimentalität zeugen, die von den Möglichkeiten der ersten Computer geprägt ist. Das aber legt auch die Frage nahe, wie diese Experimente auf die seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts immer stärker durchgreifende Medialisierung, nicht zuletzt des Alltags, reagieren.

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Überlegungen hierzu stellen besonders Lutz Koepnick und Anneka Metzger in ihren Beiträgen an. Dabei knüpfen sie jeweils an die von Fredric Jameson und Rosalind Krauss in den 1990er Jahren formulierte Beobachtung an, dass Kunst sich mittlerweile in einer »postmedialen Situation« (S. 118) artikuliere, die durch eine Allgegenwart ästhetischer Erfahrung charakterisiert sei und sich in einer »Auflösung des Medienspezifischen der Einzelkünste« (S. 119), 12 aber auch darin manifestiere, dass anstelle von Kunst inzwischen Technologien und Medien als »the true bearers of the epistemological function« fungieren. 13

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Im Anschluss hieran betont Koepnick nun, dass Schreibformen wie das text messaging durchaus adäquat auf die Bedingungen einer postmedialen Gegenwart zu reagieren wissen, wenn sie nicht tradierte lyrische Formen emulieren, sondern durch ein Experimentieren mit den eigenen Bedingungen Medienspezifiken herausarbeiten und eigene ästhetische Potenziale realisieren, zu denen etwa die Gestaltung von Erfahrungen von »absorption, rapture, shudder, and bliss« (S. 104) gehören. 14

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In eine ähnliche Richtung argumentiert Metzger. Zwar konstatiert sie, dass zeitgenössische experimentelle Lyrik den postmedialen Herausforderungen bislang kaum gerecht werde, weil das, was hier als ›experimentell‹ verstanden wird, oft noch »dem Fundus experimenteller literarischer Traditionen« (S. 120) der 1950er und 1960er Jahre entstamme. Am Beispiel dreier Kunstprojekte von Šejla Kamerić, Lawrence Weiner und Tim Etchells deutet sie jedoch auch an, wie es anders geht – wie »das Potential des Mediums Sprache« (S. 123) unter postmedialen Bedingungen ausgelotet und reflektiert werden kann.

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Erzählen zwischen Metafiktion und Dokumentation

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Während es im Blick auf die Lyrik insofern nahezuliegen scheint, von einem »Altern der experimentellen Literatur« zu sprechen, 15 wird das für das Erzählen, schon immer eine der variabelsten und robustesten Kulturtechniken, nicht im gleichen Maße behauptet werden können. Problematisch ist es wohl eher, in Anbetracht der Vielgestaltigkeit von Erzählen zu bestimmen, wann – und wodurch – Erzählen überhaupt ›experimentell‹ wird.

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Bei der Beantwortung dieser Frage weisen die Beiträge des vorliegenden Bandes grundsätzlich in zwei Richtungen, die mit den Schlagworten ›Metafiktion‹ und ›Dokumentation‹ bezeichnet werden können. Die erste dieser Richtungen erschließt vor allem Christoph Zeller in einem Beitrag zu Heißenbüttels 1970 veröffentlichtem Projekt Nr. 1: D’Alemberts Ende. Im Anschluss an Heißenbüttels Bemerkung: »Die sprachliche Arbeit des Erzählers ist nicht stilistischer oder gar poetischer Art, sie besteht darin, über lange Strecken hinweg Vokabular und Syntax mit sich selbst identifizierbar, immer wieder auf sich selbst zurückbeziehbar zu halten«, 16 analysiert er D’Alemberts Ende überzeugend als einen »Text über das Schreiben, der die Fiktion einer imaginären Wirklichkeit in der Metafiktion literarischer Textproduktion aufhebt.« (S. 345)

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Während das ›Experimentelle‹ sich in Heißenbüttels Textcollage demnach vor allem in einer Auseinandersetzung mit dem Schreiben manifestiert, scheint jüngeres Erzählen stärker mit Möglichkeiten zu experimentieren, ›Wahrnehmung‹ zu thematisieren. Wie vor allem Richard T. Gray und Mark Looney an Texten von W. G. Sebald und Rainald Goetz zeigen, scheint es dabei zunächst darum zu gehen, im Erzählen ›Erfahrung‹ zu konfigurieren, ›Wirklichkeit‹ zu dekonstruieren und das Verhältnis von Fakt und Fiktion zu problematisieren. Darüber hinaus, so ist zu vermuten, zielt ein solches Erzählen aber auch auf etwas anderes – darauf, in Anbetracht einer durchmedialisierten oder eben postmedialen Gegenwart Ereignisse des Chaotischen, Authentischen und Realen zu erzeugen und zu bewahren.

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Damit verweist der Band auf zwei oft miteinander verschränkte, aber doch grundverschiedene Tendenzen des Erzählens, von denen die zweite und zuletzt auch populärere indes deutlich aus dem Bereich einer im engeren Sinne verstandenen ›experimentellen Literatur‹, wie Zeller ihn in der Einleitung skizziert, hinausführt. Denn auch wenn ein Roman wie Sebalds Austerlitz in einer keineswegs eindeutigen und hoch reflexiven Weise erzählt, ist er deshalb noch kein ›literarisches Experiment‹. Vielmehr tut er damit nur, was avanciertes Erzählen schon immer ausgezeichnet hat.

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Gleichwohl soll nicht verschwiegen werden, dass der Band noch eine weitere Möglichkeit, ›experimentell‹ zu erzählen, erkundet. In einem bemerkenswerten Beitrag zu Ror Wolfs Prosaband Mehrere Männer wendet Carola Gruber sich dieser Möglichkeit zu, die in dem methodisch durchgeführten Versuch besteht, das Erzählen zu verweigern und in Prosa nicht zu erzählen. Damit realisiert Wolf ein Experiment, das zunächst dadurch bestimmt ist, dass es das Erzählen nicht nur als Medium, sondern zugleich auch als Gegenstand begreift. Die besondere Pointe von Wolfs Versuch liegt jedoch darin, dass er ernst nimmt, was Mario Grizelj als »das oxymorale Verhältnis von Experiment und Prosa« 17 beschrieben hat: Wie Gruber ausführt, liegt sein Gelingen deshalb gerade darin, dass das Experiment des ›Nichterzählens‹ immer wieder scheitern muss (vgl. bes. S. 336‑342).

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Fazit

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Auch wenn festzustellen ist, dass einzelnen Beiträgen eine stärkere Reflexion auf das, was sie jeweils als ›Experiment‹ bezeichnen und betrachten, gutgetan hätte, kann festgehalten werden, dass Zeller mit den Literarischen Experimenten insgesamt ein beachtenswerter Band gelungen ist, der die jüngere Forschung zum Verhältnis von Experiment und Literatur aufnimmt und fortführt und ihr zugleich neue Impulse verleiht.

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Das gelingt ihm dadurch, dass er ähnlich wie Stefanie Kreuzer in ihrem ebenfalls 2012 publizierten Sammelband Experimente in den Künsten verstärkt Phänomene von Inter- und Transmedialität berücksichtigt, viel mehr aber vielleicht dadurch, dass er Forschungspositionen amerikanischer Prägung in das zuletzt vor allem von der Literaturwissenschaft der deutschsprachigen Länder vielbearbeitete Feld einbringt. Dadurch lässt der Band jedoch auch Potenziale zukünftiger Forschungen zum Thema sichtbar werden: Neben der Relation von Experiment und Gattung 18 scheint dabei besonders das Verhältnis von Experiment, Medialität und Alltagskultur weitere Untersuchungen wert zu sein – und diesen würde sich dann wohl erneut die Frage stellen, inwiefern die Geschichte ›experimenteller Literatur‹ seit 1950 als eine noch immer andauernde geschrieben werden kann.

 
 

Anmerkungen

Genannt seien hier nur Marcus Krause / Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. (Studien zur Kulturpoetik 4) Würzburg: Königshausen & Neumann 2005; Mario Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«. Eine Systemtheorie experimenteller Prosa. (Literatur Kultur Theorie 1) Würzburg: Ergon 2008; Michael Gamper / Martina Wernli / Jörg Zimmer (Hg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I: 1580‑1790. Göttingen: Wallstein 2009; Michael Gamper / Martina Wernli / Jörg Zimmer (Hg.): »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!« Experiment und Literatur II: 1790‑1890. Göttingen: Wallstein 2010; Michael Bies / Michael Gamper (Hg.): »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte«. Experiment und Literatur III: 1890‑2010. Göttingen: Wallstein 2011; sowie Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen: Wallstein 2010; und zuletzt Stefanie Kreuzer (Hg.): Experimente in den Künsten. Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst. Bielefeld: Transcript 2012.   zurück
Vgl. besonders Michael Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments – eine Einleitung. In: Gamper / Wernli / Zimmer (Hg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen« (Anm. 1), S. 9‑30.   zurück
Das verdeutlicht bereits die erste Überblicksdarstellung zum Thema von Harald Hartung: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, bes. S. 7‑10.   zurück
Gottfried Benn: Lyrik. In: G.B.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster. Bd. 4: Prosa II. Stuttgart: Klett-Cotta 1987, S. 355 f., hier S. 355.   zurück
Helmut Heißenbüttel: Keine Experimente? Anmerkungen zu einem Schlagwort. In: H.H.: Zur Tradition der Moderne. Aufsätze und Anmerkungen 1964‑1971. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1972, S. 126–135, hier S. 133.   zurück
So etwa erklärte Hugo Friedrich 1966 im »Vorwort zur neunten Auflage« seiner Struktur der modernen Lyrik: »Die sogenannte ›konkrete Poesie‹ mit ihrem maschinell ausgeworfenen Wörter- und Silbenschutt kann dank ihrer Sterilität allerdings völlig außer Betracht bleiben.« Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 13.   zurück
Max Bense: Programmierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik: Aesthetica IV. Baden-Baden, Krefeld: Agis 1960, S. 72.   zurück
Max Bense: Engagement und Experiment. Einführung in die große Lesung »Moderne Literatur in Stuttgart«, im Landesgewerbemuseum, Stuttgarter Buchwochen 21. November 1967. URL: http://www.stuttgarter-schule.de/bense_engexp.htm (27.08.2013).   zurück
10 
Vgl. hierzu besonders Grizelj (Anm. 1), S. 282‑298.   zurück
11 
Vgl. hierzu auch Bernhard J. Dotzler: Literatur(theorie) im kybernetischen Experiment. In: Gamper (Hg.): Experiment und Literatur (Anm. 1), S. 69‑95.   zurück
12 
Ebenso auch Rosalind Krauss: »A Voyage on the North Sea«. Broodthaers, das Postmediale. Übersetzt von Sabine Schulz. Zürich, Berlin: diaphanes 2008, besonders S. 7.   zurück
13 
Fredric Jameson: Transformations of the Image in Postmodernity. In: F.J.: The Cultural Turn. Selected Writings on the Postmodern 1983‑1998. London, New York: Verso 1998, S. 93‑135, hier S. 110.   zurück
14 
Noch stärker ließe sich das für postings in sozialen Netzwerken zeigen. Als Annäherung hieran vgl. Mathias Mertens, Stephan Porombka (Hg.): Statusmeldungen. Schreiben in Facebook. Salzhemmendorf: Blumenkamp 2010; Stephan Porombka: Schreiben unter Strom. Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co. Mannheim: Duden 2012.   zurück
15 
So lautet der Titel des Abschlusskapitels von Hartung (Anm. 3), S. 97‑103.   zurück
16 
Helmut Heißenbüttel: Frankfurter Vorlesungen über Poetik 1963. In: H.H.: Über Literatur. Aufsätze und Frankfurter Vorlesungen. München: dtv 1970, S. 116‑194, hier S. 167.   zurück
17 
Grizelj (Anm. 1), S. 311.   zurück
18 
Vgl. hierzu zuletzt Michael Gamper, Christine Weder: Gattungsexperimente. Explorative Wissenspoetik und literarische Form: Aphorismus/Fragment/Notat – Essay – Novelle/Roman – Lyrik (Michael Gamper) – Märchen (Christine Weder), in: Gamper (Hg.): Experiment und Literatur (Anm. 1), S. 96‑178.   zurück