[1]
|
Gattungsgeschichte ist ein schwieriges Geschäft, und die Utopieforschung der vergangenen 50 Jahre ist hierfür ein gutes Beispiel. Wurden die in der Tradition der »Utopia« des Thomas Morus (1516) stehenden Texte bis in die 1970er Jahre fast ausschließlich aus soziologischem und politologischem Interesse betrachtet und auf die inhaltlichen Merkmale der in ihnen dargestellten Idealstaaten befragt, so war es der Literaturwissenschaft der 1980er und frühen 90er Jahre bereits gelungen, die teils recht subtilen fiktionalen Strukturen dieser Texte und damit auch die in ihnen vermittelten unterschiedlichen Textintentionen genauer zu erfassen. Der hier erreichte Erkenntnisstand ist in der – wieder eher politologisch und soziologisch orientierten – Utopieforschung der letzten zwei Jahrzehnte jedoch nur vereinzelt rezipiert worden. Hier dominiert wiederum eine rein ideen- und motivgeschichtliche Betrachtungsweise, die die literarische Vermittlungsform der dargestellten Idealstaaten ignoriert, aus den enthaltenen utopischen Entwürfen von den Autoren angeblich verfolgte politische Ideen ableitet und (so in den zahlreichen Arbeiten des Politologen Richard Saage) diese etwa dem neuzeitlichen Vertragsdenken entgegensetzt.
|
[2]
|
Matthias Löwes Ausgangspunkt ist die Kritik an diesem im Einleitungskapitel knapp und präzise beschriebenen Befund. Sie führt zu einem bewussten Anschluss an die Ergebnisse der literaturwissenschaftlichen Utopieforschung, einer aus ihr abgeleiteten, für die eigenen Zwecke modifizierten Gattungsdefinition (S. 14) und einem knappen Aufriss der frühneuzeitlichen Gattungsgeschichte (S. 22–27).
|
[3]
|
›Anthropologie‹ als Gattungsproblem der literarischen Utopie
|
[4]
|
Zweiter Ausgangspunkt der Arbeit ist, die Literatur- und damit auch die literarische Gattungsgeschichte konsequent als Problemgeschichte zu verstehen, d.h. als »Geschichte wechselnder Problemlagen« (S. 34), die aus der »Konkurrenz von Deutungssystemen und der damit konvergierenden Verunsicherung« (S. 37) der jeweiligen historischen Akteure resultiert. Zentrales Problem der literarischen Utopie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sei entsprechend die »Anthropologie«, d.h. die unter dem Einfluss des Empirismus um sich greifende Überzeugung, dass die moralischen Defizite des Menschen unaufhebbar in seiner Natur begründet seien. Das Entwerfen utopischer Idealwelten muss aus dieser anthropologischen Sicht als sinnlos erscheinen, weil es auf einem falschen Menschenbild, auf dem Glauben an die menschliche Perfektibilität beruht. Aus der Sicht einer Ästhetik, die vor dem Hintergrund der anthropologischen Erkenntnisse der Zeit gerade die »psycho-physischen Determinationsfaktoren menschlichen Handelns« in den Vordergrund rückt, gerät die literarische Utopie so in den Verdacht des Schwärmertums und stürzt sie »in die tiefste Rechtfertigungskrise ihrer gut zweieinhalb Jahrhunderte währenden Gattungsgeschichte« (S. 60): Ein Utopist, der hinter den Erkenntnisstand der Anthropologie nicht zurückfallen, gleichzeitig aber der mit ihr verbundenen Konsequenz des Nihilismus entgehen und an der Idee der menschlichen und sozialen Perfektibilität festhalten will, steht vor dem Dilemma, die Fiktion idealer Gemeinwesen seinen Lesern nicht mehr ohne weiteres wahrscheinlich machen, d.h. als reale Möglichkeit vermitteln zu können.
|
[5]
|
Selbstreflexive Aufklärung: Wielands »Utopie-Zitate«
|
[6]
|
Löwe verfolgt diese – für die deutsche Aufklärung typische – Problemkonstellation zunächst und grundlegend an Texten Christoph Martin Wielands. Bezeichnend ist, dass in der Geschichte des Agathon (1766/67), im Sokrates Mainomenos (1770) und im Goldnen Spiegel (1772) die Utopie nicht mehr als eigenständige Gattung, sondern nur noch in Form von »Utopie-Zitaten«, d.h. utopischen Episoden auftritt, die in andersartige, größere Erzählzusammenhänge eingebettet sind und durch diese relativiert und diskutiert werden. Wieland ironisiert und kritisiert das utopische Verfahren, mit der »magischen Wünschelrute« des Autors Fakten zu setzen, die das Funktionieren einer fiktiven Idealgesellschaft ermöglichen, in der Realität aber undenkbar sind. Doch bleibt Wieland nicht bei der bloßen Dekonstruktion eines »schwärmerischen« Utopismus stehen, sondern hält an dem Ideal individueller Tugend und vernünftiger Staatsorganisation als regulativer Idee fest. Die anschauliche Fiktion utopischer Zustände behält die Funktion, den Leser emotional für das Gute zu motivieren, ihre ironische Brechung dagegen befähigt ihn, die realen Schwierigkeiten der Verwirklichung dieses Ideals zu erkennen. Wielands Texte sollen den »Leser in eine tugendbegeisterte ›Wallung‹ versetzen, ohne dass dabei die skeptische Vernunft gänzlich zerschmilzt« (S. 184). Damit gehört Wieland zu den wenigen Autoren der Zeit, die im Sinne einer »selbstreflexiven Aufklärung« die anthropologischen Aporien des Aufklärungsprojekts ernst nehmen, ohne ihre moralische Basis und Zielsetzung aufzugeben.
|
[7]
|
»Hypokritische Aufklärung«: Die Utopien Heinses und Stolbergs
|
[8]
|
Wie singulär dieser bei Wieland erreichte Stand aufklärerischer Selbstreflexion ist, demonstriert Löwe im folgenden Kapitel an Wilhelm Heinses utopischer Kykladenrepublik im Ardinghello (1787) und an Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs Dialogutopie Die Insel (1788). Im Anschluss an Reinhart Kosellecks Hypokrisie-Begriff versteht er beide Texte als »hypokritische Utopien«, die die Unrealisierbarkeit ihrer Idealstaatsentwürfe nicht selbstreflexiv auf die ihnen inhärenten logischen und anthropologischen Widersprüche, sondern allein auf die politischen Strukturen der Erfahrungswirklichkeit zurückführen. Bei beiden sei die Utopie letztlich allein Mittel politischer Anklage, d.h. einer einseitigen moralischen Kritik am zeitgenössischen Absolutismus, die die Widersprüche und Brüche des utopischen Gegenentwurfs bewusst verschleiere. Löwe deckt dies am Ardinghello sehr präzise auf. An seiner Interpretation der Stolbergschen Insel wird freilich auch die Gefahr deutlich, die aus einer zu engen Orientierung an Kosellecks Aufklärungskritik erwachsen muss. Der Begriff »Hypokrisie« denunziert und entwertet ja letztlich moralische Kritik als selbstgerechte »Heuchelei«, und auch Löwe entgeht dieser Gefahr nicht ganz. Auch wenn Stolberg in der Tat die zeitgenössischen anthropologischen Zweifel an der Perfektibilität des Menschen weitgehend ignoriert und so hinter dem bei Wieland erreichten Reflexionsniveau weit zurück bleibt, so rückt doch die von ihm gewählte Form der Dialogutopie die Frage der Realisierbarkeit eines idealen Gemeinwesens in einen weit offeneren Horizont als dies etwa bei Heinse der Fall ist: Wo über die Bedingungen der Utopie offen diskutiert wird, ist auch dem Leser gegenüber die Verschleierung verdeckter Motive und Interessen schwer möglich.
|
[9]
|
Die »Transzendental-Utopie« des Novalis
|
[10]
|
Der Sinn dieser klugen, wenn auch etwas einseitigen Behandlung vor allem Stolbergs wird jedoch im folgenden Kapitel deutlich – Heinse und Stolberg dienen Löwe als Kontrastfolie nicht nur zu Wielands Utopien, sondern auch zu Novalis’ Fragmentsammlung Glauben und Liebe (1798). Es scheint zunächst gewagt, diesen merkwürdigen Text der Tradition der literarischen Utopie zuzuordnen, folgt er doch keiner der bekannten Formtraditionen der Gattung: Novalis schreibt keine Dialogutopie, auch keine illusionierende Erzählung eines utopischen Gegenbildes, sondern stilisiert in seinen Fragmenten die Wirklichkeit zum utopischen Vor- und Abbild. Löwe erklärt dieses scheinbar widersprüchliche Verfahren überzeugend als Romantisierung: Indem Novalis so tut, als ob die Goldene Zeit im Preußen Friedrich Wilhelms III. und seiner Gattin Luise schon gegenwärtig sei, fiktionalisiert er die Wirklichkeit, verfremdet sie grundlegend. Ziel ist, »im Leser das Vermögen zum eigenständigen, transzendentalphilosophisch disziplinierten Verbinden von Erfahrungswirklichkeit und Idee zu wecken. Er soll lernen, Phänomene seiner Erfahrungs- und Alltagswirklichkeit als symbolische Erinnerungsstützen an sein ›besseres Selbst‹ zu gebrauchen, indem er sich romantisierend die unüberbrückbare Distanz zwischen Idee und Erscheinung bewusst macht« (S. 390). Die indikativischen Behauptungen über die Idealität der preußischen Monarchie werden gleichwohl durch konjunktivische Wünsche kontrastiert, die deutlich machen, dass die Wirklichkeit zwar Anknüpfungspunkte für die unendliche Annäherung an das Ideal bietet, mit diesem Ideal gleichwohl nicht verwechselt werden darf.
|
[11]
|
Löwe arbeitet diese Zusammenhänge auf der Grundlage einer luziden Analyse der frühromantischen Poetik überzeugend heraus – das Novalis-Kapitel seines Buches sei daher auch jedem empfohlen, der eine gründliche Einführung in die Ideenwelt Hardenbergs sucht. Deutlich wird hieran vor allem, inwiefern die Romantik eine Antwort auf die Aporien oder, wenn man so will, auf das Scheitern der Aufklärung darstellt: Als Versuch, den Widerspruch zwischen Sinnlichkeit und Vernunftideal auf höherer, esoterischer Ebene zu vermitteln. In diesem Zusammenhang überzeugt der Versuch, Glauben und Liebe als besonders raffinierte Antwort auf die Gattungsproblematik der literarischen Utopie zu verstehen, den Text also aller Unterschiede zum Trotz in die utopische Gattungstradition einzureihen.
|
[12]
|
Allerdings – und dies betont Löwe in seinem Schlussresümee (S. 395 ff.) – haben sowohl Wielands als auch Hardenbergs Texte keine Nachfolger gefunden, bilden insofern ›tote Äste‹ in der Geschichte einer Gattung, die in den naiven Fortschrittsutopien des 19. Jahrhunderts dann wieder ganz traditionelle Wege geht. Wieland und Novalis haben, wie die Rezeptionsgeschichte ihrer Texte zeigt, ihre Leser offensichtlich überfordert, indem sie versuchten, über das unreflektierte Vermitteln wirklichkeitskritischer Normen hinauszugehen, nämlich »säkulare Normfindung als unlösbares Problem zu reflektieren« (S. 402).
|
[13]
|
Für das Verständnis gattungs- und epochengeschichtlicher Zusammenhänge freilich können derartige tote Äste außerordentlich fruchtbar sein – zumindest dann, wenn sie so gründlich, kenntnisreich und präzise analysiert werden wie in Matthias Löwes Arbeit.
|