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Der Meister des 'natürlichen' Briefs

Zum Abschluss der Edition von Gellerts Korrespondenz

  • John F. Reynolds (Hg.): C. F. Gellerts Briefwechsel. Band V (1767-1769). Berlin: Walter de Gruyter 2013. 601 S. Leinen. EUR (D) 239,00.
    ISBN: 978-3-11-027455-4.
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Die Anlage der Ausgabe

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Mit dem fünften Band konnte die bereits seit 1983 erscheinende Gesamtausgabe der Briefe von und an Christian Fürchtegott Gellert abgeschlossen werden. Der Aufklärungsforschung steht mit dieser Pionierleistung eine vollständige, zuverlässige Briefausgabe eines der zentralen Autoren zur Verfügung. Die Briefforschung wiederum kann sich jetzt endlich ein genaues, umfassendes Bild von der praktischen Leistung des wichtigsten Brieftheoretikers des 18. Jahrhunderts machen. Das Verdienst der Herausgeberschaft kommt John F. Reynolds zu, der die Edition fast im Alleingang besorgt hat. Lediglich der 2013 erschienene letzte, hier anzuzeigende Band entstand unter Mitarbeit von Angelika Fischer, der Leiterin des Gellert-Museums Hainichen.

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Es fehlt unter Gellerts Korrespondenzpartnern nicht an bekannten Namen, doch halten sie sich zahlenmäßig in Grenzen. Neben den Jugendfreunden wie Gottlieb Wilhelm Rabener, Johann Elias und Johann Adolf Schlegel finden sich Namen wie Hagedorn, Sulzer, Reich, Ewald von Kleist, Pfeffel, Thümmel, Weiße und Lavater. Ihm, vielleicht dem einzigen Vertreter der folgenden Autorengeneration, bescheinigt Gellert in seinem Todesjahr, seine »Schweizerlieder« hätten durch die anlässlich einer Nachauflage vorgenommenen Verbesserungen »sehr gewonnen« (S. 202). Ein einziger Brief an den Leipziger Lehrer und späteren Kollegen Johann Christoph Gottsched liegt vor.

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Insgesamt zählt die Edition 1371 Briefe, wozu auch einige verschollene gehören, über deren Inhalt nur Auktionskataloge Auskunft geben. 1255 Briefe konnten chronologisch gereiht werden, beginnend mit einem Schreiben des Fünfundzwanzigjährigen aus dem Jahr 1740. Der Schwerpunkt der Überlieferung liegt im letzten Lebensjahrzehnt des mit 54 Jahren 1769 verstorbenen Gellert, die Hälfte der edierten Briefe entstand seit 1761.

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Editorische Gesichtspunkte

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Briefeditorisch spannend ist Gellert, weil er zu den Ersten in deutscher Sprache zählte, die eigene Briefe in größerem Umfang publizierten – und zwar in der Absicht, das propagierte Ideal des ›natürlichen‹ Briefs anhand authentischer, eigener Exempel vorbildhaft seinem Publikum zur Kenntnis zu bringen. Dies geschah 1751 in der »Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen«. Erst Jahrzehnte später begann man zu bemerken, dass für Gellert ›natürlich‹ nicht gleichbedeutend mit ›spontan‹ oder gänzlich kunstlos war, dass er die für den Druck bestimmten Briefe überarbeitet und geglättet hatte. Wenn also seine eigenen ›Ausgaben‹ oder die seiner Zeitgenossen als Druckvorlage für heutige Editionen herangezogen werden müssen, ist von einer Hybridität von Authentizität und durchaus ästhetisierender Zurichtung auszugehen. Wie einem solchen Tatbestand editorisch zu begegnen sei, steht allerdings dahin. Die positivistische Gellert-Forschung des frühen 20. Jahrhunderts meinte jedenfalls Bearbeitungstendenzen auszumachen.

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Eine 1912 durch die Kgl. Sächsische Kommission vorbereitete umfassende Gellert-Ausgabe kam nicht zustande, damit verzögerte sich auch das Projekt einer vollständigen Edition der Korrespondenz um ziemlich genau ein Jahrhundert. Dass es nun doch noch geklappt hat, sagt einiges über die Mühen philologischen Arbeitens wie über die Zähigkeit der Philologen aus.

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Die abgeschlossene Edition enthält also neben den von Gellert selbst ausgewählten Briefen die von Schlegel und Heyer für die 1769 bis 1774 erschienenen »Sämmtlichen Schriften« Gellerts publizierten. Im ersten Band von 1983 kündigt Reynolds insgesamt 300 ungedruckte oder nur teilweise gedruckte Briefe an. Soweit zugänglich, wurden die Briefe nach den Handschriften ediert, andernfalls nach dem ältesten Druck. Das bedeutet konkret, dass die von Gellert autorisierten Texte, wo möglich, durch die Originale ersetzt wurden: »Gellerts Korrespondenz wird in der vorliegenden Edition also nicht als Muster der Briefstellerei betrachtet, als das sie weitgehend im 18. und 19. Jahrhundert gegolten hat. Diese Briefe sind vielmehr biographische Dokumente, die Gellerts Beziehungen zum literarischen, politischen und sozialen Leben erhellen und erklären.« 1

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Die Briefe werden diplomatisch nach den Originalen ediert, allerdings wird in Zweifelsfällen die Groß- und Kleinschreibung nach heutigen Regeln normiert. Seinerzeit übliche Kürzel werden stillschweigend aufgelöst. Ergänzungen unleserlicher Stellen durch den Herausgeber werden kursiviert. Die Überlieferungslage wird beschrieben, ein teils ausführlicher Stellenkommentar widmet sich vor allem der Identifikation von Personen und Werken.

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Der Aufbau des Abschlussbandes

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Die insgesamt 333 im V. Band abgedruckten Briefe datieren zu zwei Dritteln aus den Jahren 1767 bis 1769, in denen Gellerts Briefeifer, vergleicht man die Zahlen, nicht erlahmte, aber doch, vielleicht aufgrund seiner zunehmenden Kränklichkeit, gebremst wurde. Die Besonderheiten der insgesamt 116 nachgetragenen Briefe verweisen auf die Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Einerseits umfassen sie neue Funde, erstaunlicherweise teils in Gellerts Geburtsort Hainichen getätigt, teils in der Biblioteka Jagiellońska in Kraków, in der nach 1945 bekanntlich zahlreiche Autographen aus der vormaligen Preußischen Staatsbibliothek landeten, darunter solche aus den Autographensammlungen von Radowitz, Parthey und Meusebach. Mit der eigenwilligen Bezeichnung »Wiederaufgefundene Briefe« versieht der Herausgeber diejenigen, von denen in den bisher erschienenen Bänden nur entweder Auszüge aus Auktionskatalogen oder ältere Drucke wiedergegeben wurden, während nun die Handschrift vorlag. Dass darunter Briefe an Gellerts Schwester sind, die sich im Ev.-Luth. Pfarramt Hainichen und somit an vermeintlich leicht zugänglicher Stelle befinden, mutet kurios an.

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Briefanthologien aus dem Jahr 1770

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Schließlich folgt ein gut 60 Briefe umfassendes Korpus undatierter Briefe. Größtenteils handelt es sich dabei um Nachdrucke aus älteren Editionen, darunter sind zahlreiche anonymisierte Stücke, die 1770 unter anonymer Herausgeberschaft, die allerdings Johann Georg Eck zugeschrieben wurde, in zwei Bänden erschienen, den »Freundschaftlichen Briefen von C. F. Gellert« und dem »Anhang zu dem [sic] freundschaftlichen Briefen von C. F. Gellert«.

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Dem Leser fällt sogleich auf, dass diese Briefe in hohem Maß witzig, pointenreich, eben: mustergültig, sind. So schrieb Gellert »An Frau von G***«: »Meine liebe gnädige Frau, Merken Sie nun, daß sich mein jugendliches Feuer verliert? Vor wenig Jahren würde ich, Ihnen vielleicht nicht so lange eine dringende Antwort, auf Ihre Vorwürfe, daß ich ein nachläßiger Freund sey, schuldig geblieben seyn; aber jetzo habe ich dergleichen freundschaftlichen Kränkungen zu tragen gelernt.« (S. 321)

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Dies besagt nichts gegen die grundsätzliche Authentizität dieser Briefe, manches aber über die Umstände ihrer Publikation. Dass an den (heute verlorenen) Originalbriefen manipuliert worden sei, darf man vermuten – dass die Veröffentlichung aufgrund der allgemeinen Gültigkeit, um nicht zu sagen: Vorbildlichkeit, dieser Texte erfolgte, kommt allerdings hinzu. Damit editorisch umzugehen, wenn die Handschriften verloren sind und man die anonymisierten Namen der Adressat/innen nicht identifizieren kann, ist freilich schwer. Eine ausführlich erläuternde und kommentierende Einführung hätte hier Not getan. Der Herausgeber fasst sich allerdings kurz, zitiert in einer einleitenden Passage zu den unter »Undatierte Briefe – Anschluss« zudem etwas rätselhaft bezeichneten Briefen fast ausschließlich aus den zur Verfügung stehenden Dokumenten zur Erstveröffentlichung und verzichtet auf weitergehende Informationen, die die Besonderheit der briefgeschichtlichen Voraussetzungen beleuchten könnten. Rechtfertigungsgründe für die Publikation konnten Authentizität plus Mustergültigkeit sein – sowohl der Herausgeber als auch der scharfe Kritiker der Ausgabe, Gellerts Freund Johann Adolf Schlegel, bedauern die Alltäglichkeit, gar: Nachlässigkeit, der Briefe. Damit sind Gründe genannt, die eher gegen die Publikation gesprochen hätten; Musterhaftigkeit wurde damals höher geschätzt als etwaige Authentizität. Hieraus erhellt etwa, dass Gellerts Ideal der Natürlichkeit auch bei den Zeitgenossen keineswegs mit einem, wie wir heute sagen würden, spontanen Schreibprozess zu identifizieren ist. Zugespitzt: Damit Briefe so ›natürlich‹ sind, dass sie mustergültig und für ein Lesepublikum nützlich sind, können oder müssen sie ihrem alltäglichen Schreibanlass enthoben und redaktionell bearbeitet sein.

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In den Editionsrichtlinien in Band I hatte es allerdings antithetisch geheißen: »In die chronologische Reihung nicht aufgenommen wurden stark redigierte Briefe, die keine Anhaltspunkte dafür bieten, daß ihnen echte Briefe zugrunde liegen, da Daten oder Namen aus Gellerts Freundeskreis fehlen. Das trifft neben den schon genannten auch auf die ›Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen‹ (1751), die ›Briefe, nebst einigen damit verwandten Briefen seiner Freunde‹ (1774) und die in den ›Sämmtlichen Schriften‹ (1774) gedruckten Briefe zu.« 2 Mögliche redaktionelle Bearbeitungspraktiken können aber im Rahmen der Edition nicht diskutiert werden; das Fehlen von Namen und Daten oder die Verfremdung von Namen à la »An den Herrn Major von W***« erleichtert nicht gerade eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen ›authentisch‹ und ›fiktiv‹. Ein streng empirisch verfahrender Kommentar kommt hier allerdings nicht weiter; nicht selten liest man: »Die Identität des Briefempfängers geht aus dem Brieftext nicht hervor.« (S. 507 u.ö.)

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Fortsetzung folgt: Die späte Korrespondenz

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Auch bei der Lektüre der Briefe fragt es sich, ob Gellert an seinem eigenen brieftheoretischen Ideal gemessen werden kann und sollte. In seiner berühmt gewordenen Abhandlung von 1751 setzt er unter dem Stichwort des ›Natürlichen‹ einen viel beachteten briefästhetischen Standard. Dabei geht es ihm nicht um eine Abwertung der Rhetorik als Werkzeugkasten für Briefschreiber, »einige Grundsätze der Beredsamkeit« 3 seien vielmehr zu Hilfe zu nehmen. Doch ist ihm an der Wirkung auf die Leser gelegen, die Briefe als schön empfinden sollen, woraufhin sich erst ein Verstandesurteil mit in die Empfindungen »[ein]mengt«. Orientierungsmarke soll das »gute[] Gespräch[]«sein, im Unterschied zur rhetorisch aufgerüsteten Sprache, die die Zeitgenossen aus den Briefstellern kannten. ›Natürlichkeit‹ meint bei Gellert aber eine Mitte zwischen dem Unnatürlich-Kanzleiförmigen und dem allzu Unsorgfältigen bis Ekelhaften – auch die Sprache des ›natürlichen‹ Briefs will gewählt sein.

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Gellerts eigene Briefe verzichten in der Tat auf jene mit fremdsprachlichen Anleihen gespickten umständlichen Hypotaxen, die er angeprangerte. Transparenz, Adressatenbezug, meist geradezu die Schlichtheit seiner Argumentation fallen auf. Dies betrifft nicht nur die zahlreichen Briefe an seine Schwester Johanna Wilhelmina Biehle, sondern das Gros der oft an Kollegen, vor allem aber gegenwärtige und ehemalige Studenten gerichteten Briefe. In seinen letzten Lebensjahren korrespondiert Gellert nur mit wenigen heute noch bekannten Persönlichkeiten seiner Zeit; der akademische Lehrer steht jedoch in vielerlei Kontakt mit seinen Schülern. In den Briefen an diese schlagen immer wieder Ermahnungen zu tugendhaftem Verhalten durch, oft gepaart mit Lob. Männlichen und gelegentlich auch weiblichen Briefpartnern empfiehlt Gellert nützlichen Lesestoff, etwa Moralische Wochenschriften. Häufig geht es um die Vermittlung von Hofmeisterstellen, einer für Hochschulabsolventen ohne feste Stelle wichtigen temporären Beschäftigungsoption. Ob in Dresden, in Kopenhagen oder in St. Petersburg – Gellerts Schüler sind an vielen Orten zu finden, die kursächsische Universität Leipzig ist als Studienort offenbar über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus interessant. Sowohl richten sich Bitten um Empfehlungen an Gellert – der Briefwechsel mit dem Dresdner Grafen Rudolf von Bünau kreist um dieses Thema – als auch suchen Absolventen nach entsprechenden Jobs oder versucht Gellert von sich aus zu helfen. Empfehlungsbriefe gehen gelegentlich auch an Kollegen, etwa den Göttinger Mathematiker und Dichter Abraham Gotthelf Kästner, doch fehlt eigentliche Gelehrtenkorrespondenz nationalen oder gar europäischen Zuschnitts, also der Austausch wissenschaftlicher Hypothesen zwischen Fachkollegen.

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Dies passte vielleicht auch nicht zu Gellerts Fach, hatte er doch in Leipzig eine außerordentliche Professur für Rhetorik, Dichtkunst und Philosophie inne. Der Diskussion der eigenen Arbeiten und ihrer Publikationswürdigkeit widmet sich am ehesten der umfängliche, lebenslang andauernde Briefwechsel mit seinem Jugendfreund Johann Adolf Schlegel, 1759 bis 1793 Pfarrer in Hannover und Vater Friedrich und August Wilhelm Schlegels. Schlegel las alle Texte Gellerts vor der Veröffentlichung kritisch gegen, so auch die Briefsammlung von 1751. In dem hier dokumentierten Zeitraum überredet er Gellert zur Veröffentlichung seiner viel gerühmten Moral-Vorlesung sowie zur separaten Publikation »Moralischer Charaktere«. Beides erschien postum 1770, herausgegeben durch Schlegel und Gottlieb Leberecht Heyer.

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Abflauende Korrespondenz

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Eine gewisse Kunstlosigkeit fällt auf, sieht man von einigen Briefgedichten oder auch dialogisierten Briefen ab. Selten sind längere narrative Passagen zu finden, wie sie Gellert durchaus glänzend beherrschte. 4 Spektakulär ist ein nur durch einen zeitgenössischen Druck überlieferter und gewiss auch für diesen bearbeiteter Brief aus dem Jahr 1761, in dem Gellert eine Begegnung mit König Friedrich II. von Preußen als Dialog mitteilt. Auf die kritische Nachfrage des Königs »Hat er den la Fontaine gelesen?« antwortet der als Fabeldichter bekanntlich zu Lebzeiten ungemein populäre Gellert zumindest laut brieflich übermitteltem Gedächtnisprotokoll selbstbewusst: »Ja, Ihro Majestät, aber nicht nachgeahmet. Ich bin Original.« (S. 299)

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Ein mit dem Gestus der Verehrung geschriebener Brief richtet sich an Johann Jakob Bodmer, den Gellert als »Würdigster Greis« (S. 5) tituliert. Ein intensiver Briefwechsel entwickelt sich mit dem Schüler Christian Garve, der nach Beendigung seines Studiums für kurze Zeit in die Heimatstadt Breslau zurückkehrt, um bald in Leipzig zu habilitieren und Karriere zu machen.

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Kurz vor Gellerts Tod wendet sich der junge Theodor Gottlieb von Hippel mit der Bitte um kritische Revision seiner Gedichte an den berühmten Leipziger. Die Antwort ist distanzierend, halb anerkennend, lehrerhaft, endgültig: »Ihre Lieder, theuerster Herr, sind nach meinen Gedanken lehrreich und erbaulich, wenn sie auch nicht immer die Schönheit haben, welche die Poesie und die Kritik verlangen.« (S. 232 f.)

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›Vater‹ und ›Tochter‹: Christiane Caroline Lucius im Briefwechsel mit dem Leipziger Professor

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Die seit 1760 in einem unablässigen, dem Ton nach immer wieder herausfordernden Briefwechsel mit Gellert stehende Dresdnerin Christiane Caroline Lucius dürfte die briefgeschichtlich interessanteste Korrespondentin Gellerts sein. Reynolds hatte über sie im ersten Band der Edition bemerkt: »Gellert war durch die Spontaneität und lebendige Schreibweise des Fräulein Lucius zuerst überrascht[,] dann beeindruckt. Er las oft ihre Briefe seinen Hörern in Leipzig vor als Beispiele eines natürlichen Stils.« 5 Wie vor allem Tanja Reinlein gezeigt hat, hatte sich eine imaginierte Vater-Tochter-Beziehung entwickelt. 6 Für die beiden entspann sich eine Win-Win-Situation: Gellert durfte Lucius’ Briefe als Belege für weibliche Natürlichkeit lesen, Lucius durfte sich im Dialog mit Gellert als ›weiblich‹ und ›natürlich‹ erfinden – allerdings nicht als ›gelehrt‹ (womit auch eine Konfliktlinie ins Visier geriet).

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In Gellerts letzten Lebensjahren kreist dieses Gespräch um die schlussendlich gescheiterte Verlobung Lucius’ mit einem Schüler Gellerts. Ganz kurz vor dem Tod des Mentors berichtet seine vertraute Briefpartnerin von der Katastrophe, die sie offenbar auf sehr modern anmutende Weise zu bewältigen gehofft hatte – doch bleibt ihr nur Resignation: »Nichts von allem hat mich eine Ueberwindung gekostet, als nur dieses, daß ich gänzlich mit Seydeln habe brechen müssen, und daß ich nun vielleicht in meinem Leben nichts Zuverlässiges mehr von ihm erfahren werde. Wie ich die Sache anfänglich betrachtete, dachte ich: Gut! So werden wir dennoch zeitlebens Freunde seyn! – und die Idee, den Freund meiner ersten Jahre bis ans Ende meines Lebens zu behalten, mit ihm in diesem engen, vielleicht neuen, nicht gewöhnlichen und doch völlig rechtmäßigen Verhältnisse zu stehen […]. Diese Idee fasste soviel Anziehendes, Zufriedenstellendes und Herzerfüllendes in sich, daß ich kaum zu entscheiden wußte, ob ich nicht vielmehr bey dieser Veränderung gewönne, als verlöre. Meine Freunde aber hießen mich einen andern Weg gehen, der wohl der rechte seyn mag; ich räume es selber ein. Indessen ist es nunmehr sicher, daß ich verloren habe.« (S. 227 f.) Die knapp Dreißigjährige fährt fort: »Die Hälfte meines Lebens mag ich wohl zurückgelegt haben. Im Ganzen ist es ruhig und glücklich gewesen. Warum sollte ich wegen der andern Hälfte in Furcht seyn? Viel Freuden habe ich genossen; zum Theil können sie nicht wieder kommen, aber andre können ihre Stelle besetzen.« (S. 228)

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Nun wird man von Gellert nicht mehr erwarten, als dass er Lucius aufgrund ihres Briefstils und aufgrund ihrer resignativ-tugendhaften Haltung lobt: »Ihre Briefe, gute Mademoiselle, sind mir zwar alle lieb; aber der letzte […] ist mir’s doch vorzüglich gewesen; nicht bloß wegen der Beredsamkeit, mit der Sie mit mir von einem Schicksale sprechen, das Sie doch mit Recht beunruhigen könnte, und das auch die meisten Ihres Geschlechts bey ähnlichen Umständen ausser aller Fassung bringen würde. Eben diesen getrosten Muth lobe und bewundre ich an Ihnen.« (S. 231)

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Mittelmaß oder Mittelmäßigkeit?

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Gellert, als Autor vor allem gerühmt für die Beherrschung der kleinen Formen – als Romanautor freilich dürfte er am originellsten gewesen sein –, hat seine Werke wie seine Briefe einem von Askese wie von Krankheit gezeichneten Leben abgerungen. Ein frommes Herz, große Talente, eine sorgfältige Erziehung – diese Trias begegnet in den Briefen immer wieder; dies alles muss zusammenkommen in Gellerts Bildungswelt, damit der Dialog zwischen Lehrer und Schüler stimmt. Während der Leipziger Student Goethe bereits Briefe im Stil Rousseaus und, antizipatorisch, im Stil Werthers schreibt, korrespondiert Lehrer Gellert gemächlich. Und er ist nicht der Einzige, bei dem gut’ Ding’ Weile hat. Kästner berichtet, er habe an Ostern wohl über 50 Briefe beantwortet, einige davon erst nach einem Jahr. Mit der heutigen E-Mail-Frequenz zwischen Professoren und Studierenden ist dies natürlich nicht zu vergleichen, doch räumen die Briefschreiber damit selbst ein, welchen Stellenwert sie für wohlüberlegte Briefe veranschlagen.

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Als Hypochonder und Neurotiker ist Gellert ein intensiver und zunehmend zerquälter Beobachter seiner selbst. Die Gemächlichkeit und Genauigkeit des Korrespondierens hält mit dieser Neigung zur Selbstbeobachtung Schritt. Moralität und Ernsthaftigkeit sind ihm wichtiger als effektvolle Pointen – hierin unterscheiden sich die zu Lebzeiten publizierten Briefe mutmaßlich dann doch etwas von den spontaneren, funktionaleren. Gellerts Briefe wie auch seine pädagogische und publizistische Tätigkeit hat etwas Zögerliches, langwierig Abwägendes. Mittelmaß und Mittelmäßigkeit – hierauf spielt Gottfried Honnefelder in seinem Gellert-Porträt an 7 – liegen bei Gellert ganz nah beieinander. Kaum glaubt der Leser der brav verfassten Briefe, dass er es mit einem weithin Gerühmten zu tun hat. Gellerts internationaler, vor allem in Frankreich hoher Bekanntheitsgrad spiegelt sich nicht in der Korrespondenz. Kaum einmal wenden sich seine Leser an ihn. Und nur mit aller gebührender Bescheidenheit kann er davon berichten, dass er dazu auserkoren war, dem sächsischen Kurfürsten Privatvorlesungen zu halten.

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Fazit

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Die Gesamtleistung des Herausgebers ist uneingeschränkt zu würdigen. Dass es sich bei der Edition mehr um ein Nachschlagewerk als um eine Folge von Lesebüchern handelt, ist nicht allein der wissenschaftlichen Zielsetzung, sondern auch den in vielen Stücken wenig spektakulären Texten geschuldet. Es fehlen jedoch auch Einleitungen, Hinführungen und über das Biographische hinausgehende Erläuterungen, die dem Leser die Texte schmackhaft gemacht hätten. Der ausführliche Kommentar arbeitet mit unzähligen Rückverweisen, so dass vielleicht alternativ an ein kommentiertes Namensregister zu denken gewesen wäre. Das digitale Medium böte aus heutiger Sicht für die editorische Präsentation von Gellerts Korrespondenz die attraktivere Lösung. Damit soll aber die solide und in der Summe ausgesprochen anerkennenswerte Leistung des Herausgebers nicht geschmälert werden. Fast zweieinhalb Jahrhunderte nach Gellerts Tod können wir nun die Briefe des Briefreformers so vollständig und so gut kommentiert wie nie zuvor kennen lernen.

 
 

Anmerkungen

John F. Reynolds: Vorwort. In: C. F. Gellerts Briefwechsel. Hg. von J. F. R. Band I (1740–1755). Berlin/New York: Walter de Gruyter 1983, S. V-X, hier S. IX.   zurück
John F. Reynolds: Zur Edition. In: Gellert, Band I, S. 275–277, hier S. 275.   zurück
Christian Fürchtegott Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Hg. von Bernd Witte. Band IV. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1989, S. 111–221, hier S. 111.   zurück
Exemplarisch zeigt dies Robert Vellusig anhand eines Briefs aus dem Jahr 1758: Gellert, der Husar, ein Brief und seine Geschichte. Briefkultur und Autorschaft im 18. Jahrhundert. In: Jochen Strobel (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg: Winter 2006, S. 33–59.   zurück
John F. Reynolds: [Erläuterung]. In: C. F. Gellerts Briefwechsel. Hg. von J. F. R. Band III (1759–1763). Berlin/New York: Walter de Gruyter 1991, S. 410.   zurück
Vgl. Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. (Epistemata; 455) Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 164–201.   zurück
Vgl. Gottfried Honnefelder: Christian Fürchtegott Gellert. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Benno von Wiese. Berlin: Erich Schmidt 1977, S. 115–134, hier S. 115.   zurück