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Gespräche aus nächster Ferne - Der Briefwechsel zwischen Hermann Bahr und der Familie Hofmannsthal

  • Elsbeth Dangel-Pelloquin (Hg.): Hugo und Gerty von Hofmannsthal, Hermann Bahr. Briefwechsel 1891-1934. 2 Bände. Göttingen: Wallstein 2013. 1007 S. 40 s/w Abb. Leinen. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 978-3-8353-1217-3.

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Wer aus eigener Anschauung die vielen Meter an Briefbänden kennt, die Hugo von Hofmannsthal mit seinen diversen Briefpartnern in germanistischen Bibliotheken füllt, der reibt sich angesichts dieser verspäteten Erstausgabe zunächst einmal die Augen. Was? Der Briefwechsel mit Hermann Bahr war bislang noch gar nicht darunter? Ausgerechnet dieses schriftliche Gespräch zwischen den beiden Protagonisten des Jungen Wien fehlt? Elsbeth Dangel-Pelloquin hat mit ihrer zweibändigen Ausgabe eine bedeutende Lücke gefüllt. Mehr als das, sie hat durch die Berücksichtigung der Briefwechsel von Hofmannsthals Familie, insbesondere jener seiner Frau Gerty (geborene Schlesinger) mit Bahr eine kleine Geschichte des Privaten mit Dokumenten unterfüttert, aus deren Blickwinkel das besondere Verhältnis der gesamten Familie Hofmannsthal zu dem Literaten, Journalisten und Privatmann Hermann Bahr in ein nachbarschaftliches Licht gerückt wird. Neben den 425 Briefen zwischen Hofmannsthal und Bahr, von denen bislang nur ein kleiner Teil veröffentlicht worden war, enthält die Sammlung 204 bislang unveröffentlichte Briefe zwischen Gerty von Hofmannsthal und Bahr sowie 42 Briefe von anderen Familienmitgliedern mit Bahr oder den Hofmannsthals (vgl. Bd. 2, S. 479). Am Ende einer langen Editionsgeschichte, an deren Anfang jene 31 Briefe von Hofmannsthal an Bahr stehen, die sein Schwiegersohn Heinrich Zimmer in den Sammelbänden der Briefe 1890-1901 (1935) und Briefe 1900-1909 (1937) herausgegeben hatte, bekommen wir nun ein nach aktuellen Editionsstandards zusammengetragenes ›Wohlfühlpaket‹ präsentiert, das die Leserschaft nicht nur durch seine elegante äußere Aufmachung der beiden mit Lesebändchen versehenen Leinenbände im Schuber, sondern auch durch seinen reichhaltigen Inhalt für sich einnimmt. Während der erste Band die Briefe und eine ganze Reihe repräsentativer Fotografien und Karikaturen beinhaltet, hat der zweite Band neben einem editorischen Bericht, einer Vielzahl an Erläuterungen und einem informativen Nachwort auch eine Sammlung der Dokumente von Bahr über Hofmannsthal und von Hofmannsthal über Bahr aufzuwarten. Für jeden, der sich in Zukunft mit dem Verhältnis der beiden Autoren oder mit den legendenumwobenen Anfängen des Jungen Wien beschäftigt, wird der Band dadurch zum unverzichtbaren Begleiter.

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Eineinhalb Gespräche oder Von reitenden Mexikanern und ihren erstochenen Geliebten

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Der Auftakt des Briefwechsels ist Programm: Während sich der eine (Bahr) dafür entschuldigt, keine Zeit zu haben, weil er von der Familie entdeckt und versklavt werde, schlägt der andere (Hofmannsthal) in der etwas überdrehten Manier eines jungen, verspielten Pudels 1 rhetorische Purzelbäume und schwingt sich – zur Demonstration seines jugendlichen Dichtergenies – zu einer ganzen Reihe von aberwitzigen Assoziationen und Momentaufnahmen auf, die beste Hoffnungen auf wirklich große Literatur machen. Der Brief, den Hofmannsthal am 2. Juli 1891 in »Wien, im Schatten« schreibt, enthält vom unmittelbaren Lebensgenuss beim Eis- und Kirschenessen mindestens ebenso viel wie vom »complizierte[n] Sehen und Suggerierenwollen«, das man im Gegensatz zu »Versatzstücke[n]« wie »eine[r] Kaiserkrone oder ein[em] Monocle« nicht abnehmen kann. »Aber, ich weiß was ich unsrer Bekanntschaft schuldig bin, ich habe wenigstens einmal mit einem Mexicaner gesprochen, mit einem wirklichen der täglich ein wildes Pferd fängt und seine Geliebten alle zweiten Tag ersticht.. [sic]« (vgl. Bd. 1, S. 8.) Für jemanden, der seit dem letzten Treffen vor drei Wochen nicht »weiter als bis Klosterneuburg« (Bd. 1, S. 7) gekommen ist, finden die wahren Abenteuer nicht in äußeren Ereignissen, sondern im Kopf statt. Hofmannsthals Angewohnheit, die »Zeit durchs Mikroskop« zu sehen, oder sein Wunsch, eine »Bacteriologie der Seele« (Bd. 1, S. 8) zu gründen, lesen sich wie eine geglückte Demonstration von Bahrs Thesen zur Überwindung des Naturalismus aus jenem gleichnamigen Buch, in dem doch so viel weniger »drin« steht als in dem Menschen Bahr, obwohl es die ungeheuerliche Summe von »4 Mark 50 kostet, was sehr viel ist« (Bd. 1, S. 7). »Denn das ist auch eine Entdeckung von mir: mag von 2 Menschen jeder noch so viele Gespräche haben, beide zusammen haben sie doch nur eines; höchstens eineinhalb. Wir beide haben vielleicht eineinhalb.« (Bd. 1, S. 8.)

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Was die Inhalte angeht, die in ihren gemeinsamen Gesprächen, auch den hier vorliegenden schriftlichen, enthalten sind, so sind die Themen doch weitaus mannigfaltiger. Am Anfang steht das ehrgeizige Projekt einer Überwindung des Bestehenden, des Altehrwürdigen und Althergebrachten. Hofmannsthals erster Brief an Bahr, der schon 1935 den Weg in die erste Ausgabe ausgewählter Briefe gefunden hatte, 2 enthält zahlreiche Ingredienzien, die den jungen, den unbekümmerten Dichter im Kreis seiner durchwegs älteren Schriftstellerkollegen ganz zu Recht zum Aushängeschild des Jungen Wien machen. Ob es nun in einem Brief an den acht Jahre älteren Richard Beer-Hofmann um die Beschreibung einer Szene geht, in der ein Kirschkuchen essender Hugo von Hofmannsthal einem alten tauben Feldmarschall-Leutnant erklären soll, um welche Gattung Buch es sich bei seiner Lektüre, Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches, handelt, 3 oder ob es in einem Brief an den nur fünf Jahre älteren Felix Salten, zu diesem Zeitpunkt »Redacteur eines Familienblattes«, gilt, nach dem Vorbild des »seligen Kaiser Claudius« „das griechische Alphabet um 2 neue verdrehte Buchstaben“ zu bereichern, 4 der junge Hofmannsthal gefällt sich ungemein in der Selbstinszenierung als ebenso belesener wie respektloser Lausejunge. Die exaltierte Stimmung der frühen Briefe Hofmannsthals erleichterte es späteren Lesern, sie als Teil einer Imagekampagne zu begreifen, bei der Hermann Bahr als dem Erfinder und Promotor der Marke des Jungen Wien eine zentrale Bedeutung zukam. Was am frühen Hofmannsthal fasziniert, ist die verspielte, scheinbare Leichtigkeit seiner rhetorischen Figuren. »Sein Geist ›schwitzt‹ nicht. Er hat das Fröhliche, das Leichte, das Tänzerische, von dem die Sehnsucht Nietzsche’s [sic!] träumte. Was er berührt, wird Anmut, Lust und Schönheit.« (Bd. 2, S. 781) So heißt es bei Hermann Bahr in seinem ersten ebenso legendären wie legendenbegründenden Artikel aus dem Jahr 1894 über den jungen androgynen Loris, den Bahr »als Legitimation zu Sekt und Liebe« (Bd. 2, S. 781) empfindet. Und dass Bahr seinerseits schon von den ersten beiden Sätzen eines gewissen Loris angetan ist, der 1891 »eine lange Recension« (Bd. 2, S. 776) über ihn und sein Theaterstück Die Mutter verfasst hat, wundert auch nicht, wenn man sich die wenige Seiten zuvor aufgeführten Zeilen in Erinnerung ruft, mit denen diese alles in allem nicht ganz unkritische Rezension beginnt: »Hermann Bahr ist der lebendigste unter uns allen. Keine Prophetennatur, keine Flamme und auch kein Schwert. Er predigt nicht. Er hat sogar aufgehört zu suchen. – Er lebt sein Leben, wie man ein entdecktes, erworbenes, theuer erkauftes genießt; er trinkt es, langsam schlürfend, vollbewußt.« (Bd. 2, S. 771.)

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Die gegenseitigen Lobhudeleien sind fast zu schön, um wahr zu sein, kein Wunder, dass der von Bahr und Hofmannsthal gleichermaßen befeuerte Gründungsmythos des Jungen Wien nicht ganz unhinterfragt bleiben durfte. In einem anonymen Typoskript eines Briefes aus dem Nachlass Rudolf Hirschs, der an ein »[h]ochverehrtes gnädiges Fräulein« gerichtet und auf den 20. Oktober 1930 datiert ist, wird die erste Begegnung der beiden unter Berufung auf ein angebliches Gespräch mit Hofmannsthal sogar vollkommen anders dargestellt:

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Ich habe den Aufsatz von Bahr verfügbar und sende ihn Ihnen. Wie sehr er mit der Wirklichkeit nicht stimmt, hat mir Hofmannsthal einmal nicht ohne Lachen auseinander gesetzt. Er sagte: es ist in Bahrs Angaben ja nicht ein Wort wahr, alles war anders. Wir hatten uns nicht im Caféhaus kennen gelernt, wie er es beschreibt. Wir kannten uns aus der Redaktion der ›Modernen Rundschau‹, wo wir vereinbarten, daß ich über die ›Mütter‹ [sic!] schreiben sollte: er wußte es lang vorher. Und mich für einen Typus a [sic!] la Villers zu halten, muß ihm vorher nicht gut möglich gewesen sein, denn er kannte Villers nicht, erst ich machte ihn auf ihn aufmerksam und lieh ihm das Buch…. [sic!] Was soll man dazu sagen? Ich war ganz verblüfft. Wozu die Komödie? (Bd. 2, S. 878.)
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Auch wenn der anschließende Kommentar zu diesem nur in einer Fußnote wiedergegebenen Brief zahlreiche Widersprüche dieser vermeintlichen Gegendarstellung Hofmannsthals aufdeckt, der Keim des Zweifels ist gesät. Deutlich bleibt allein, dass (Selbst-)Inszenierung und wechselseitige Bespiegelung wesentliche Grundelemente der Beziehung zwischen Hofmannsthal und Bahr sind: Aus dem Blickwinkel Hofmannsthals beginnt diese Beziehung mit dem Enthusiasmus junger Liebender, die bei jeder Trennung mit dem Versprechen auseinander gehen: »Fortsetzung folgt« (Bd. 1, S. 9). Und sie endet mit dem nachträglichen Befund eines mysteriösen vollkommenen Unverständnisses, wie Hofmannsthal es in einem Brief vom 26. Februar 1918 dem merkwürdigen Idol seiner späten Jahre, Rudolf Pannwitz, gegenüber betont (vgl. Bd. 2, S. 871f.). In einem Brief an Leopold von Andrian vom 27. November 1927 bemerkt Hofmannsthal abschließend sogar: »Über Bahr habe ich seit kurzer Zeit eine ganz bestimmte Meinung: nämlich daß er geistig nicht normal ist.« (Bd. 2, S. 873.)

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Was dazwischenliegt, sind Episoden einer sonderbaren Männerfreundschaft, deren kommunikativer Antrieb – aus der historischen Entfernung betrachtet – in anfangs eher sympathischen und schließlich immer kritischeren Akten des wechselseitigen Missverstehens und Missdeutens liegt. Was am Anfang fasziniert und beinahe den Anschein einer tief empfundenen Seelenverwandtschaft erweckt, führt schließlich zu Gleichgültigkeit und Beziehungslosigkeit. Zwei Männer, die ganz in ihre Arbeit vernarrt und versunken sind, geben vor, sich für den Menschen zu interessieren, und müssen im Modus des gegenseitigen Vorwurfs schließlich bemerken, dass keiner von ihnen je dazu imstande war, wirklich auf den anderen einzugehen. Am Ende kann sich keiner von beiden verstanden fühlen. Einer Tagebuchnotiz Josef Redlichs zufolge wirft Hofmannsthal schon 1917 Bahr vor, »nie ein wirkliches Erlebnis« gehabt zu haben (vgl. Bd. 2, S. 902). Bahr revanchiert sich dafür mit der glorifizierenden Festlegung von Hofmannsthals literarischer Leistung auf sein Frühwerk, die diesen »in späteren Jahren tief verstimmte« (Bd. 2, S. 878). In seinem 1923 erschienenen Selbstbildnis versteigt sich Bahr sogar zu der Bemerkung, dass er sich zuweilen dabei ertappt habe, Hofmannsthal »nicht verzeihen« zu können, »daß er nicht mit zwanzig Jahren starb; er wäre dann die schönste Gestalt der Weltliteratur« (Bd. 2, S. 823).

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Das Junge Wien, der Erste Weltkrieg und eine Frau namens Gerty

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Der Briefwechsel Hermann Bahrs mit Hugo von Hofmannsthal und seinem persönlichen Umfeld weist zwei Phasen intensiven Austauschs auf. In der ersten Phase zwischen 1891 und 1904 stehen neben zahlreichen privaten Begegnungen im Elternhaus Hofmannsthals und in Rodaun die Aktivitäten rund um die journalistische und künstlerische Etablierung des Jungen Wien im Vordergrund. Die zweite Phase zwischen 1914 und 1918 reicht vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zu den beiderseitigen Bemühungen um eine Neustrukturierung des Wiener Burgtheaters unmittelbar nach dem Krieg.

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Das Verhältnis Hofmannsthals zu Bahr ist von Anfang an von einer merkwürdigen Gemengelage aus Nähe und Ferne bestimmt. Hermann Bahr, der in späteren Jahren immer wieder darauf verweisen wird, dass Hugo von Hofmannsthal ein wesentlicher Beweggrund für ihn war, nach Wien zu ziehen (vgl. Bd. 2, S. 823), wohnt »vom November 1892 bis Mai 1894« zur Untermiete in Hofmannsthals Elternhaus in der Wiener Salesianergasse 12. In seinen 1897 erschienenen Roman Theater (1897) baut er dieses Domizil sogar als Schauplatz ein. 5 Dichterfreund Hofmannsthal bleibt dabei zwar als Figur ausgespart, mit dem bestimmenden Thema des Romans, der Problematik von Kunst und Leben, wird dennoch ein Bezug zu dessen Werk hergestellt. 6 Anfang der 1890er Jahre ist das Verhältnis der beiden so innig, dass Bahr sich bei seinen literarischen Projekten von Hofmannsthal beraten lässt. In ihren Briefen diskutieren sie geeignete Namen für das Figureninventar von Bahrs Neben der Liebe (vgl. Bd. 1, S. 16f.), Hofmannsthal entwirft sämtliche Damengarderoben für den 1893 erschienenen Roman (vgl. Bd. 2, S. 883) und gibt auch sonst allerlei Benimmregeln vor: »sitzend oder liegend lesen (revue des deux mondes liest man sitzend, cœur de femme liegend)« (Bd. 1, S. 16). Seine eindeutige Ablehnung in Hinblick auf die Namengebung einer Figur durch Hofmannsthal relativiert Bahr mit der Anrede, »Lieber, nein, Schatzerl« (Bd. 1, S. 17). Der Ton der frühen Briefe ist vertraulich, ja zuweilen überschwänglich. Hofmannsthal bringt Bahr in Tuchfühlung mit der gehobenen Wiener Gesellschaft, Bahr revanchiert sich mit Lobeshymnen auf das junge Genie, besorgt Theaterkarten für die ganze Familie und unterstützt Hofmannsthal zur Beruhigung seiner Eltern im Jahr 1900 beim Ansinnen, eine Universitätslaufbahn einzuschlagen. »So ein Dichter« – bemerkt der Vater in seinem Dankesschreiben an den »[l]iebe[n] Freund« Bahr – »ist ein sehr schwer zu spielendes Instrument.« (Bd. 1, S. 181.) Wie die folgende Selbsteinschätzung aus einem Brief an Hermann Bahr vom 9. Oktober 1900 belegt, hat Hofmannsthal recht eigenwillige Vorstellungen von einer möglichen universitären Laufbahn als Romanist:

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Ich stehe der Sache mit ziemlicher Lust gegenüber und bin in jedem Fall bereit, mit Hartl auf dieser Basis mündlich zu verhandeln. Nur freilich verstehe ich eigentlich vom Fach selbst so gut wie nichts. Aber wenn man mich lesen ließe was ich will, so ließe sich ja immer an romanische Producte anknüpfen. Nur könnte ich doch von gewissen Bedingungen nicht abgehen: Dass längstens nach einem Jahr eine nennenswerte Besoldung einträte, und dass man mir die sogenannte Habilitationsschrift entweder völlig erließe oder sich mit einer nicht sehr umfangreichen, ganz von meinem Geschmack begnügte. (Bd. 1, S. 182 [Hervorhebung im Original].)
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Dass Hofmannsthal sich von dem Projekt einer universitären Laufbahn letztlich verabschiedete, obwohl er sogar eine Habilitation über Victor Hugo anfertigte, dürfte für alle Beteiligten das Beste gewesen sein.

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Eine Schlüsselrolle in der persönlichen Beziehung zwischen Bahr und Hofmannsthal nimmt Gerty Schlesinger ein, die beide unabhängig voneinander vollkommen für sich einnimmt. Die spätere Frau Hugo von Hofmannsthals hatte Bahr 1897 unabhängig von diesem auf einem Fahrradausflug von Landro nach Cortina d’Ampezzo kennengelernt. Bahr ist von diesem ersten gemeinsamen Erlebnis mit der 17jährigen Gerty so beeindruckt, dass er sich auch in seinen späteren Briefen immer wieder an diese Urszene ihrer Freundschaft erinnern wird. Nach dem Umzug Bahrs in sein von Joseph Maria Olbrich in Ober St. Veit errichtetes Haus sind die Hofmannsthals auch in Rodaun seine »nächsten Nachbarn« (vgl. Bd. 2, S. 898). Mit Gerty tauscht er nicht nur allerlei Privates aus, man schenkt und leiht sich Fotografien, er diskutiert mit ihr – hinter dem Rücken Hofmannsthals, aber in stillem Einverständnis mit diesem – auch ernstere sprachphilosophische Thematiken, wie seine ausführliche negative Einschätzung Fritz Mauthners belegt, die er in einem Brief vom 7. Februar 1904 offenbar im Kontext der »Wort- und Begriffsbildung« von Gertys kleinen Kindern Christiane und Franz einfließen lässt:

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[…] wie dumm doch dieser unangenehm gescheite Herr Mauthner im Grund ist. (Ich lasse Hugo sagen, ich hab den ersten Band jetzt ganz und genau gelesen und finde: Mauthner = Nordau. Wie dieser in den »Conventionellen Lügen« wahre, auch seit der historischen Schule bekannte, nur noch nicht auf der Gasse herumlaufende Dinge über die Bedingtheit der sittlichen Empfindungen usw so unter die Leute geschrieen hat, daß diese erschrecken, jene durch die Übertreibung unwahr wurden, das Buch aber fünf Jahre später glücklich vergessen war. Es ist bei Mauthner kein einziger halbwegs neuer Gedanke. Und alles ist durch Gewaltsamkeit denaturiert. Wie er ja durchaus den Vortrag eines von einer fixen Idee Besessenen hat. In dem kleinen Büchel Landauers stehen die Sachen viel klarer und es steht mehr drin als in dem ganzen ersten Band … Übrigens wäre, über die Sprache gut zu schreiben, wenn man nicht weiß, was Sprache ist,∗ 7 und nicht schreiben kann, auch wirklich ein Kunststück). (Bd. 1, S. 241.)
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Gerty ist für Bahr jedoch weit mehr als nur ein Sprachrohr zu ihrem Mann. 1904, drei Jahre nach Gertys Hochzeit mit Hugo von Hofmannsthal, steht Bahr ihr – wie es scheint – so nahe, dass es beinahe zu einer Affäre kommt. Danach zieht sich Bahr offenbar zurück und wird ihr, wie sie in einem Brief vom Januar 1905 schreibt, zunehmend fremd (Bd. 1, S. 296). Das Verhältnis kühlt zwischenzeitlich ab, wobei Bahrs Beziehung zu seiner zweiten Frau, der Sängerin Anna Bahr-Mildenburg, die er im Herbst 1904 kennenlernt und nach seiner Scheidung 1909 heiratet, eine entscheidende Rolle spielt. An seiner prinzipiellen, wenn auch von diesem Zeitpunkt an distanzierteren Wertschätzung Gertys ändert das über die Jahre nichts. Dass Gerty für beide Männer die Projektionsfläche einer idealen Frau bzw. Ehefrau abgab, in der sich die Schwächen ihrer wirklichen und potentiellen Ehemänner widerspiegeln, findet auch in den Werken und Briefen der beiden seinen Niederschlag. Noch im März 1922 schreibt Hofmannsthal an den »liebe[n] Hermann«, dass er dessen »Aufsatz über Feuchtersleben […] mit dem größten Vergnügen gelesen« habe, und kommt dabei en passant auch auf eine indirekte Charakterisierung seiner eigenen Person über den Vergleich mit seiner Frau zu sprechen: »Vom Dargestellten ist mir besonders das nahe gegangen, was sich auf die Ehe dieses Menschen bezieht. Aber erschrocken bin ich über die Stelle wo Sie sagen dass man immer das heirathen will, was einem selber fehlt. Denn wenn mir alles fehlt, was Gerty hat – dann bin ich ja ein Scheusal.« (Bd. 1, S. 411.)

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Während des Ersten Weltkriegs kommt es im Rahmen der beiderseitigen Beteiligung an propagandistischen Publikationen zu einer erneuten Annäherung. Ausgangspunkt ist Hermann Bahrs Gruß an Hofmannsthal, der am 21.8.1914 im Berliner Tageblatt und am 26.8. im Neuen Wiener Journal erschienen war (vgl. Bd. 2, S. 692) und fälschlicherweise den Eindruck erweckt hatte, dass Hofmannsthal im Felde stehe. Hofmannsthal wird auf den Artikel durch Gerty aufmerksam gemacht und kann Bahrs Irrtum erst am 9. September 1914 berichtigen (vgl. Bd. 1, S. 318). Der Ärger über diesen »alberne[n] Gruß« ist bei Kriegsgegnern wie Arthur Schnitzler oder Karl Kraus groß (vgl. Bd. 2, S. 903). »Die Welt ist jetzt so, dass man zwölf Ohren und sechs Köpfe haben müsste, um alles in sich aufzunehmen, im Westen u. im Osten« (Bd. 1, S. 344), schreibt Hofmannsthal am 24. Oktober 1915 aus Brüssel. Tatsächlich packt Hofmannsthal im Rahmen seiner kriegspublizistischen Tätigkeit eine Unmenge an Projekten an, an denen er auch seinen alten Freund Hermann Bahr partizipieren lässt. Bahr kritisiert den geplanten, aber nie realisierten Fotoband der Ehrenstätten Österreichs »nicht nur wegen des Titels, sondern auch wegen der Naivität, mit der Hofmannsthal die nicht deutschsprachigen Völker der Monarchie miteinbeziehen wollte, ohne deren jahrlange Unterdrückung zu berücksichtigen« (Bd. 2, S. 904). 8 Andererseits stößt sich Hofmannsthal an »Bahrs unduldsamem Katholizismus«, weshalb Bahrs Bändchen über Rudigier, das ursprünglich in Hofmannsthals Reihe der Österreichischen Bibliothek erscheinen sollte, »schließlich in einem katholischen Verlag« landet (vgl. Bd. 2, S. 904). Bahr ist der Meinung, dass die furchtbare Gefahr für Österreich von Hofmannsthal nicht gesehen werde (vgl. Bd. 1, S. 356) und vertritt die feste Überzeugung, dass »jede Politik, die nicht slawisch und katholisch ist, […] unösterreichisch« sei (vgl. Bd. 1, S. 357). Ab 1917 ist der Krieg für beide kein Thema mehr. Ihre gemeinsamen, wenn auch unterschiedlich profilierten Hoffnungen um den Erhalt des Vielvölkerstaates der österreichisch-ungarischen Monarchie bleiben zwar unerfüllt, in ihren Schriften lebt ein Teil des alten Österreichs jedoch auch nach 1918 weiter. Hofmannsthal, der den sich anbahnenden Untergang einer antiquierten Gesellschaftsordnung verdrängt, beschreibt im August 1917 einem erstaunten »liebe[n] Hermann« den kreativen Schub dieser Zeit in einem Brief aus Bad Aussee:

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Ich war im Mai fast nicht im Stande, das auf mich Eindringende von Gedanken – oder wie nenne ich es besser: Aufforderungen, Ahnungen, Verbindungen zu bewältigen. Es rührt dann ein Windhauch hundert gespannte Saiten an, hunderterlei ist bei mir angefangen, angelegt, ist innere Möglichkeit, Plan, untermalte Leinwand, anticipiertes Gedicht, politische Ahnung, Roman, Comödie, Aphorisma, Briefe, Relationen. Es ist ungeheuer schwer, alles zusammen u. alles auseinander zu halten. Vor 15 Jahren fragten Sie mich einmal vorwurfsvoll. »Wie wollen Sie arbeiten, wie soll etwas crystallisieren, wenn Sie so vielerlei einlassen, heute den Borchardt, morgen jenen andern?« – Doch muss ich mich so verhalten, es ist meine Natur, das Beschwerliche u. Beglückende meiner Aufgabe: auch hat mir das Geschick gegeben, dass die Farbe auf der Leinwand nicht eintrocknet, der Thon nicht verhärtet, das Gedächtnis nicht versagt, die Bezüge sich nicht verwirren; ich arbeite, wenn ich bei mir selbst bin, mit einer Praesenz des Vielfältigen, die ich kaum erklären kann. (Bd. 1, S. 364f.)
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Noch fast ein Jahr später, Mitte Juni 1918, zählt Hofmannsthal Bahr eine Unzahl von Projekten auf, darunter die Erzählung der Frau ohne Schatten, der Andreas-Roman, Der Schwierige oder Das Leben ein Traum, und gibt abschließend noch einmal einen Einblick in seine dichterische Mentalität:

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Rechnen Sie dazu, dass ich die sonderbarste Art von dichterischer Mentalität habe, nie wissen zu können, welche dieser Arbeiten plötzlich sich meiner Phantasie bemächtigen wird, dass entweder gar nichts da ist, oder eigentlich alles auf einmal, ein unberechenbarer Wind alle Glöckchen dieses Glockenspiels in Bewegung setzt; dass mich die öffentliche Sorge zuweilen auf Monate völlig lähmen kann, bis mich die geheime innere Kraft und am meisten die Landschaft wieder aufrichtet – so verstehen Sie sofort, dass ich mich – bei dem ewigen Herumzerren der Mitwelt, die nichts will als einen verwirren und verletzen – ständig namenlos zusammennehmen muss, um mich vor Zerrüttung zu bewahren. Ich glaube dass Gerty das einzige Wesen auf der Welt ist, die mir ermöglicht, mit diesem Wust von innerer Occupation zugleich ein halbwegs mögliches Leben gegen die Außenwelt hin zu führen. (Bd. 1, S. 377f.)
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Eine Gerty von Hofmannsthal gewidmete Ausgabe von Hermann Bahrs 1917 (1918) ist schließlich auch der Auslöser für eine briefliche Lobeshymne auf ihren Autor, die man so aus der Feder Hugo von Hofmannsthals und seiner Familienmitglieder gar nicht erwartet hätte:

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Es ist ein wunderbares Buch, es spiegelt mir den Reichtum Ihres Geistes wie eigentlich noch nie eines Ihrer Bücher, Ihre anderen Bücher, worunter ich ja Marsyas und das Buch über Wien [ü. d. Z.: auch das über den Expressionismus] besonders liebte und bewunderte, waren Darstellungen, in diesem neuen wunderbar absichtslosen Buch stellen Sie nicht dar, sondern ihr Geist stellt darin sich selber dar, so ist die Milde und Magie Ihres Gesprächs, die ich in Ihren Büchern immer vermisste, auf einmal gegeben, und auch die Allseitigkeit und Gerechtigkeit Ihres Geistes, in dem eines das andere ins Gleichgewicht und ins richtige Licht setzt. Das Buch ist wie ein langes Gespräch mit Ihnen, freilich können Sie nicht daneben hier noch viele Briefe schreiben! Ich wollte ich hätte gleich den nächsten Band, und so fort, von dieser ungezwungenen Niederschrift Ihres Denkens, in dem Erkennen und Lieben einander nicht loslassen wollen. Das Buch hat mir, wie mit einem leisen starken Geist, wunderbar geholfen, Sie verstehen. (Bd. 1, S. 380.)
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Obwohl sich alle Mitglieder der Familie Hofmannsthal im Grunde darüber einig sind, dass sie den Schriftsteller Bahr ablehnen und den Menschen Bahr gleichzeitig umwerben (vgl. Bd. 2, S. 900), findet Hofmannsthal hier noch einmal versöhnliche Worte für beide, den ›ganzen Menschen‹ Bahr als Gesprächspartner und als Schriftsteller. Nach dem Krieg kommen sich Bahr und Hofmannsthal bei ihren gemeinsamen Bemühungen um das Wiener Burgtheater wieder in die Quere. Danach flaut der Kontakt abermals ab. Die Ambivalenzen in Hinblick auf die gegenseitige Einschätzung als Dichter und als Mensch bleiben zwar bestehen, an Bahrs Wertschätzung des Schwierigen, der »zum Heulen schön« sei (vgl. Bd. 2, S. 906), oder an der Würdigung von Hofmannsthals Wirken als reflektiertem Dichter, der »selber Anwalt seiner Dichtung, Deuter seiner Sendung« war (vgl. Bd. 2, S. 907), ändert aber auch das eine oder andere Ressentiment nichts.

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An interessanten Details wird der neugierige Leser immer wieder Neues und Erstaunliches finden. Durch die Berücksichtigung der Briefe der gesamten Familie bekommen wir Einblicke in das Familienleben der Hofmannsthals, das Verhältnis zu ihrer Verwandtschaft, zu ihren Kindern oder existenzielle Einblicke in den Umgang mit dem Tod der Eltern und der nächsten Freunde. Als Bahr nur wenige Wochen nach Hofmannsthals Tod um die Zusendung seiner Briefe gebeten wird, schreibt er dessen Tochter Christiane Zimmer am 6. August 1929: »Seit dem Verlust meiner Eltern hat mich nichts so tief ins Herz getroffen als Hugos Entfernung.« (Bd. 1, S. 429.) Der Abgesang des Briefwechsels steht ganz im Zeichen des Todes. Am 13. März 1932 stirbt Gertys Bruder Hans Schlesinger als Pater Antonin Schlesinger in der Heilanstalt für Gemüts- und Nervenkranke im Salzburger Stadtteil Lehen (Bd. 2, S. 762). Der zu diesem Zeitpunkt fast blinde und taube Hermann Bahr meldet sich auf dessen Todesanzeige erst am 9. Mai 1932 aus München (Bd. 1, S. 435). Bahr selbst stirbt am 15. Januar 1934. »Mit Ihnen tief trauernd um den lieben Freund bin trostlos auch ihn verloren zu haben« (Bd. 1, S. 436), telegrafiert eine sichtlich betroffene Gerty von Hofmannsthal am 18. Januar 1934 aus Zell am See an die Witwe. Mit dem von Gerty und Christiane von Hofmannsthal betriebenen Projekt einer Veröffentlichung der frühen Lorisbriefe an Bahr (vgl. Bd. 1, S. 437) schließt sich der Kreis des Briefwechsels, der durch den Rückverweis auf diese vitalste Ära ihrer gemeinsamen Beziehung am Ende ganz im Zeichen einer beschworenen Wiedergeburt des Fin de siècle steht.

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Was lange währt, wird endlich gut

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Schon Anfang August 1929, zwei Wochen nach Hofmannsthals Tod, machen sich seine Frau Gerty und seine Tochter Christiane an die Publikation seiner Korrespondenz. Hofmannsthals Briefe an Bahr sichtet Gerty schon Anfang September 1929 gemeinsam mit ihren eigenen (vgl. Bd. 2, S. 908). 84 Jahre hat die Editionsgeschichte des Briefwechsels gedauert. Diesen langen Reifeprozess merkt man dem nun vorliegenden Doppelband in einem durchwegs positiven Sinne an. Was lange währt, wird endlich gut. Die vielen Mütter und Väter der Unternehmung, die die Herausgeberin des Bandes in ihrer charmanten Dankesrede am Ende des Bandes anführt, haben der Publikation sichtlich gut getan. Der im Wallstein-Verlag zu einem außerordentlich günstigen Preisleistungsverhältnis erschienene Doppelband lässt für den an dieser Epoche interessierten Leser kaum Wünsche offen. Waren die Zeugnisse und Briefe Hofmannsthals und Bahrs bisher nur vereinzelt und verstreut aufzufinden, so versammelt die Edition nun wirklich alles, was das Verhältnis von Hermann Bahr nicht nur zu Hugo von Hofmannsthal jun., sondern zu seiner gesamten Familie ausmacht. Mit seiner kulturwissenschaftlich profilierten Öffnung in Richtung auf das Private, das nicht nur die federführenden Männer, sondern auch deren Frauen und sogar deren Eltern und Kinder mit einschließt, liefert der Briefwechsel nicht nur Germanisten und Historikern wichtige Hintergrundinformationen zu Schlüsselfiguren der Wiener Moderne, er unterfüttert das Verhältnis der beiden Autoren auch für interessierte Laien mit neuem, ›lebendigem Leben‹.

 
 

Anmerkungen

Zur Assoziation von Hofmannsthals Pseudonym Loris mit einem Pudel, »aber freilich ein[em] vornehme[n], sehr gekämmte[n] Pudel« vgl. Bahrs Artikel Loris (Bd.2, S. 776-781; hier S. 776f.).   zurück
Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Briefe 1 (1890 – 1901). Berlin: S. Fischer 1935, S. 18f.   zurück
Vgl. ebd., S. 20f.   zurück
Vgl. ebd., S. 27. Zu den medienästhetischen Konsequenzen dieser übermütigen Buchstabenspielerei vgl. Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg 2003, S. 211-221.   zurück
Vgl. Konrad Heumann: Salesianergasse. Die Verwandlung der Welt. In: Wilhelm Hemecker, Konrad Heumann (Hg.): Hofmannsthal. Orte. 20 biographische Erkundungen. In Zusammenarbeit mit Claudia Bamberg. Wien: Zsolnay 2014, S. 13-31; hier: S. 13.   zurück
Vgl. ebd., S. 15.   zurück
∗ »[am oberen Rand] * schon deswegen nicht, weil er sie ja nur social sieht, als Verkehrsmittel, nie individuell, als Mittel zur Ableitung innerer Erregungen oder vielmehr als eben diese Ableitung selbst.« (Bd. 1, S. 241.)   zurück
Zu den Details dieses Projekts vgl. bereits Martin Stern (Hg.): Hofmannsthal und Böhmen. Der Briefwechsel mit Jaroslav Kvapil und das Projekt der Ehrenstätten Österreichs. In: Hofmannsthal-Blätter 1 (Herbst 1968), S. 3-30.   zurück