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Im Steinbruch der Dichtung. Hugo von Hofmannsthals Bibliothek

  • Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bibliothek. Hg. von Ellen Ritter in Zusammenarbeit mit Dalia Bukauskaite und Konrad Heumann. (Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe XL) Frankfurt am Main: S. Fischer 2011. 864 S. Leinen. EUR (D) 214,00.
    ISBN: 978-3-10-731541-3.
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Die Auflistung und Katalogisierung einer Bibliothek ist auf den ersten Blick eine langweilige Angelegenheit. So viel bibliographische Mühe auch in der jahrzehntelangen Arbeit der Herausgeber stecken mag, am Ende bleibt eine relativ unattraktive Liste. Die darin enthaltenen toten Buchstaben können nur von wenigen Eingeweihten mit Leben erfüllt werden. Seit in der literaturwissenschaftlichen Praxis der ›Autor‹ als allmächtige Schöpfungsinstanz von einer zunehmend dekonstruierenden Theorie entthront und der Schwerpunkt auf die Lektüren der LeserInnen verlegt wurde, ist auch das positivistische Betätigungsfeld einer hermeneutischen Einflussforschung geschrumpft. Vor dem Hintergrund der banalen Feststellung, dass alle literarischen Texte – so originell sie im Einzelnen sein mögen – bloß Zitate aus dem unerschöpflichen Pool älterer Texte und einer mehr oder weniger allgemein verständlichen Sprache sind, haftet den philologischen Bemühungen um den Nachweis eindeutiger oder gar ursprünglicher literarischer Quellen der Makel einer veralteten Methodik an. Dass diese beiden Vorurteile in Hinblick auf die Langweiligkeit von Listen und die Antiquiertheit der Methode im konkreten Fall nur bedingt gelten und am Ende vielleicht sogar vollkommen revidiert werden müssen, das sollen die folgenden Überlegungen zeigen, die sich auch als Würdigung einer großartigen Herausgeberleistung lesen lassen.

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Von archäologischen Abenteuern, lebensnotwendigen Büchersendungen und mythologischen Fabelwesen

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Archäologische Abenteurer, die sich wie Indiana Jones oder Lara Croft schon einmal in die verstaubten Höhlen verlassener Bibliotheken vorgegraben haben, um dort so manchem Schatz auf die Spur zu kommen, werden die vorliegende Publikation mit ganz anderen Augen betrachten. Sie kennen die schweißtreibenden Bemühungen endloser Archivrecherchen, die sich hinter der ganzen ›Action‹ von verschwörungstheoretisch aufgemotzten Hollywoodfilmen verbergen und die eine Filmkamera selten länger als einige kurze dramatische Augenblicke einfängt. Sie wissen um den notwendigen Entdeckerernst und die sportliche Ausdauer, die solche Abenteuer des Geistes erst ermöglichen. Wer sich selbst (wie der Autor der vorliegenden Rezension) vor fast zwei Jahrzehnten ins Frankfurter Hofmannsthal-Archiv aufgemacht hat, nur um in tagelanger Diktierarbeit (ausgerüstet mit einem aufnahmefähigen Sony-Walkman) die Zettelkästen von Hofmannsthals Bibliothek aufzunehmen, um sie dann nach wochenlanger Transkriptionsarbeit wenigstens in Ansätzen zur Hand zu haben, der kann erahnen, wie viel Mühe und Umsicht in der nun so wohl geordneten und umfassenden Veröffentlichung von Hofmannsthals Bibliothek stecken.

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Was den Leser erwartet, ist nicht der lückenlose Bestand aller Bücher, die Zeit seines Lebens irgendwann einmal in Hofmannsthals Besitz waren, vielmehr gibt der vorliegende Katalog eine Momentaufnahme dessen wieder, was in der Nachlassbibliothek nach seinem Tod 1929 enthalten war und die Wirren der Zeit überlebt hat. Es fehlen also nicht nur jene Bände, die Hofmannsthal immer wieder selbst in schöner Regelmäßigkeit als »überflüssige Titel« ausgesondert hat oder die nach seinem Tod von der Familie undokumentiert an Dritte weitergegeben wurden, sondern auch jener nicht ganz unbeträchtliche Teil der Sammlung, der im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen ist. 1 Andererseits dokumentiert das Verzeichnis wiederum »viele Titel, bei denen die Herkunft aus Hofmannsthals Bibliothek nicht eindeutig belegt ist« (S. V), wobei der Aspekt der Provenienz jedoch seitens der Herausgeber unter Berücksichtigung selbst definierter starker und schwacher Kriterien kommentiert wird (vgl. S. VIII). »In Einzelfällen werden auch annotierte Exemplare erfaßt, die Hofmannsthal später verschenkte […] oder die ihm nie gehört hatten […]. Verzeichnet werden Bücher, Mappenwerke, Zeitschriften und Sonderdrucke. Ausrisse aus Zeitungen und Zeitschriften mit Werken Hofmannsthals werden, obgleich sie sich im Nachlaß erhalten haben, nicht erfaßt.« (S. V.)

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Die Auseinandersetzung mit der bibliographischen ›Mind Map‹ eines Poeta doctus wie Hofmannsthal hat – wie es sich bei aller Akribie auch im vorliegenden Fall zeigt – immer etwas Konstruiertes und Lückenhaftes. Auch wenn das Unternehmen den Anschein alphanumerischer Abgeschlossenheit und Vollständigkeit erweckt, wie sie in der Auseinandersetzung mit Hofmannsthals Bücherwelt bislang unerreichbar war, so liefert auch dieses von A bis Z geordnete Konvolut an Daten nur einen (freilich sehr reichhaltigen) Ausschnitt aus Hofmannsthals dynamischem Lektüre-Universum. Aus vielen seiner Briefwechsel weiß man, dass Bücher sowohl im persönlichen wie auch im postalischen Verkehr immer wieder den Besitzer wechseln. Besonders aussagekräftig dafür ist Hofmannsthals Briefwechsel mit Ottonie von Degenfeld, den Ellen Ritter bereits Ende der 1990er Jahre so kenntnisreich dokumentiert hat. »Bücher seien« – das konstatierte schon Ritter – für Hofmannsthal »kein Geschenk«. Sie haben den Status von notwendigen Gebrauchsartikeln, ja Lebensmitteln, wenn er die persönlichen Skrupel der reichbeschenkten Ottonie von Degenfeld mit Sätzen wie dem folgenden auszuräumen versucht: »Man ›schenkt‹ shawls, Reisekoffer, Perlenschnüre, Möpse, Parfümflacons, aber man gibt jemandem Bücher, die er braucht, damit sie bei ihm sind.« 2 Und Hofmannsthal – ähnlich wie sein journalistischer Widerpart Karl Kraus ein Vielfraß und Meisterkoch in literarischen Dingen – gibt derlei ›Lebensmittel‹ mit vollen Händen aus. Eine nicht ganz unerhebliche Anzahl von Büchern aus Hofmannsthals ursprünglichem Besitz kann deshalb noch in anderen Bibliotheken oder auf dem antiquarischen Markt zu finden sein. Ein Beispiel dafür, eine Ausgabe von Oscar Wildes Intentions (London 1891), die sich heute in der Bibliothek Hermann Bahrs im Bestand der Salzburger Universitätsbibliothek befindet, wird mit den darin enthaltenen Annotationen Hofmannsthals von den Herausgebern der Kritischen Ausgabe selbst als Nachtrag veröffentlicht (vgl. S. 732).

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Der Austausch von Büchern ist ebenso Teil der schriftlichen Korrespondenz wie der Austausch von Fotografien, die man sich manchmal auch nur für eine gewisse Zeit leiht, um weiter in persönlichem Kontakt zu bleiben. 3 Dass Bücher in diesem Sinne nicht nur der Anlass von Gesprächen und Briefen werden können, sondern zuweilen auf dem Weg des wechselseitigen Austausches auch zum Anlass eines stummen ideellen Gesprächs werden, lässt sich hier abermals am Beispiel von Hofmannsthal und Ottonie von Degenfeld und ihrer gemeinsamen Goethe- und Novalis-Lektüren belegen. »Neulich«, so schreibt Hofmannsthal am 19. November 1910 an Ottonie von Degenfeld, »habe ich in Ihrem Goethe gelesen, im fünfzehnten Band, es war mir ein bißchen, als läsen wir zusammen, und da Sie Striche nicht ungern haben, so habe ich nach Herzenslust Striche gemacht. (BW Degenfeld 47).« (S. 237.) Nur wenig später, im Dezember 1910, kommentiert Hofmannsthal die Zusendung seiner Novalis-Ausgabe an Ottonie von Degenfeld mit den Worten: »Über den Novalis kann ich nicht schreiben. Es ist der meinige, den ich Ihnen schicke, mit meinen Strichen, den neuen, den Ihrigen habe ich behalten […] (BW Degenfeld 51).« (S. 520.) Die Übersendung von Büchern und ganzen Buchausgaben mit eigenen Anstreichungen wird im Umgang mit Ottonie von Degenfeld, zu deren Genesung Hofmannsthal sogar eine heilsame Lektürekur entwickelt, zu einem eigenwilligen Mittel konspirierender Verständigung. 4 Vergleichbare lektürebasierte, wenn auch weitaus unpersönlichere Gemeinschaftserfahrungen können die LeserInnen des Bibliothek-Bandes machen, wenn sie sich die angeführten Ausgaben beschaffen, darin die von Hofmannsthal bevorzugten Stellen nachlesen und daraus ihre Schlüsse ziehen.

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Gemessen am Verhältnis von Lebenszeit und produktivem Output mag Hofmannsthal vielen seiner heutigen Leser als literarische Krake erscheinen, die nicht nur über mehrere schreibbegabte Arme, sondern auch über das für jeden einzelnen Arm erforderliche eigene Gehirn verfügt haben muss, um neben der eigenen literarischen Produktion auch noch die erstaunlichen Mengen an Korrespondenz bewältigen zu können. Hinsichtlich der Lesepensen des literalen Kommunikationskraken Hofmannsthal wäre bestimmt auch das eine oder andere zusätzliche Augenpaar ganz praktisch gewesen. Für heutige ›Lesemuffel‹ ist es jedenfalls kaum vorstellbar, dass man so viel buchstäbliches Wissen in so kurzer Zeit verarbeiten und dabei auch noch ein von zahllosen persönlichen Gesprächen, Reisen und eigenen kreativen Projekten erfülltes Leben führen kann. Durch seine früh bewiesene Kennerschaft der Weltliteratur und seine professionelle Leserschaft erweist sich Hofmannsthal von Anfang an als ein Autor, dessen Texte sich aus unendlich vielen Quellen speisen.

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Das Wissen von und über die Literatur(en) erschöpft sich bei Hofmannsthal nicht in einem bloßen Zitatenreigen, in dem leblose Daten und Informationen akkumuliert werden. Es bezeugt Prozesse einer unablässigen kreativen Aneignung und Weiterverarbeitung von literarischen Traditionen, die der Leser-Autor Hofmannsthal den eigenen persönlichen Anforderungen und den Anforderungen seiner Zeit gemäß überformt und adaptiert. Der vorgelegte Überblick über Hofmannsthals Bibliothek ermöglicht augenblickshafte Einblicke in einen kreativen Lektüreprozess, bei dem – ganz im Sinne von Hofmannsthals eigener Poetologie – die Grenzen zwischen Leser und Autor permanent ins Fließen geraten, ja verschwimmen. »Denn ein Buch ist zur größeren Hälfte des Lesers Werk, wie ein Theater des Zuschauers.« So heißt es diesbezüglich vom Vor-Leser Hofmannsthal an alle seine Nach-Leser in der Vorrede zu seinem Deutschen Lesebuch (1922 und 1926). 5

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Die AutorInnen und LeserInnen der Moderne wie der Postmoderne wissen, was damit gemeint ist. In Anbetracht zunehmend hermetischer Privatliteraturen und immer genialerer, immer individuellerer und damit auch immer schwerer verständlicher Poetologien werden verständige Leser zu notwendigen Verbündeten von Autoren. Hofmannsthal zeigt selbst, wie das gehen kann. Im Spiegel seiner Bibliothek erscheint er mehr noch als in seinen Werken als zwitterhaftes Fabelwesen einer ›dekonstruktivistischen Mythologie‹, halb als Leser, halb schon wieder als Autor. In diesem dekonstruktiv-konstruktiven Sinne werden wir beim Durchblättern Zeugen einer Leser-Autorschaft, die sich nicht mit dem Nachempfinden und Verstehenwollen des Gelesenen zufrieden gibt, sondern immer selbst nachschaffen, umgruppieren, umdeuten, missverstehen, weiterdenken, weiterschreiben und erfinden will. Die Bibliothek erscheint, aus dieser Perspektive betrachtet, als Steinbruch für die eigenen Werke und eröffnet so ein unendliches archäologisches Betätigungsfeld, das noch Generationen von Hofmannsthal-Philologen mit unterschiedlichsten Herangehensweisen beschäftigen wird.

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Vom Auslesen fremder und Auslegen eigener Lesespuren

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Nicht dass einer alles wisse kann verlangt werden
sondern dass er indem er um eines wisse
auch um alles andere wisse

Hugo von Hofmannsthal, Buch der Freunde (1922)

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Die Fülle des Erhaltenen kann und soll hier nicht wiedergegeben werden. Was wäre langweiliger als die Liste einer Liste, noch dazu, wo beide Listen immer nur eine Auswahl von nicht mehr rekonstruierbaren längeren Listen wären und deshalb niemals vollständig sein könnten. Dem vorangestellten Sinnspruch gemäß, der sich in Hofmannsthals Bibliothek in einem Exemplar von Herbert Silberers Probleme[n] der Mystik und ihrer Symbolik (1914) auf Seite 283 finden lässt und der später Eingang in das Buch der Freunde finden sollte (vgl. S. 635 ff. u. 808), werden im Folgenden nur einige, wenige Blitzlichter gesetzt. Auf diese Weise können zwar nicht alle Inhalte der umfangreichen Sammlung gleichwertig beleuchtet werden, der etwas genauere Blick auf den einen oder anderen Höhepunkt soll aber das darin enthaltene Potential verdeutlichen und die Neugier der Leser und Leserinnen schüren. Die Methode ist freilich nicht neu. Hofmannsthal selbst wendet sie in seinen Reden und Aufsätzen immer dann an, wenn er Gefahr läuft, als Dichter vor der unerfassbaren Fülle der Erscheinungen kapitulieren zu müssen. 6

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Wer sich einen kurzen kommentierten Überblick über den Bestand von Hofmannsthals Bibliothek verschaffen möchte, kann dazu immer noch auf Michael Hamburgers äußerst informativen Bericht vom November 1960 zurückgreifen, in dem viele der auffälligsten Bände und eine ganze Reihe von wichtigen Annotationen bereits aufgearbeitet wurden. Hamburger resümiert Werke deutscher und ausländischer Zeitgenossen unter besonderer Berücksichtigung der zahlreichen Widmungsexemplare und gibt einen Überblick über die von Hofmannsthal rezipierte psychologische, politische und sonstige Literatur. Neben allerlei Aphoristischem fasst er Hofmannsthals Bearbeitungen, Vermerke und Kritiken zusammen. Hofmannsthals Aufzeichnungen zu eigenen Dichtungen werden ebenso wiedergegeben wie Aufzeichnungen in den Büchern von Paul Claudel oder die aufschlussreichen Notizen zum Schwierigen, die sich mit einer Ausnahme allesamt in den erhaltenen Kierkegaard-Bänden der Bibliothek finden lassen. 7 Während Hamburger in seinem Bericht noch von einem Bestand von ca. 2.400 Bänden spricht, die »im Jahre 1946 nach London« in die »Obhut Raimund von Hofmannsthals« geraten waren, 8 umfasst der vorliegende Bibliotheksband 2.874 Einträge. Nun, nach mehr als einem halben Jahrhundert, ist nicht nur alles, was Hofmannsthals Bücherwelt betrifft, systematischer, geordneter, vollständiger, es haben sich vor allem auch das grundsätzliche Verständnis für das Verhältnis des Autors zur literarischen Tradition und damit auch die Wertvorstellungen von Literatur geändert.

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Galt es bei Hamburger noch den häufig mit dem Vorwurf des Plagiats bedachten Autor Hofmannsthal dadurch in Schutz zu nehmen, dass man ihm als »Grundtendenz seines Wesens« zubilligte, »die eigene Originalität immer an schon Bestehendem zu prüfen«, 9 so ist die Unausweichlichkeit literarischer Bezugnahmen (mit oder ohne Absicht des Autors) heute längst kein Grund mehr für versteckte Hierarchisierungen, wie Hamburger sie zum Beispiel am Autoren-Terzett Shakespeare, Büchner, Hofmannsthal vornimmt:

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Die fast wortgetreue Wiedergabe, zum Beispiel der von Shakespeares Brutus an Lucius gerichteten Worte über den Schlaf in Oedipus und die Sphinx, kommt bei Hofmannsthal oft einer Art von Huldigung gleich; so lobte Hofmannsthal eben diese Stelle in dem Vortrag Shakespeares Könige und Große Herren aus derselben Zeit. Eine derartige Quelle ist nicht mit einem Einfluß gleichzusetzen; weniger große Dichter wie Georg Büchner haben Hofmannsthal viel entscheidender beeinflußt, indem sie in den Ton und Stil seiner Werke eingegangen sind, auch wo keine wörtlichen Entlehnungen aufweisbar sind; so im Andreas und der mit Andreas so nahe verwandten Erinnerung an Raoul Richter. 10
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Auch wenn es Hamburger hier vordergründig um die bedeutsame Differenzierung zwischen wörtlich zitierten Quellen einerseits und stilistischen Einflüssen andererseits geht, so schwingt in der Assoziation Hofmannsthals mit einem »weniger große[n] Dichter wie Georg Büchner« doch der unausgesprochene Vorwurf eines ganz entscheidenden Abstands der beiden zu einem Originalgenie wie William Shakespeare mit. Ein Jahr nach den Feierlichkeiten von Büchners 200. Geburtstag und in Anbetracht der heute mehr denn je diskutierten Frage, ob es den Autor William Shakespeare überhaupt gegeben habe, scheinen derartige Differenzierungen zumindest zweifelhaft. Vor dem Hintergrund jüngerer, respektloserer Auseinandersetzungen mit den Werken Shakespeares und deren Einbettung in den recht modern anmutenden Unterhaltungsbetrieb des elisabethanischen Theaters werden zwar nicht die Qualitäten der shakespeareschen Werke, wohl aber deren genaue Herkunft und deren unumschränkte Originalität in Zweifel gezogen.

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Hofmannsthal selbst bleibt bei allen vor allem in späteren Jahren aufkommenden Selbstzweifeln seinem grundsätzlichen Selbstverständnis als Dichter goetheischen Zuschnitts treu, wenn er – als früh gefeiertes literarisches Genie schon in jungen Jahren mit dem dafür nötigen Selbstbewusstsein ausgestattet – seine Lektüren für die Nachwelt mit weithin lesbaren Spuren wie Anstreichungen, Lesedaten und vor allem Notizen versieht. Genau diese ausgelegten Spuren sind es, denen die vorliegende Edition die höchste Aufmerksamkeit widmet. Neben zahlreichen, mehr oder weniger konkreten Lesedaten, die Monat, Jahr und manchmal sogar den Tag der Lektüre und Relektüre markieren, findet man in vielen der von Hofmannsthal gelesenen Bände neben Anstreichungen einzelner Textpassagen auch die eine oder andere kurze Randbemerkung oder ausführlichere Notizen mit zitierten wie eigenen Gedankengängen, wobei letztere nicht selten um ganz konkrete eigene Werke kreisen. Auf diese Weise lässt sich nicht nur ganz positivistisch nachweisen, welche Kapitel bzw. Passagen wann von Hofmannsthal einmal oder zum Teil auch mehrfach gelesen wurden, wir erfahren auch viel über Hofmannsthals persönliche Einschätzung des Gelesenen, sein Einverständnis, aber auch seinen Widerspruch.

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Arthur Schopenhauers Beobachtung, dass »[d]ie Armsäligkeit französischer Poesie […] hauptsächlich darauf [beruhe; Erg. HH], daß diese, ohne Metrum, auf den Reim allein beschränkt« sei, kanzelt der habilitierte Romanist Hofmannsthal nicht unberechtigt als »falsch« ab (vgl. S. 608). Einen durchwegs kritischen Ton schlagen auch die auf einem Notizzettel enthaltenen Anmerkungen zu einer vollständigen Neuausgabe von John Ruskins Sesame and Lilies (London 1893) an. Hier heisst es unter anderem zu Seite 165: »Hat Mr. Ruskin überhaupt eine Ahnung von dem Werdeprozeß einer großen Dichtung?« Und bezugnehmend auf ein offensichtlich wörtlich abgeschriebenes Zitat resümiert Hofmannsthal zu Seite 176: »All good work is essentially done without hesitation, without difficulty etc. Von wem u. seit wann? Wie merkwürdig d. jemand über Kunst schreibt u d Künstler so wenig kennt« (S. 580). Noch drastischer fällt ein Urteil aus, das man neben einem angestrichenen Satz aus Fritz Mauthners erstem Band der Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901) finden kann. Die Passage: »Der Flucher denkt nicht an Gott, der Poet hat keine Anschauung. Nur ein leiser Gefühlswert unterscheidet himmelschön von sehr schön.« wird von Hofmannsthal kurzerhand mit dem lapidaren Kommentar »idiotisch!« versehen (vgl. S. 459). 11

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Neben solchen eher seltenen emotionalen Ausbrüchen geben uns die verschiedenen Angaben zu Lesedaten und Leseorten immer wieder Einblick in Hofmannsthals Gewohnheiten als Leser. Manche Werke scheinen ihn sein ganzes Leben lang zu begleiten. Einzelne Kurzgeschichten und Artikel in einer englischsprachigen Werkausgabe Edgar Allan Poes aus dem Jahr 1899 findet man mit Lesedaten von September 1902 bis März 1928 übersät (vgl. S. 543 f.). Von der zehnbändigen Taschen-Ausgabe der Werke Friedrich Nietzsches, die 1906 im Leipziger Naumann-Verlag erschien, sind nur die Bände 2 und 7 mit Lesedaten versehen, die Bände 2, 3, 4, 7 und 8 enthalten nur ganz vereinzelte Anstreichungen, in den Bänden 2, 5 und 6 finden sich einige wenige Annotationen und Notizen. Am intensivsten scheint sich Hofmannsthal mit den Unzeitgemäßen Betrachtungen auseinandergesetzt zu haben. Im Fall von David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller finden sich insgesamt sogar vier unterschiedliche konkrete Lesedaten, die eine Lektüre und Relektüre des Textes in den Jahren 1892, 1913, 1915 und 1926 belegen (vgl. S. 513). Nestroys Zerrissenen liest er auf einem Ausflug vom Semmering am 19. August 1907 in Mürzzuschlag, Nestroys Umsonst steht am 23. Juni 1910 am Lido und im Juli 1925 in Rodaun auf dem Lektüreprogramm (vgl. S. 506). In einer Ausgabe von William James’ The Varieties of Religious Experience aus dem Jahr 1907 findet man neben unterschiedlichen Lesedaten und Leseorten am Beginn von Lecture III. The Reality of the Unseen sogar eine Reminiszenz an den eigenen Gesundheitszustand: »(las diese Capitel zuerst im November oder December 1908 als ich geistig u. körperlich krank war)« (S. 382). Und im ersten Winter des im August 1914 ausgebrochenen Ersten Weltkriegs notiert der vom Felddienst ins Hinterland versetzte 40jährige Autor nicht ganz ohne schlechtes Gewissen zu seiner Lektüre von Gottfried Kellers Mißbrauchten Liebesbriefe[n]: »Mit Freude wiedergelesen, auch in dieser Zeit. 6. XII 1914.« (Vgl. S. 397.)

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Da der erhaltene Buchbestand wie bereits erwähnt eine Momentaufnahme von Hofmannsthals Bibliothek zum Zeitpunkt seines überraschenden Todes im Jahr 1929 darstellt, ist es naheliegend, dass die darin enthaltenen Bände einen stärkeren Bezug zu seinem Spätwerk in den Nachkriegsjahren aufweisen. Aktualität und Brisanz spielen dabei eher eine untergeordnete Rolle. Von dem halben Dutzend bahnbrechender Bücher, die George Steiner in der Vorrede zu seiner deutschsprachigen Heidegger-Einführung 1989 aufzählt, weil sie als Reaktion auf die geistige Krise in Deutschland nach 1918 »anders waren als alles andere, was in der Geschichte des abendländischen Denkens und Fühlens zuvor produziert worden war«, 12 ist in Hofmannsthals Bibliothek kein einziges zu finden. Die von Steiner aufgezählten Bücher: Ernst Blochs Geist der Utopie (1918), Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918, 1922), die Ur-Fassung von Karl Barths Kommentar zum Römerbrief (1919), Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921), Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) oder gar Adolf Hitlers Mein Kampf (1925, 1927) 13 sucht man unter Hofmannsthals Büchern vergebens. Eine kleine Anekdote, die Christiane von Hofmannsthal im Zusammenhang mit einem Besuch Thomas Manns berichtet, erzählt nur, dass ihr Vater den Gast mit dem Urteil verblüfft habe, dass jemand wie Spengler, der den Untergang der Welt prophezeie und sich nicht aufhänge, sondern »ein Buch für 7 M. 50 darüber« schreibe, »eigentlich ein Schurke sei«. 14 Abgesehen von den schon seinerzeit anerkannten großen Autoren der Weltliteratur, unter denen Goethe auch in der Bibliothek gleich mit mehreren Werkausgaben eine Sonderrolle einnimmt (vgl. S. 234–250), hat Hofmannsthal – vor allem in Hinblick auf wissenschaftliche Werke – ein gewisses Faible für publizistische Außenseiter. Das, was sich heute als Mainstream der damaligen Zeit herauskristallisiert hat, mag fehlen. Dafür begegnet man Autoren wie Johann Jakob Bachofen (vgl. S. 32–38), Rudolf Kassner (vgl. S. 391–395) oder Rudolf Pannwitz (vgl. S. 525–528) und kann in deren heute oftmals vergessenen Werken so manche spannende Entdeckung machen.

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Neben vielem Vertrautem aus allen europäischen Zungen der Weltliteratur (Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Russisch) findet man zahlreiche exotische Lektüren, die Hofmannsthal sich und seiner Vorstellung vom eigenen Dichten zu eigen gemacht hat. Neben Schriften aus den Geltungsbereichen aller großen Weltreligionen ist die dreizehnbändige Insel-Ausgabe von Der Dom. Bücher deutscher Mystik ebenso in der Bibliothek zu finden wie die Schriften Laotses (vgl. S. 422 f. u. 718) oder jene von Konfuzius und Menzius (vgl. S. 409). Aus der fernöstlichen Reiseliteratur Lafcadio Hearns, insbesondere aus seinem Band Kokoro. Hints and echoes of Japanese inner life (1895), übernimmt Hofmannsthal The Idea of Preëxistence (S. 287 f.) für seine poetologische Selbstdeutung in Ad me ipsum. Aus Ferdinand Maacks Zweimal gestorben! Die Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem 18. Jahrhundert (Leipzig 1912), in dem sich auch zwei Zettel mit Aufzeichnungen zu Hofmannsthals Österreichischer Bibliothek finden, adaptiert er das allomatische Prinzip (vgl. S. 445) der wechselseitigen Erhöhung und Erniedrigung, das sich vor allem in Hofmannsthals reiferen Werken wie der Ariadne auf Naxos (1916) oder der Frau ohne Schatten (1919) im ebenfalls poetologisch deutbaren Prinzip der permanenten Umwandlung bzw. Verwandlung ausbuchstabiert. Die harmonische Vorstellung einer allgemeinen Seinsverbundenheit findet man auch in dem merkwürdigen Werk Welt-Eroberung durch Heldenliebe hervorgehoben, das der holländische Sozialreformer Frederik van Eeden gemeinsam mit Volker (d.i.: Erich Gutkind) 1911 bei Schuster & Löffler in deutscher Sprache herausgebracht hat. Das Buch, das vom negativen Einfluss der Technik (und des Geldes) auf die moderne Kultur ausgeht, 15 übt einen großen Einfluss auf Hofmannsthals Vorstellung der Persönlichkeit aus, wie er sie in seinen späten Trauerspieldichtungen thematisiert. 16 »Kein Ding kann sein ohne Individuum, kein Individuum ohne den höheren, allverwobenen Sinn der Persönlichkeit, keine Persönlichkeit ohne Gott, aber kein Gott ohne Welt.« 17 Dieses von Hofmannsthal hervorgehobene Zitat, das in der ausführlichen Auseinandersetzung Michael Hamburgers mit diesem Band ausgespart bleibt, 18 versieht er mit der Annotation »moi + univers« (vgl. zum Vorangehenden S. 188).

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Es gehört zu Hofmannsthals Selbstverständnis als Dichter, der sich selbst in den eigentlich philosophischen und philologischen Disziplinen oft als relativ unbedarft und ahnungslos darstellt, 19 dass wir als Leser immer wieder an sehr überraschenden und unerwarteten Stellen mit tiefschürfenden Bemerkungen und modernen poetologischen Einsichten konfrontiert werden, die wir eigentlich in der Retrospektive in ganz anderen konkreten Zusammenhängen und Kontexten erwartet hätten. Überlegungen zur symbolistischen Technik, zur Stimmungsvorbereitung oder zum Naturalismus findet man nicht in den Kontexten der einschlägigen Autoren und Theoretiker der literarischen Moderne, sondern zum Beispiel in den Gesammelten Schriften Otto Ludwigs (1813 – 1865). 20 Die Annotation »symbolist. Technik« bezieht sich hier nicht auf die avanciertesten Methoden Baudelaires oder Mallarmés, sondern auf folgende Passage aus einer Studie Ludwigs über den »verschiedene[n] Ton der Shakespearischen Stücke« und den »Charakter der Diktion«:

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Aber man versuche es, absichtlich einen Reflex eines solchen unaussprechlichen Gefühles in sich hervorzubringen, und man wird ein fieberisches Abarbeiten der Phantasie bemerken, ein wildes Umsichschlagen mit Bildern, die die gelähmte Aufmerksamkeit nur so unbestimmt fassen kann, wie riesige Wolkenschatten. Phantasie ist das eigentliche Werkzeug des Dichters; wenn der Mensch das Spiel der Phantasie, wie es Gedanken- und Gefühlsfolgen begleitet, fixieren könnte, so würde dies das unmittelbarste Gedicht geben. Etwas ähnliches thut Shakespeares Sprache im Dialoge. Gefühle darzustellen namentlich hat er kein andres Mittel als die Darstellung entsprechender Phantasiebilder und Nachahmung von Rhythmus und Ton der Gefühle im Mittel der Sprache. 21 (Vgl. S. 440.)
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Dass bei diesem »Spiel der Phantasie« der Dichter nur eine Kehrseite der Medaille darstellt und der Zuschauer bzw. der Leser eine mindestens ebenso große Rolle einnimmt, wird bezugnehmend auf eine Passage aus den Allgemeine[n] Kunstforderungen Ludwigs als generelles Defizit des Naturalismus betrachtet.

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Wenn wirklich die Produktion des Schönen und ihr Genuß Absicht und Zweck der Kunst ist, so muß dem Zuschauer auch vom Dichter die Ruhe gegönnt werden, die zum Bemerken und Genießen des Schönen nötig ist. Die Ruhe und Kühle, die innre Unbeteiligtheit führt dazu. Lyrische Vertiefung, rhetorische Steigerung, zu großer Wirklichkeitsschein heben diese Ruhe und Kühle vor allem auf; man enthalte sich ihrer, sonst singt man einem etwas vor und hält ihm die Ohren dabei zu. 22 (Vgl. S. 441. Hervorhebung im Original.)
[26] 

Hofmannsthal, für den die hier unter dem Blickwinkel der Ruhe und der Kontemplation abgehandelte Beteiligung des Zuschauers (respektive Lesers) am »Bemerken und Genießen des Schönen« als kreative Mitwirkung am Kunstwerk von Anfang an einen noch höheren Stellenwert einnimmt, kommentiert die letzte, unterstrichene Passage mit einer allgemeinen Kritik an einem allzu einseitigen Realismus wie folgt:

[27] 
[»realistische Kunst«.]
Naturalismus: man hat systematisch die Beziehung auf d. Zuhörer ausgeschaltet. (Vgl. S. 441.)
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Dass das Produzieren und Rezipieren von Kunst bei Hofmannsthal immer als ein sich wechselseitig befruchtender und im Wesentlichen diskursiver Prozess gedacht ist, dies wird nicht nur im Rahmen seiner Wiederholungslektüren der Werke anderer AutorInnen, sondern auch in der wiederholten Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk deutlich. Von seinen eigenen Werken schließlich, von denen wohl viele die Odyssee der Bibliothek während des Zweiten Weltkriegs nicht überstanden haben, sind dementsprechend jene am interessantesten, in denen Hofmannsthal noch einmal selbst den Stift zur Überarbeitung zückt. In der Regel handelt es sich dabei um Handexemplare, wie zum Beispiel die erste Fassung der Ariadne auf Naxos im Fürstner-Verlag (Paris, Berlin 1912), in der zuweilen auch ein »[n]icht mehr lesbarer Bleistifttext mit Tinte überschrieben« wird (vgl. S. 315 f.). Bei einer anderen Ausgabe des Bürgers als Edelmann, die 1918 ebenfalls im Berliner Fürstner-Verlag erschien, handelt es sich zwar auch um ein Handexemplar, in Hinblick auf die enthaltenen Streichungen ist »Hofmannsthals Urheberschaft der Bearbeitung« allerdings »nicht eindeutig« nachweisbar (vgl. S. 320). Von besonderem Interesse sind in diesem Kontext abgesehen von der 2. Auflage des Geretteten Venedigs, in der sich nur einige wenige Streichungen erhalten haben (vgl. S. 333 f.), vor allem ein Bühnenexemplar des Schwierigen aus dem Jahr 1921 (vgl. S. 348–357) sowie ein Handexemplar des Großen Salzburger Welttheaters aus dem Jahr 1925 (vgl. S. 346–348), in denen sich umfangreichere Korrekturen und vor allem Streichungen für konkrete Aufführungen befinden.

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Hofmannsthals Auseinandersetzung mit dramaturgischen Herausforderungen bleibt nicht auf seine eigenen Stücke beschränkt. Das in den Büchner-Ausgaben seiner Bibliothek erkennbare Interesse am Werk des früh Verstorbenen ist – wie man mittlerweile weiß – nicht nur Ausdruck für die strukturelle Affinität zwischen Büchners zitatreichem Schreibstil und Hofmannsthals konservativ-revolutionärem Umgang mit der literarischen Tradition. Es spiegelt auch Hofmannsthals aktive Rolle bei der Aufwertung Büchners als Autor modernen Zuschnitts wider, wie er sich am deutlichsten in Hofmannsthals mittlerweile entlarvter direkter Beteiligung an der vielbeachteten Uraufführung von Georg Büchners Woyzeck am Münchner Hoftheater, am 8. November 1913 zeigt. 23 Im zweiten Band der zweibändigen Ausgabe von Büchners Gesammelten Schriften, die Paul Landau 1909 im Berliner Cassirer-Verlag herausgegeben hat, finden sich ebenso umfangreiche Anstreichungen und Annotationen Hofmannsthals (vgl. S. 106–110) wie in den Dramatischen Werken Büchners aus dem Münchner Birk-Verlag 1912, die als Handexemplar von Hofmannsthal und Bühnenbildner Alfred Roller wohl beiden als gemeinsame Arbeitsgrundlage gedient haben (vgl. S. 110 f.).

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Mit Shakespeare, Büchner und Hofmannsthal werden drei historisch weit auseinanderliegende Kulminationspunkte für einen ebenso wirkungsvollen wie beziehungsvollen dichterischen Umgang mit Sprache sichtbar, der die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung vor ganz unterschiedliche Herausforderungen stellt. Während die konkreten Kontexte der Werke Shakespeares aufgrund der mangelhaften Quellenlage zum elisabethanischen Theater nur mühsam und oft fragmentarisch erarbeitet werden müssen, und selbst ein so gut untersuchter Autor wie Büchner seine Quellen nur preisgibt, wenn sie in erhaltenen Dokumenten genannt werden oder als direkte Zitate erkennbar sind, eröffnet ein Materialfundus wie die hier aufgearbeitete Bibliothek Hugo von Hofmannsthals ein nahezu unerschöpfliches Grabungsfeld für die archäologische Erschließung der unterschiedlichsten literarischen Bezüge.

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Die inneren Werte von Listen und Katalogen – Ein Fazit

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In unsern Worten liegt es drin,
So tritt des Bettlers Fuß den Kies,
Der eines Edelsteins Verlies.

Hugo von Hofmannsthal, Weltgeheimnis (1894)
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Die umfangreiche Anhäufung bibliografischer Angaben hat auf den ersten Blick die ebenso unsinnliche wie sinnlose Anmutung eines leblosen Haufens von Datengeröll. Der innere Reichtum des Unternehmens entfaltet sich erst, wenn man die von dem Band gelegten Fährten aufnimmt und in das bibliophile Innere von Hofmannsthals Bibliothek vordringt. Mit der vollständigen Angabe der annotierten Textpassagen und der in den Bänden enthaltenen Notizen ist freilich schon ein großer und bedeutender Teil des Schatzes gehoben. Die zahllosen Seitenangaben zu den ungezählten Anstreichungen Hofmannsthals geben dem Nachleser, der an speziellen Aspekten einzelner konkreter Werke interessiert ist, ihrerseits jedoch nur einen ungefähren Aufschluss über das Hervorgehobene. Dieses kann nur auf dem Weg der direkten Autopsie in Augenschein genommen werden. Für alle ambitionierten, neugierig gemachten ForscherInnen, die es wirklich ganz genau wissen wollen, was es denn mit Hofmannsthals Lektüre ganz bestimmter Werke und ganz konkreter Seiten und Passagen auf sich hat, spricht der vorgelegte Bibliothekskatalog die unwiderstehliche Einladung aus, sich bei den Originalen selbst zu erkundigen und noch etwas tiefer zu schürfen.

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Die zweite Einladung, die der Band – ohne es zu wollen – ausspricht, ist die nach einer illustrierten Folge- oder Begleitpublikation. Listen und Bibliothekskataloge gewinnen rasch auch für ein breiteres Lesepublikum an Attraktivität, wenn sie mehr oder weniger reichhaltig bebildert sind. Das haben erst kürzlich Publikationen wie Umberto Ecos Unendliche Liste (2009) bewiesen. 24 Mit viel kanadischem Humor und Sinn für Ironie gelang es Leonne Shapton in Form eines ebenfalls reich bebilderten Versteigerungskataloges die Geschichte einer gescheiterten Beziehung an den Leser zu bringen und das narrative Potential einer bloßen Aufzählung und Ausstellung von Gegenständen, Daten und Preisen unter Beweis zu stellen. 25 Noch näher an das moderne Kommunikationsmodell zwischen Buch und LeserIn angelehnt, wie es hier bereits am bibliophilen Gespräch zwischen Hugo von Hofmannsthal und Ottonie von Degenfeld vorexerziert wurde, ist der von J. J. Abrams konzipierte und von Doug Dorst geschriebene Roman S. (New York 2013). Im Mittelpunkt dieses bibliophilen Experiments steht der fiktive Roman Ship of Theseus, den ein ebenfalls fiktiver Autor namens V. M. Straka bereits 1949 veröffentlicht haben soll. Das im Stil eines alten, abgegriffenen Bibliotheksbandes gestaltete Buch enthält nicht nur die unterschiedlichsten fiktiven Dokumente, die als Lesezeichen zwischen die Seiten gelegt sind, es beinhaltet vor allem eine Unzahl von Randnotizen, in denen sich zwei ebenfalls fiktive Leser, Eric und Jennifer, über den Autor und das von ihm geschriebene Buch austauschen und dadurch miteinander ins Gespräch kommen. 26 Der »Augenmensch« und »Leser-Autor« Hofmannsthal hätte an derart konzeptionellen Erzählweisen, denen es auf spielerische Art und Weise gelingt, eine avantgardistische Materialästhetik mit der Lust am Geschichtenerzählen zu verknüpfen, bestimmt seine Freude gehabt.

[35] 

Von all dem sinnlichen Überfluss sowie vom medienästhetischen Mehrwert physischer Bücher und konkreter Handschriften ist die vorliegende Ausgabe der Bibliothek Hugo von Hofmannsthals weit entfernt. Dem nüchternen, ganz auf den gedruckten literarischen Text konzentrierten Konzept von Hofmannsthals Kritischer Gesamtausgabe entsprechend, das Ende der 1960er, Anfang der 1970er seine jahrzehntelang beibehaltene Façon erhielt, bleibt der Band vollkommen bilderlos. Während andere Gesamtausgaben wie jene zum freilich viel schmaleren Werk Franz Kafkas längst die Attraktivität und den ästhetischen Mehrwert der Materialität von Literatur entdeckt haben, bleibt das Unternehmen der Hofmannsthal-Ausgabe seinem alles in allem sehr gediegenen philologischen Gesamtkonzept treu, obwohl der »vorliegende Band« – laut Nachwort –»erst im Jahr 2001 im Zuge der Arbeiten an Hofmannsthals ›Aufzeichnungen‹ (SW XXXVIII/XXXIX) in den Editionsplan aufgenommen« wurde (vgl. S. 817).

[36] 

Ellen Ritter, die mit den Marginalien und Notizen den Kern jenes Bandes edierte, dessen offizielles Erscheinen sie leider nicht mehr erleben durfte, und ihren kenntnisreichen Mitherausgebern, Dalia Bukauskaitė und Konrad Heumann, kann man diesbezüglich keinen Vorwurf machen. Die ungeheure Kennerschaft des Herausgeberteams ermöglicht es dem Leser nicht nur, sich im übersichtlich gehaltenen abschließenden Teil der Erläuterungen so weit wie nur irgend möglich über die konkreten Kontexte der Lektüren und Notizen zu informieren. Problematische Provenienzen und fremde Handschriften werden ebenso identifiziert wie sogar Anstreichungen fremder Hand. Damit das, was hier in seiner nüchternen philologischen Formation vorliegt, noch etwas mehr von seinem wahren bibliophilen Glanz entfalten kann, wäre es jedoch wünschenswert, wenn man – unter Umständen in Form einer Ausstellung gemeinsam mit einem dazugehörigen Katalog des Freien Deutschen Hochstifts – eine Auswahl der hier im Geröll der Buchstaben verborgenen Edelsteine ans Licht der Öffentlichkeit bringen könnte.

[37] 

Wie eine solche, unmittelbar mit der Materialität der Texte operierende Spurenlese von Lesespuren aussehen könnte, hat ein 2011 im Auftrag des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek und der Wienbibliothek im Rathaus herausgegebener Band gezeigt. Als Leiter der Handschriftenabteilung des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main, in dessen direkter Obhut sich die Bibliothek Hofmannsthals heute befindet, zeichnet Konrad Heumann mit einem kleinen, aber feinen Beispiel philologischer Archäologie schon in diesem Band einen möglichen Weg für weitere Ausgrabungen und Entdeckungen vor. 27 Für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Leser und dem Autor Hugo von Hofmannsthal ist mit der alphanumerischen Erschließung der nachgelassenen Bibliothek auch in der vorliegenden Form bereits unendlich viel gewonnen. In den folgenden Jahrzehnten darf man gespannt sein, welche Preziosen die jüngere Hofmannsthal-Philologie mit ihren Methoden aus diesem Steinbruch der Dichtung noch zu Tage befördern wird.

 
 

Anmerkungen

Zur Hintergrundgeschichte der Bibliothek vgl. Michael Hamburger: Hofmannsthals Bibliothek. Ein Bericht. In: Euphorion 55 (1961), S. 15–76; hier: S. 18 f.   zurück
Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit Ottonie Gräfin Degenfeld und Julie Freifrau von Wendelstadt. Hg. von Marie Therese Miller-Degenfeld unter Mitwirkung von Eugene Weber. Eingel. von Theodora von der Mühl. Erw. und verb. Auflage. Frankfurt/Main: Fischer 1986, S. 186. [Hervorhebung im Original.] [Zit. nach: Ellen Ritter: Bücher als Lebenshilfe. Hofmannsthal und die Bibliothek der Gräfin Ottonie von Degenfeld-Schonburg in Hinterhör. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne, 6. Jg. (1998), S. 207–228; hier: S. 215.] Im Text zitiert als: BW Degenfeld.   zurück
Zur Fotografie als Leihgabe vgl. den kürzlich erschienenen Briefwechsel der Familie Hofmannsthal mit Hermann Bahr: Hugo und Gerty von Hofmannsthal – Hermann Bahr: Briefwechsel 1891–1934. Hg. u. kommentiert v. Elsbeth Dangel-Pelloquin. Band 1. Göttingen: Wallstein 2013, S. 160 f.   zurück
Vgl. Ritter: Bücher als Lebenshilfe (Anm. 2), S. 207–228. Zu den zitierten Briefpassagen vgl. hier: S. 221 f. und 218.   zurück
Hugo von Hofmannsthal: Vorrede. In: Ders. (Hg.): Deutsches Lesebuch. München: Bremer Presse 1922 und 1926, S. VI-XIV; hier: S. XIV.   zurück
Vgl. Heinz Hiebler: Kartografie der Moderne – Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung von Hofmannsthals Reden und Aufsätzen 2 (1902 – 1909). [Rez. zu:] Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band XXXIII: Reden und Aufsätze 2. Hg. v. Konrad Heumann und Ellen Ritter. Frankfurt/Main: S. Fischer 2009. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) Online: http://www.iaslonline.de/index.php?mode=list_new&medium=1&filter=4&sort=2&order=desc&pubdatum=2014&count=5. (Datum: 21.02.2012.)   zurück
Vgl. Hamburger: Hofmannsthals Bibliothek (Anm. 1).   zurück
Vgl. ebd., S. 18.   zurück
Vgl. ebd., S. 17.   zurück
10 
Vgl. ebd. [Hervorhebungen im Original.]   zurück
11 
Die kritische Einschätzung Fritz Mauthners im Umfeld Hugo von Hofmannsthals belegt ein kürzlich erschienener Brief, in dem sich Hermann Bahr im Februar 1904 Gerty von Hofmannsthal gegenüber ausführlich darüber auslässt, »wie dumm doch dieser unangenehm gescheite Herr Mauthner im Grund ist« (Hofmannsthal – Bahr: Briefwechsel 1891–1934, Band 1 (Anm. 3), S. 241). Kernpunkt der Kritik von Bahr ist ein uninspiriertes Verständnis von Sprache, die Mauthner »ja nur social sieht, als Verkehrsmittel, nie individuell, als Mittel zur Ableitung innerer Erregungen oder vielmehr als eben diese Ableitung selbst« (ebd.).   zurück
12 
George Steiner: Vorrede 1989. Heidegger, abermals. In: Ders.: Martin Heidegger. Eine Einführung. [Orig.: 1978.] Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München, Wien: Hanser 1989, S. 9–43; hier: S. 9.   zurück
13 
Vgl. ebd., S. 9 f.   zurück
14 
Vgl. Christiane von Hofmannsthal: Tagebücher und Briefe des Vaters an die Tochter. Hg. v. Maya Rauch u. Gerhard Schuster. Frankfurt/Main: Fischer 1991, S. 61.   zurück
15 
Das hervorgehobene Zitat »Nicht ›Wahrheit‹, sondern Technik ist das Ergebnis des wissenschaftlichen Geistes, und Technik hat unser Leben umgestaltet mit der Gewalt einer Elementarkatastrophe« kommentiert Hofmannsthal wie folgt: »Mit dieser Complexität Steigen der Macht des Geldes, als der Gottheit in der alles ausruht«. (Vgl. S. 187.)   zurück
16 
Vgl. dazu Ute Nicolaus: Souverän und Märtyrer. Hugo von Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung vor dem Hintergrund seiner politischen und ästhetischen Reflexionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 24–32.   zurück
17 
Frederik van Eeden, Volker [d.i.: Erich Gutkind]: Welt-Eroberung durch Helden-Liebe. Berlin, Leipzig: Schuster & Loeffler 1911, S. 96. [Zit. nach: S. 188.]   zurück
18 
Vgl. Hamburger: Hofmannsthals Bibliothek (Anm. 1), S. 32 ff.   zurück
19 
Vgl. dazu folgende Selbsteinschätzung im Kontext seiner Bemühungen um eine universitäre Laufbahn als Romanist aus einem Brief an Hermann Bahr vom 9. Oktober 1900 aus Lausanne: »Ich stehe der Sache mit ziemlicher Lust gegenüber und bin in jedem Fall bereit, mit Hartl auf dieser Basis mündlich zu verhandeln. Nur freilich verstehe ich eigentlich vom Fach selbst so gut wie nichts. Aber wenn man mich lesen ließe was ich will, so ließe sich ja immer an romanische Producte anknüpfen. Nur könnte ich doch von gewissen Bedingungen nicht abgehen: Dass längstens nach einem Jahr eine nennenswerte Besoldung einträte, und dass man mir die sogenannte Habilitationsschrift entweder völlig erließe oder sich mit einer nicht sehr umfangreichen, ganz von meinem Geschmack begnügte.« Hofmannsthal – Bahr: Briefwechsel 1891–1934, Band 1 (Anm. 3), S. 182. [Hervorhebung im Original.]   zurück
20 
Zur Bedeutung Otto Ludwigs im Kontext der Stimmungskunst des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Angelika Jacobs: Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal. Hamburg: Igel 2013, S. 172 f.   zurück
21 
Otto Ludwig: Der verschiedene Ton der Shakespearischen Stücke. Charakter der Diktion. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 5: Studien. Leipzig: Grunow 1891, S. 138.   zurück
22 
Otto Ludwig: Allgemeine Kunstforderungen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 6: Studien. Leipzig: Grunow 1891, S. 21.   zurück
23 
Vgl. dazu u. a. Briefe Hofmannsthals, Alfred Rollers und Eugen Kilians zur Uraufführung von Büchners ›Wozzeck‹ am Münchener Residenztheater, 1913. Mitgeteilt und kommentiert von Dietmar Goltschnigg. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne, 6. Jg. (1998), S. 117–127.   zurück
24 
Umberto Eco: Die unendliche Liste. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner. München: Hanser 2009.   zurück
25 
Leanne Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck. Sonntag, 14. Februar 2010, New York. Auktionshaus Strachan & Quinn. Berlin: Berlin 2010.   zurück
26 
Doug Dorst, J[effrey] J[acob] Abrams: S. New York: Mulholland Books 2013.   zurück
27 
Vgl. Konrad Heumann: »dicht an mich herantretend«. Hofmannsthal liest Emil Kuhs Hebbel-Biographie und denkt an Stefan George. In: Lesespuren – Spurenlesen oder Wie kommt die Handschrift ins Buch? Von sprechenden und stummen Annotationen. Mit 237 Abbildungen. Hg. im Auftrag des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek und der Wienbibliothek im Rathaus von Marcel Atze und Volker Kaukoreit unter Mitarbeit von Thomas Degener, Tanja Gausterer und Martin Wedl. Wien: Praesens 2011 (= Sichtungen. Archiv – Bibliothek – Literaturwissenschaft. 12./13. Jg.), S. 352–354.   zurück