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Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit biologischen Diskursen ist inzwischen zu einem regelechten Schwerpunkt des Faches geworden, wie etwa das im Jahr 2013 erschienene Handbuch Literatur und Wissen belegt.
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In diesem Feld hat auch der 2012 erschienene Sammelband Die biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnittpunkt von Erzählordnung und Wissensformation seinen Einsatz. Mit seiner Fokussierung auf die biologische Vorgeschichte des Menschen, die ihre eigene Vorgeschichte beispielsweise im 2005 herausgegebenen Sammelband Urmensch und Wissenschaften. Eine Bestandsaufnahme
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finden mag, widmet sich der Band zum einen der Frage nach dem Verhältnis von Literatur und biologischen Aussageformen und nimmt sich zum anderen ein erzähltheoretisches Problem zum Gegenstand, das die biologischen Wissenschaften wie die Literatur gleichermaßen betrifft: Denn der Rückgriff auf die unverfügbare Vorgeschichte des Menschen, ob in Hinsicht auf seine entwicklungsgeschichtliche Abstammung, die genealogische Herkunft oder die individuelle Biographie, erfolgt immer wieder im Modus der Narration.
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Diese Erzählungen folgen ihrerseits wissenschaftlichen Mustern, d.h. sie greifen auf Kategorien wie Vererbung, Evolution oder Genetik zurück. Im Fall der ›Vorgeschichte‹ teilen sich wissenschaftliche und literarische Erzählungen oft insbesondere den Modus kausaler Begründung. Die Herstellung einer solchen Kausalität, so der Einsatz des Bandes, ist aber häufig deshalb problematisch, da das Verhältnis von Deskriptivität und Normativität systematisch ungeklärt ist. Somit zielt der Band auf den naturalistischen Fehlschluss, demgemäß aus dem Sein, hier der biologischen Vorgeschichte, Normen und Legitimierungen sozialer, psychologischer oder ästhetischer Zustände abgeleitet werden. Damit versteht sich der Band auch als Kommentar zu aktuellen Debatten, denn die zwei Speicherorte »Gehirn und Gene« (S. 9) stellten derzeit in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussionen »nachgerade wahrheitsbildende Instanzen« dar (S. 10). Diese aktuellen Begründungen menschlichen Verhaltens will der Band historisch analysieren, so dass die Grundfrage der versammelten Aufsätze lautet:
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Wie wird seit dem Ende das 18. Jahrhunderts das »Biologische« als Wirkkraft einer Vorgeschichte des Menschen jeweils so konstruiert bzw. narrativiert, dass es, obwohl ein Vergangenes, zugleich als wirkmächtiger impact auf die Gegenwart verstanden werden kann? (S. 12)
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Mit ihrem Blick auf die Erzählbarkeit der »biologischen Vorgeschichte« und der Einbeziehung biologischer Aussageformen leistet der Band so auch einen Beitrag zum Problem des ›Anfangs‹.
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Die einzelnen Aufsätze sind chronologisch angeordnet, historisch spannen sie den Bogen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, was angesichts der selbstgestellten Grundfrage zwar konsequent ist, wegen der unterschiedlichen systematischen Zugänge jedoch in Schwerpunkten wohl übersichtlicher hätte angeordnet werden können, zumal sich nicht alle Beiträge gleichermaßen intensiv auf die geschilderte Problemstellung einlassen. So mag der Aufsatz von Hans Werner Ingensiep zu Kant, der in der »Vivification« eine Grundfigur in Kants Biografie und Werk ausmacht (S. 105), für die Kant-Forschung ein veritables Desiderat darstellen, schließt aber im Band selbst nur eher lose an die gemeinsame Grundfrage an.
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Geschichte und Systematik der Vorgeschichte
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Die ersten beiden Beiträge widmen sich historisch und systematisch der Kategorie der ›Vorgeschichte‹, weshalb sie hier etwas ausführlicher vorgestellt werden. Johannes F. Lehmann entwickelt in seinem Beitrag zur »historischen und systematischen Dimension« der Unterscheidung von Geschichte und Vorgeschichte die Grundkoordinaten des gesamten Bandes. In der Auseinandersetzung mit Schlözer (der den Begriff der Vorgeschichte als erster systematisch verwendet habe) und Schiller zeigt Lehmann auf, wie die Vorgeschichte in der Etablierung der Geschichte im Singular ausgeschlossen wird, wobei das Kriterium der fehlenden Schriftlichkeit zentral ist. Hinzu kommt Ende des 18. Jahrhunderts die organische Fassung der Vorgeschichte, d.h. die Kopplung von Vorgeschichte und Leben. Bei Herder gerät so die Metapher des wachsenden Baumes als Medium der Verknüpfung von Vorgeschichte und Geschichte an die Stelle einer »genauen Theorie der Speicherung und Übertragung« (S. 35). Zugleich wird gerade das ›Nicht-Wissen‹ zum zentralen Charakteristikum der die Vorgeschichte und Geschichte verbindenden Erzählgrammatik (S. 39). Wie Lehmann darlegt, wird so gerade dieses Nicht-Wissen um die Art und Weise der Speicherung und Übertragung des in der Vorgeschichte Erworbenen zum Einsatzpunkt unterschiedlicher Hypothesen. Neben die biologischen Übertragungsmedien treten nach Lehmann so magische, kulturelle und psychologische Medien, die allesamt ineinander übersetzbar seien (S. 43).
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Während Lehmann einen historisch-systematischen Überblick zur Vorgeschichte bietet, arbeitet Ralf Simon die Denkfigur der »Vorgeschichte« aus dem Werk Herders heraus. Dabei geht er von der Frage nach der Plausibilität der grundlegenden Unterscheidung von Argumentation und Narration, von Kausalität und narrativ gestaltetem Zeitschema aus (S. 50): Man könnte einerseits behaupten, alle Argumentation sei »kaschierte Narration«, alle Begründung nachträglich der Logik zugeschlagen. Dann wäre ›Vorgeschichte‹ ein Grundbegriff, der den Begriff der Kausalität fundiere. Andererseits könne man das Verhältnis umkehren, wenn zum Beispiel die Erzählung im Vorfeld der Begründung stehe, sich also irgendwann im Begrifflichen auflöse und die Erzählform ›Vorgeschichte‹ in die Begründungsform Argumentation überführt werde (S. 52).
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Simon geht dieser Problematik leider nicht weiter systematisch nach und lässt die Unterscheidung offen, dafür möchte er sie anhand von Herders Werk mit »einigen Reflexionsbestimmungen anreichern« (S. 53). Ergiebig ist hierfür zum Beispiel Herders Sprachursprungsschrift, denn um zu erklären, »wie und warum Sprache ein Mittel ist, Sozialität zu organisieren«, bietet Herder eine Reihe von Theorien an, die er narrativ als Vorgeschichten organisiert (S. 55). Wie Simon festhält, habe man häufig bemerkt, dass in Herders Werk die ›Vorgeschichte‹ eine »Leitfigur« sei, wenn auch unter anderen Begrifflichkeiten wie dem des Historismus oder der begrifflichen Analysis (S. 57) – womit sich freilich die Frage stellen ließe, worin denn nun der Mehrwert dieser Kategorie liegen könne, zumal Simon den Begriff der Vorgeschichte nur zweimal in Herders Werk findet (S. 74). Simon spricht denn auch von Herders »komplexe[n] Tiefennarrationen«, die nicht auf der Theorieebene manifest gemacht werden könnten (S. 74). Diese Tiefennarrationen korrespondieren mit Herders archäologischen Gedächtnisbegriff, denn nach Herder ist das Neue »das neu gedeutete Alte, genetisch betrachtet« (S. 63). An einer Reihe von Beispielen kann Simon denn auch Vorgeschichten ausmachen, so zum Beispiel in der Rückführung der fünf Sinne auf die Vorgeschichte eines synästhetischen sensorium commune, dem Unterlaufen linearer Geschichtsmodelle durch Vorgeschichten der »eingefalteten Voraussetzungsstrukturen« (S. 75) oder der Ausrede Adams und Evas, mit der Herder die Vorgeschichte des Menschen überhaupt etabliert (S. 69).
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Deutlich führen die beiden Artikel damit vor, dass das Verhältnis zwischen Vorgeschichte und Geschichte flexibel ist. Vorgeschichten können die Geschichte kausal begründen und vereinfachen, sie können zum Fehlschluss einer Begründung von Normen aus biologischen Voraussetzungen dienen, sie können aber auch bestehende Kategorien unterlaufen und unterminieren, und sie sind offen für unterschiedliche Erklärungsmodelle für die Beziehung zwischen Vorgeschichte und Geschichte. Es wird nicht überraschen, dass die Literatur gerade hier ihren Einsatz findet.
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Tiefenzeit und Evolution
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Eine neue, abgründige Dimension erhielt die Vorgeschichte des Menschen mit der Entdeckung der sogenannten Tiefenzeit, der Peter Schnyder in seinem Aufsatz »Paläontopoetologie. Zur Emergenz der Urgeschichte des Lebens« nachgeht. In Georges-Louis Leclerc de Buffons Epoques de la nature (1778) findet sich ebenso wie in Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen (1802) ein narratives Muster, gemäß dem die »Vorwelt« oder »Urzeit« radikal anders aussah als die heutige Welt und von Lebewesen bevölkert war, die inzwischen ausgestorben sind. Gerade deshalb muss die Vorgeschichte erzählt werden, weshalb George Cuvier in Honoré de Balzacs Roman La Peau de chagrin (1831) als größter Dichter des 19. Jahrhunderts gefeiert wird, der als Re-Creator aus »wenigen Knochen ›ganze Welten‹ habe ›wiedererstehen‹ lassen« (S. 121). Wie Schnyder aufzeigt, setzte die bildliche Darstellung menschlicher Urzeit und damit Vorgeschichte erst Mitte des 19. Jahrhunderts in diversen illustrierten »Urzeit-Reiseführern« ein, um zunächst zwischen Vorwelt und Jetztwelt eine klare Zäsur zu setzen. – Ein Verhältnis, das allerdings unter Rekurs auf das Werk Charles Lyells zunehmend in ein dynamisches Kontinuum übersetzt wurde, so dass sich, wie Schnyder darlegt, die Geschichte des Menschen erstmals auf die Urzeit hin öffnete und das Konzept der biologischen Ur- und Vorgeschichte des Menschen schließlich jene Form annehmen sollte, die noch in zeitgenössischen Texten nachwirkt (S. 131).
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Stefan Willers Artikel »Die Natur der Nachahmung. Imitation als Problem der Evolutionstheorie um 1870« schließt nicht nur im Band selbst, sondern auch thematisch an Schnyders Text an, geht es ihm doch gerade um die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Tier und Mensch, wenn er das Interesse der evolutionären Anthropologie an der Nachahmung als »Grundlage sozialer Interaktion« in den Blick nimmt (S. 135). Trotz der faktischen Gleichzeitigkeit von Affe und Mensch muss dabei der Affe als Vorgeschichte des Menschen angesetzt werden. Die noch bei Buffon typologisch gedachte Beziehung zwischen Tier und Mensch wird hier verzeitlicht und zu einer genealogischen Beziehung.
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Hier hätte sich auch der Beitrag von Ursula Renner zu Tier-Mensch-Verwandlungsgeschichten um 1900 einfügen lassen, der aufzeigt, wie in literarischen Texten, zum Beispiel in Hermann Bahrs Familiengeschichten, Franz Kafkas Die Verwandlung (1915) oder Johannes V. Jensens Kondignog (1909), die genealogische Beziehung Tier-Mensch in komplexe Erzählkonstruktionen überführt und verkompliziert werden. Stefan Willer wiederum zeigt anhand der Überlegungen des Afrikanisten Wilhelm Bleek zur Sprachentstehung auf, wie die evolutionstheoretisch unvermeidliche Rückführung der menschlichen Sprache in den Bereich des Animalischen ein »Unbehagen« an dieser Lehre auslöste, die zu neuen Grenzeinziehungen und damit Ausschlussmechanismen führte: Der »Hottentotte« war als Affe zu betrachten und damit der biologischen Vorgeschichte des Menschen zuzuordnen. Auch in Charles Darwins Schrift The Decent of Man (1871) findet sich die Ambivalenz der Nachahmung, zum einen erscheint sie als integrales Prinzip der Menschheitsentwicklung, zum anderen als prä-rationaler Gegensatz zur Vernunft. Allerdings zeigt sich bei Darwin auch die grundsätzliche epistemologische Schwierigkeit, wenn es um Ähnlichkeiten und Analogien in der Evolutionstheorie geht, wie Willer u.a. am Beispiel der Mimikry zeigt.
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Auch der Aufsatz »Primatographien« von Roland Borgards ist in diesem Zusammenhang zu nennen, geht es ihm in der Auseinandersetzung mit Michael Tomasello und Frans de Waal doch darum, dass und wie Primatologen »die biologische Vorgeschichte des Kulturwesens Mensch« erzählen (S. 364). Bei aller Differenz in der Argumentation macht Borgards im Strukturvergleich der zwei nicht nur primatographischen, sondern gewissermaßen autobiographischen Erzählungen (vgl. S. 365) ein wesentliches Charakteristikum von Vorgeschichten überhaupt aus: Dass nämlich Vorgeschichte und Geschichte zwar »stets in epistemisch heterogenen Räumen« spielen, (S. 364) ihr jeweiliger Abstand aber, ob »in der Form der narrativen Analepse« oder derjenigen der Parataxe, stets in die »nötige Balance zwischen Nähe und Distanz« überführt werden muss, um als Vorgeschichte überhaupt erzählbar zu sein (S. 376).
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Literarische Vorgeschichten
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Wie biologische Vorgeschichten in literarischen Texten verhandelt werden, untersucht eine Reihe von Texten: Maximilian Bergengruen zeigt auf, wie in Theodor Storms Erzählung Aquis submersus das Modell einer theologischen und einer biologischen Vorgeschichte enthalten sind, die zwei für sich genommen unvollständige Lesarten bieten und daher aufeinander angewiesen sind. Barbara Thums geht der Frage nach, wie in Theodor Fontanes Erzählungen Grete Minde und Irrungen, Wirrungen Ausnahmefälle erzählt und auf Vorgeschichten bezogen werden. Die 2011 gestorbene Literaturwissenschaftlerin Caroline Pross, der dieser Band gewidmet ist, untersucht die lebensphilosophisch begründete Disjunktion »zwischen biologischem Leben und kultureller Form« (S. 252) in Eduard von Keyserlings Modellbildung der Kulturgeschichte und seinem Roman Abendliche Häuser (1914). Harald Neumeyer widmet sich dem »äffischen Vorleben« von Franz Kafkas Rotpeter, und Armin Schäfer verfolgt die Auflösung des Modells einer kausalen Kopplung von Vorgeschichte und Geschichte in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu. Deutlich führen diese Beiträge vor, dass der Blick auf biologische Vorgeschichten nicht nur den Horizont des Verhältnisses von Literatur und Wissen aufspannt, sondern in seiner Fokussierung erlaubt, komplexe Erzählkonstruktionen historisch zu verorten und strukturell präzise herauszuarbeiten.
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Diese Produktivität findet sich auch wieder in Michael Niehaus Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Konzeption menschlicher Vorgeschichte: Insbesondere in der Analyse von Freuds letztem Werk, dem Mann Moses und die monotheistische Religion, zeigt Niehaus auf, wie Freud zwischen der Konzeption einer strukturell bzw. inhaltlich weitergegebenen »archaischen Erbschaft« schwankte und in ihrer Annahme »die paradoxe Erklärung dafür liefert, dass es – bezogen auf die menschliche Kulturentwicklung – die Unterscheidung von Geschichte und Vorgeschichte überhaupt gibt« (S. 323). Den prekären Einsatz der Vorgeschichte im Umgang mit der »zum informationsreichsten historischen Dokument« erklärten DNA-Sequenz (S. 378) beleuchtet im letzten Beitrag des Bandes Marianne Sommer und zeichnet die Wissensschafts- und Firmengeschichte unterschiedlicher genetischer Projekte nach. Gerade in der populär betriebenen Genetisierung macht Sommer den Hang zur »Mythologisierung und damit Naturalisierung von Geschichte« aus, die »häufig in biohistorischem Kitsch« münde (S. 390) und letztlich von einem Verlangen zeuge nach einer vermeintlich natürlichen und »in unseren Körpern eingeschriebenen Ordnung« (S. 391).
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Fazit
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Dem in seiner Fragestellung nicht unbedingt ›vorgeschichtslosen‹ Band gelingt mit der Verschränkung von historischer Epistemologie und Narratologie, von philosophischen, wissensgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Ansätzen ein materialreicher, origineller und produktiver Zugriff auf die »biologische Vorgeschichte« des Menschen, womit nicht zuletzt auch aktuelle Debatten Tiefenschärfe gewinnen. Dabei erweist sich die Frage nach den Erzähllogiken und -strukturen der Vorgeschichte, die dem Menschen unverfügbar ist und ihn gleichwohl konstituiert, als ein wichtiges Instrument wissensgeschichtlicher Forschung selbst, fundiert es doch natur- und populärwissenschaftliche Texte ebenso wie literarische Werke.
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Neben einer klareren Strukturierung des Bandes hätte man sich allenfalls noch einen Beitrag gewünscht, der sich dezidiert und systematisch mit der in der Einleitung erwähnten Problematik von Deskriptivität und Normativität beschäftigt hätte. Immerhin dies bleibt der Nach- und Folgegeschichte dieses facettenreichen Sammelbandes vorbehalten.
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