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Das bezeichnende Beobachtete

  • Dirk Baecker: Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie. Berlin: Suhrkamp 2013. 309 S. Gebunden. EUR (D) 34,95.
    ISBN: 978-3-518-58590-0.
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»Dies ist ein Buch über nichts« (S. 9); insofern liegt es nahe, eine Rezension über ein Buch, das von sich derartiges behauptet, einen Text über nichts nennen zu dürfen. Doch folgen dem zitierten ersten Satz des Buches mit aller Erfahrung, die man mit Büchern hat, jedoch wider jede Logik, die aus dem ersten Satz erwächst, genug weitere Sätze, um 300 Seiten zu füllen. Der erste Satz ist unnötig manieriert – der zweite wäre der bessere erste gewesen: »Es (scil. dieses Buch) handelt von keinem bestimmten Gegenstand, versucht seinem Leser keine besonderen Meinungen nahezulegen und enthält keine Einladung, sein Leben zu ändern. Stattdessen ist es […] eine Übung in Kulturtheorie.« (S. 9)

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Zunächst die Planung dessen, was ein Buch über ›nichts‹ sein soll: »Ursprünglich hatte ich dieses Buch geplant, um in einem quasimathematischen Modus zu beweisen, dass das Soziale, wo auch immer es auftritt, seine Form ausschließlich im Medium einer selbst geschaffenen Kontingenz gewinnt« (S. 11). Zwei Dinge verdienen hierbei, bemerkt zu werden. Zum einen die Frage danach, was ein quasimathematischer Modus sei (wie also ein mathematischer Modus zum »quasimathematischen« wird), zum anderen die Frage nach der Kontingenz: »Beobachte Beobachter. Nenne Kultur die Anerkennung der Position eines Beobachters unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz dieser Position« (S. 17). Wenn Kontingenz also eine immanente Größenordnung in kommunikativen und semiotischen Prozessen ist (wofür seit ihrer Entdeckung alles spricht), dann kann ein Hinweis darauf, dass sie eine Selbstschöpfung des Sozialen sei, nur als Banalität verstanden werden.

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Damit zum »quasimathematischen Modus«: Baeckers vorliegende Kulturtheorie versucht, immer mit Bezug auf das von Niklas Luhmann in die soziologische Systemtheorie eingeführte logische Formkalkül von George Spencer Brown (Laws of Form, 1969), 1 eine »quasimathematische« Herleitung eines Kulturverständnisses als Wissen/Nichtwissen der Beobachter/der Beobachteten. Dieser hermetisch im Synchronen bleibende Versuch wird ›mathematisiert‹ und damit einem Prozess unterworfen, der Formelhaftigkeiten schürfen möchte wie Nuggets aus dem Klondike im Yukon-Territorium. Diese ›Übung‹ macht mit wenig mehr bekannt als mit der vollkommen unbewiesenen Behauptung, Kultur könne auch mit mathematischen Methoden beschrieben werden, wenn man nur wollte – was Baecker auf S. 46 f. insoweit darzulegen trachtet, als er die »Ebene des sicheren Rechnens« (S. 46), also die Arithmetik, mit Spencer Brown als »›Wissenschaft der Relationen zwischen Konstanten‹«(S. 47) und die Algebra als »›Wissenschaft von den Beziehungen zwischen Variablen‹«(S. 47) 2 charakterisiert und ihre Beziehung zu folgender, analogisierender Herleitung nutzt:

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Wir optieren hier, wenn man so will, idealistisch, indem wir als unbezweifelbar nur die Subjektivität des Ichs, das eine Beobachtung anstellt, setzen. Wir könnten auch versuchen, materialistisch zu optieren, und als konstant nur die Beobachtung zu akzeptieren, die auf beobachtbare Zustände referiert werden kann. Aber wir hätten dann das Problem, für diese Referenz einen Beobachter angeben zu müssen, und wären damit zurückverwiesen auf die idealistische Option. […]. […]. […]. Und wir halten fest, dass wir es auf der Ebene der ungewissen Variablen, der Algebra, immerhin mit dem robusten Unterschied zwischen Beobachtern erster Ordnung, die Grenzen kreuzen, und Beobachtern zweiter Ordnung, die Unterscheidungen markieren, zu tun haben. (S. 47–48)
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Für das »Reentry der Unterscheidung in die Unterscheidung«, die die »Analyseebene [erschließt], auf die wir mit unserem Versuch einer Kulturtheorie der Gesellschaft angewiesen sind« (S. 51), die es »mit Beobachtern zu tun [hat], die Beobachter beobachten« (S. 51), bleibt indes die (pseudo-)mathematische Beobachtung der Differenzlogik dieses ›Wiedereintritts der Unterscheidung ins Unterschiedene‹ mit Hilfe des formalen Kalküls von Spencer Brown weitgehend folgenlos. Folgenreich jedoch ist die kulturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Fundgrube Baeckers, deren geordneter Reichtum und beeindruckende Tiefe ab dem zweiten Kapitel (S. 76 ff. »Eine Frage der Form«) ein überzeugendes Buch generiert haben.

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Die Ableitung eines Kulturbegriffs, der die Voraussetzungen dafür erfüllen kann, zwischen Beobachtern, Beobachteten und Beobachtetem zu unterscheiden, gelingt Baecker virtuos. Denn das System des Zusammenspiels wie gleichermaßen des Zwangs der wechselseitigen Abhängigkeit von Beobachter und Beobachtetem ist in seiner Komplexität der Doppelhelix-Struktur des in allen Lebewesen vorkommenden Desoxyribonukleinsäure-Moleküls vergleichbar. Man tut Baecker nicht zu viel Ehre an, wenn man ihm attestiert, eine ziemlich vollständige Genese dessen, was derzeit unter Kultur verstanden werden kann und dessen, wie es zu einem solchen Verständnis kommen konnte, im vorliegenden Buch dargestellt zu haben.

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Das Kapitel »Eine Frage der Form« (S. 76 ff.) leitet die Entwicklung ein. Beim Übergang zum folgenden Kapitel, »Schwierigkeiten mit der Negation« (S. 141 ff.), ist die abschließende These des Form-Kapitels entscheidend: »Der Beobachter ist ein System, das sich zu einer Form entfaltet, die identisch ist mit dem Kalkül von Anschlussoperationen« (S. 140). Die Unterscheidungen, welche Beobachter zu treffen haben, umfassen zwangsläufig auch die Negation von Beobachteten/Beobachtetem – erst unter Einschluss der Negation sind auf der Grundlage von Unterscheidungen Entscheidungen (z.B. der Beobachter) möglich. Im Vorbeigehen sei in diesem Zusammenhang auf das dem Verfahren ›Kritik‹, der κριτική τέχνη (kritiké téchne), zugrundeliegende Verb κρίνειν (krínein) verwiesen; es bedeutet ›unterscheiden‹ und ›trennen‹ wie ›entscheiden‹ gleichermaßen: »Techniker, die ihre Entwürfe zum Funktionieren bringen, indem sie sich immer wieder überlegen, unter welchen Bedingungen sie nicht funktionieren, sind ein weiteres Beispiel« (S. 158 f.) für die konstitutive Funktion der Negation im Zusammenspiel von Beobachtern und Beobachteten/Beobachtetem.

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Eine Parallelführung zur Doppelung des Bezeichnenden mit oder gegenüber dem Bezeichneten liegt nahe, zumal in der zunehmend diachron entwickelten Perspektive, aus welcher Baecker Kultur als größten denkbaren Zeichenvorrat beobachtet. Ihr entspricht der Begriff der »Kontingenzkausalität« (S. 197), auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich, dessen Erklärung als »lose Kopplung« dann allerdings in einem auch semiotisch verstehbaren Sinne kulturgeschichtlich wie kulturwissenschaftlich weiterführen kann.

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In der Kultur sind Abhängigkeiten ebenso zu Hause wie Unabhängigkeiten behauptet, zuweilen bewiesen werden können. Das kann in kulturpolitischen Behauptungen (denen in der mitteleuropäischen Gegenwart keine entsprechenden Diskurse vorgeschaltet sind) verführerisch genug zu Begriffen wie ›Weltkultur‹, ›Inter-‹ oder gar ›Multikulturalität‹ führen. Baecker bietet dem gegenüber die diachron umfassend vertiefte Perspektive auf eine »Archäologie der Medien« an (S. 199 ff.). Sie erlaubt und ermöglicht ihm, ökologische, ethnologische, anthropologische bis hin zu nationalen Kulturzuordnungen – beobachtend und beobachtet, negiert und/oder gekoppelt – zu sortieren und zur Verifizierung seines Beobachtermodells zu nutzen und insofern auch klassische Verfahren der sogenannten empirischen Wissenschaften anzuwenden:

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Selbst die Turbulenzen, in die der Kulturbegriff gerät, wenn er nicht mehr – wie noch im Zeitalter der Aufklärung – ein intellektuelles und ›witziges‹ Interesse am Vergleich des Charakters der ›Nationen‹ […] bedient, sondern die Nation gegen den Vergleich und dessen Kontingenzzumutungen patriotisch, mit sich identisch und unter Verweis auf unverhandelbare Werte zu verteidigen beginnt, enthalten ein mitlaufendes Wissen nicht nur um die Differenz der Beobachterperspektiven, sondern auch darum, dass sich jede dieser Perspektiven ihrerseits in ein Verhältnis zu je unterschiedlichen Beobachtern setzt […]. (S. 205)
[11] 

Den bis hierher zunehmenden Protuberanzen im Modell und Verständnis von Beobachtern und Beobachteten unter Einschluss ihrer wechselseitigen, erfahrenen wie verursachten Kontingenz kann nur mit einem ebenso beherzten wie aus kritischer Distanz (s.o. κρίνειν) gewonnenen Wissen um Symbole begegnet werden: »Als sich selber bezeichnende Zeichen sind Symbole eine Reflexion auf die Einheit der Differenz von Reflexion, Performanz und Sinn.« (S. 219).

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»Das Ganze der Gesellschaft« lautet der Name des beschließenden Kapitels (S. 274–302) – verführerisch wäre, jenem legislativ und exekutiv zu beackernden Feld, welches Kulturpolitik heißt, mit Blick auf die wenige Zeit, die – einem gern tradierten Mythos folgend – für jene Politik in Legislative und Exekutive vorhanden sei, diese Seiten zu empfehlen 3 : Lesen Sie doch wenigstens das! Das kann man tun – allerdings würde man Baecker insofern auf den hochtheoretisierten Leim gehen, als solch popularisierender Kontextwechsel offenkundig gar nicht in der Absicht seines Buches liegt und die Lesenden aus kulturpolitisch legislativ und exekutiv handelnden Kreisen sich dann ungeschützt Sätzen wie den folgenden ausliefern müssten:

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Wenig überraschend […] plädieren wir für die Annahme, dass eine Gesellschaft eine Kultur hat und nicht ist. Im Rahmen des Formkalküls sind wir gewarnt, dass der kursiv gesetzte Teil des vorigen Satzes so relevant ist wie der nicht kursiv gesetzte, und müssen ab sofort annehmen, dass der Umstand, dass eine Gesellschaft keine Kultur ist, über die Art und Weise informiert, wie sie eine Kultur hat. Der Widerstreit der Kultur nimmt die Form des Einwandes gegen die Gesellschaft an, nicht mit ihrer Kultur identisch zu sein. Und dieser Einwand ist in der Gesellschaft und als Gesellschaft wirksam. (S. 276 f.)
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Als heilsame Lehre für eine Kulturpolitik, die in Teilen immer noch so tut, als wären Gesellschaft und »Kultur als Widerstreit gegen die Gesellschaft in der Gesellschaft« (S. 210) notwendig identisch, ergibt sich daraus immerhin und zu allererst die dringliche Anforderung, die wechselseitig kontingenten Beobachtungsverhältnisse zwischen Gesellschaft als Politik, Wirtschaft und Recht auf der einen und Kultur – also verschiedenen Künsten, Theater, Museen, Bibliotheken usf. – auf der anderen Seite zu ›beobachten‹ und die daraus resultierende Kontingenz kulturpolitischen Handelns selbstkritisch zu reflektieren.

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Baeckers Beobachter unter sich liefert die Grundlagen eines Diskurses, wie er konstitutiv in einer Kulturwissenschaft zu führen wäre, die den schwierigen, sperrigen, abgewetzten und wie in der Geschichte von Sisyphos sich immer neu am seit alters Gegebenen abarbeitenden Kulturbegriff auf keinen Fall ausspart oder gar bei Seite lässt (auf die zweifelhafte ›Bereicherung‹ durch den »quasimathematischen Modus«, aus dem für das Modell nichts weiter folgt, wurde oben verwiesen). Dieser Diskurs ist nützlich weil erhellend, denn er schützt sich nicht vor Kontingenzerfahrungen. Kein Wunder, dass das letzte Unterkapitel der Autopoiesis gewidmet ist (S. 296–302): »Triff eine Unterscheidung. / Beobachte ihre Form. / Arbeite an ihrer Unruhe. / Wisse dein Nichtwissen.« (S. 302)

 
 

Anmerkungen

George Spencer Brown: Laws of form. Gesetze der Form. Übers. von Thomas Wolf. Lübeck: Bohmeier 1997.   zurück
»›Ein Algebraiker ist an der Individualität der Zahlen nicht interessiert; ihn interessiert die Allgemeingültigkeit der Zahlen. Er interessiert sich mehr für die Soziologie der Zahlen, die unabhängig von individuellen Zahlen zur Geltung kommt; er hat eine Regel aufgestellt, gemäß der diese Leute hierhin und dorthin gehen und so weiter; an den Individuen ist er nicht interessiert‹« (ebd. S. 47; Baecker übersetzt und zitiert Aussagen von Spencer Brown auf einer Tagung 1973, Nachweis S. 46 f., Fußnote 47).   zurück
Man kann Dirk Baecker nicht vorwerfen, der kulturpolitischen Praxis keinen Vorschlag gemacht zu haben, vgl. Dirk Baecker: Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik? In: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2013. Bonn: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. 2014, S. 29–42. S. 29–42. Die Lektüre eignet sich auch als Vorbereitung auf die des hier in Rede stehenden Buches. – Vgl. auch schon Dirk Baecker: Wozu Kultur? Berlin: Kadmos 2000, ²2001 und neuerdings Dirk Baecker: Kulturkalkül. Berlin: Merve 2014, worin Baeckers Unterscheidungslogik einmal mehr zur Strukturierung des Gegenstandsbereichs ›Kultur‹ und zur Präzisierung des »operativen Kerns« genutzt wird, der sich »aus der Einheit der Differenz verschiedener Ansätze zur Formulierung eines Kulturbegriffs ergibt.« (S. 9); ähnlich verfährt Baecker mit dem Begriff ›Kommunikation‹ in Dirk Baecker: Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.   zurück