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Die literarische Moderne und ihre Primitiven

Der humanwissenschaftliche Diskurs über primitives Denken und seine poetologischen Parallelaktionen

  • Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin). München: Wilhelm Fink 2013. 456 S. Kartoniert. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 978-3-7705-5469-0.
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Das Primitive als Paradigma, Denkfigur und Poem

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Wie sehr die ästhetische Moderne durch den positiven Bezug auf ein Anderes der eigenen bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet ist, ja sich durch den Entwurf von Gegeninstanzen wesentlich konstituiert, ist ein Befund, der sich im frühen 20. Jahrhundert quer durch die Künste und mitunter hochreflexiv gewendet vor allem in der Literatur ergibt. Unter den diversen literarischen Entwürfen von Alterität widmet sich die Baseler Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess in der hier zu besprechenden Studie, die auf ihrer Habilitationsschrift beruht, einem besonders wirkmächtigen: der Figuration von Alterität im Gewand des Primitiven.

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Wie der Titel ihres Buches ankündigt, macht sie dabei als die drei vornehmlichen Reflexions- und Projektionsfiguren des Primitiven den Wilden, das Kind und den Wahnsinnigen aus. Während in den letzten Jahren, auch im Kontext der Postcolonial Studies und des wachsenden literaturwissenschaftlichen Interesses an Globalisierungseffekten, 1 in der Germanistik Arbeiten über Primitivismus entstanden sind, die sich vornehmlich für die literarische Faszination durch die außereuropäischen ›Primitiven‹, die sogenannten ›indigenen Völker‹, unter Bezugnahme auf die sich formierende Ethnologie interessieren, 2 nimmt Gess mit dem Einbezug auch der Figuren des Wahnsinnigen und des Kindes eine beträchtliche Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes vor. Das gilt umso mehr, als das Interesse der Autorin nicht nur dem vielfältigen Erscheinen dieser drei Reflexionsfiguren in literarischen Texten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gilt, sondern ihr spezifischer Ansatz darin liegt, Wissen(schaft)sgeschichte und literarische Poetik in ihren Zusammenhängen zu betrachten. Diese Ausweitung des Forschungsfeldes erlaubt es insofern, nicht nur eine, sondern drei junge Humanwissenschaften in die Untersuchung einzubeziehen und ihre Verbindungslinien untereinander wie auch zur literarischen Ästhetik aufzuzeigen: die Entwicklungspsychologie, die Psychopathologie und die Ethnologie. Den Mehrwert eines solchen mehrere wissenschaftliche Disziplinen einbeziehenden Vorgehens demonstrieren nicht zuletzt die Ergebnisse von Gess’ Lektüren, die immer wieder zeigen, wie ähnliche Argumentationsfiguren in unterschiedlichen Disziplinen wirksam werden und wie sich in den literarischen Texten die Bezüge auf diese Wissenschaften überkreuzen. Wenn der Zusammenhang der drei genannten Projektionsfiguren und der mit ihnen verbundenen Disziplinen in der Forschung vereinzelt durchaus bereits gesehen wurde, 3 vertieft die außerordentliche Materialfülle, die Gess in ihrer Monographie präzise diskutiert und kontextualisiert, die Einsicht in die Verschränkung dieser unterschiedlichen Modellierungen des Primitiven doch erheblich. Vor allem aber zielt ihr Ansatz darauf, die wissensgeschichtlichen Kontexte nicht nur im Hinblick auf thematische Bezüge zu literarischen Texten zu untersuchen, sondern auch in ihrer formalen poetischen Produktivität, also in ihrer Rolle in der Entwicklung neuer literarischer Gestaltungsmittel.

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Angesichts solch übergreifender Diskursformationen überzeugt der Vorschlag der Autorin, den Diskurs des Primitiven als ein Paradigma im Sinne Kuhns zu fassen, welches Fragestellungen und Antworten ganzer Disziplinen konfiguriert, diesen Diskurs zugleich aber auch als Poem im Sinne Bachelards zu begreifen, also als eine von Affekten und unbewussten Bedürfnissen der Wissenschaftler geprägte Fiktion (S. 13). Darüber hinaus schlägt die Autorin sehr plausibel vor, das ›Primitive‹ bzw. den ›Primitiven‹ auch als Denkfigur zu fassen, und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen bringt die anthropomorphe Figur des ›Primitiven‹ eine flexible Gestalthaftigkeit und Konkretion mit, die das Denken der genannten Disziplinen zu strukturieren vermag, zum anderen wird dem ›Primitiven‹ – ob Wildem, Kind oder Wahnsinnigem – selbst ein bestimmtes Denken zugeschrieben, dessen vorrangige Kennzeichen Assoziativität und Alogizität sind. Dieses ›primitive Denken‹ ist untrennbar von wissenschaftlichen wie literarischen Projektionen auf die Figur des Primitiven. Gerade diesem letzten Aspekt kommt im Rahmen von Gess’ Ästhetik und Wissenschaft übergreifender Studie besondere Bedeutung zu, weil das Postulat eines ›primitiven Denkens‹ auch dort einen Bezug zwischen dem europäischen Künstler bzw. europäischen Kunstschaffen und dem jeweils ins Auge gefassten ›Primitiven‹ herzustellen erlaubt, wo der Primitivismus nicht in der Nachahmung eines zum Modell erhobenen ›primitiven‹ Formenrepertoires besteht (vgl. S. 17).

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Das Primitive in den Humanwissenschaften

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Ihrem ambitionierten Programm entsprechend setzt sich die Autorin in einem ersten Teil »Figuren primitiven Denkens« (Kap. 2–4) ausführlich mit den jeweiligen Konstruktionen eines Primitiven in den drei Humanwissenschaften Ethnologie, Entwicklungspsychologie und Psychopathologie auseinander. Hierbei zeigt sie, dass alle drei Wissenschaften analoge methodische Vorannahmen entwickeln, die auf der Temporalisierung des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes beruhen. So konstruiert die frühe Ethnologie den ›Primitiven‹ über Modelle der Allochronie und des Entwicklungsstillstands oder aber – mit Edward B. Tylor – des survivals, d.h. des kulturellen Atavismus (insb. S. 37–38). Die Entwicklungspsychologie wiederum arbeitet mit dem Modell der Rekapitulation. Dieses biologisch zu verstehende Modell beruht wesentlich auf Ernst Haeckels einflussreichem »biogenetischen Grundgesetz« von der Rekapitulation der Phylo- in der Ontogenese, das »rasch popularisiert und als solches von den Kinderpsychologen auch auf die Entwicklung des Säuglings und Kleinkinds angewendet« wurde (S. 74), so auch von Gründungsfiguren der Kinderpsychologie wie William T. Preyers, James Sully und Stanley Hall (S. 74–75). Die Alterisierung des Kindes durch das Paradigma des Primitiven produziert dabei, wie Gess herausarbeitet, auch eine »Verfremdung« des Kindes: Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Entdeckungen der Psychoanalyse betritt das dem Erwachsenen unzugängliche wilde »Kind als Triebwesen« die Bühne der Wissenschaft (S. 77). Die Psychopathologie und insbesondere die Befassung mit der ›Künstlerkrankheit‹ der Schizophrenie schließlich nehmen die Analogisierung von Wahnsinnigem und ›Primitivem‹ über Theorien der Regression auf frühere Entwicklungsstadien vor (S. 111). Indem in allen drei Wissenschaften der jeweilige Untersuchungsgegenstand als Manifestation überholter ›früher‹ Entwicklungsstadien des Menschen aufgefasst wird, entsteht nicht nur ein Netz von Anleihen unter ihnen, sondern auch eine Analogisierung der Untersuchungsgegenstände selbst.

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Eine in diesem Durchgang durch die drei Humanwissenschaften von Gess mehrfach herausgearbeitete Pointe, bei der sich der Bezug auf Bachelards Konzeption von Wissenschaft als Poem als besonders produktiv beweist, ist, dass die poematischen wissenschaftlichen Konstruktionen eines Primitiven auf eben jenen kognitiven Operationen – Analogismus, Animismus und Substanzialisierung – beruhen, die den ›Primitiven‹ zugeschriebenen werden (S. 59 u. S. 110 f.).

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Der primitive Künstler spricht in Bildern

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Ein Zwischenschritt zwischen Gess’ Durchgang durch die Figuren des Primitiven in den drei diskutierten Humanwissenschaften im ersten Teil der Studie und der Analyse des primitivistischen Paradigmas in literarischen und essayistischen Texten der frühen Moderne im dritten und umfangreichsten Teil des Buches stellt die Diskussion der in den humanwissenschaftlichen Diskursen implizierten Vorstellungen von Kunst und Sprache einerseits (Kap. 5) und des Widerhalls dieser Diskurse in den zeitgenössischen Kunst- und Sprachtheorien andererseits dar (Kap. 6). Mit diesem Abschnitt unter dem Titel »Kunst, Sprache und primitives Denken« wird eine wichtige Basis für die anschließenden literarischen Textanalysen im dritten Teil des Buches geschaffen, denn die Anschlüsse, die die dort diskutierten Autoren an wissenschaftliche Konzepte des Primitiven suchen, gehen stets mit einem spezifischen sprachtheoretischen Interesse einher, vornehmlich demjenigen am Mehrwert bildhafter Sprache (S. 219).

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Wie Gess zeigt, ist »mit den humanwissenschaftlichen Überlegungen zum primitiven Denken […] von Anfang an die Konstruktion einer primitiven Sprache« verbunden (S. 168). Dieser ›primitiven‹ Sprache wurden, so Gess, von Ethnologen und Entwicklungspsychologen im Wesentlichen vier Aspekte zugeschrieben: Anschaulichkeit, Motiviertheit durch ihre Gegenstände, Partizipation der Sprache an ihren Gegenständen sowie schließlich die »sich daraus ergebende magische Macht der Sprache« (ebd.). Ein interessanter Aspekt, den Gess hier herausarbeitet, ist, wie sehr die Humanwissenschaften sich in ihren Projektionen in kratylischer Tradition bewegen und somit ihre Empirie einem hochspekulativen antiken Konzept unterwerfen (S. 173).

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Auch in einer weiteren Hinsicht ist dieser Abschnitt weit mehr als nur ein Zwischenschritt im Hinblick auf die Textlektüren des dritten Teils. Denn er erbringt den Nachweis, wie sehr primitivistische Diskurse auch in den zeitgenössischen Kunst- und Sprachtheorien wirksam waren, und belegt damit einmal mehr den paradigmatischen Status des ›Primitiven‹ im frühen 20. Jahrhundert. Das ›Primitive‹ wird, wie Gess zeigt, insbesondere zur Chiffre in der Suche nach dem Ursprung von Kreativität und Schaffenskraft; es tritt damit an die Stelle des Genie-Begriffs (S. 164–165) – wobei, so die These der Autorin, die Berufung auf Ethnologie, Psychopathologie und Entwicklungspsychologie von den Kunstwissenschaften gerade auch in ihrem Bemühen um ihre Etablierung als wissenschaftliche Disziplinen in Dienst genommen wird. Von besonderem Interesse auch in rhetorikgeschichtlicher Perspektive ist schließlich Gess’ konziser Durchgang durch einflussreiche Metapherntheorien um 1900 (S. 167 ff.) wie diejenigen Nietzsches, Mauthners, Vischers, Bieses und Cassirers. Bei allen Unterschieden zwischen den jeweiligen Folgerungen im Hinblick auf das epistemische Potenzial der Metapher begreift Gess als ihr Gemeinsames die parallel zu den zeitgenössischen ethnologischen und entwicklungspsychologischen Ansätzen geführte und sich auf diese berufende Untergrabung der Unterscheidung zwischen ›eigentlicher‹ und ›uneigentlicher‹ Verwendung eines Wortes. Den Zusammenhang dieser »anthropologisch ausgerichtete[n] Metapherntheorien« (S. 190) mit dem humanwissenschaftlichen Primitivismus aufzuzeigen, ist ein wesentliches Verdienst dieses Kapitels. Gess zufolge ist die Metapher »nun keine bloße rhetorische Figur mehr, sondern sie rückt, wissenschaftlich beglaubigt, in den Rang eines transzendentalen Apriori, das allem Denken und Sprechen voraus liegt« (ebd).

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Tropische Tropen und kindliche Metaphern

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Den umfangreichsten Teil des Buches bilden Lektüren der einschlägigen Werke von vier von Gess als besonders exemplarisch erachteten Autoren: Robert Müller, Robert Musil, Gottfried Benn und Walter Benjamin. Die Auswahl der genannten vier Autoren ermöglicht es Gess, alle drei im ersten Teil vorgestellten primitivistischen »Denkfiguren« durchgängig auch im Hinblick auf poetologische Verfahren zu untersuchen, spielen doch die einzelnen Figuren bei den jeweiligen Autoren in unterschiedlicher Gewichtung eine Rolle. Da die Autorin selbst darauf verweist, dass sich Benn, der eher Anschlüsse an biologische Konstruktionen des Primitiven sucht, nur ansatzweise auf die von ihr fokussierten Denkformen ›Wilder‹, ›Kind‹ und ›Wahnsinniger‹ bezieht (u.a. S. 281), stellt sich allerdings die Frage, ob das Korpus nicht durch eine entsprechende Modifizierung gewonnen hätte.

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In ihrer Lektüre von Robert Müllers Roman Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs (1915) zeigt Gess, wie die Erzähler- und Hauptfigur Brandlberger das indianische Fremde als Ursprung des Eigenen deutet und die Romanhandlung als eine zunehmende Reaktivierung dieses konstruierten wilden Ursprungs gestaltet ist, die sich auch sprachlich im ›Bericht‹ Brandlbergers niederschlägt (Kap. V). Die primitivistische Position der Erzählerfigur – und auch des Autors Müller – bestehe, so Gess, »in einer raffinierten Variante der Einverleibung des Fremden, insofern die Welt des Fremden hier zur bloßen Konstruktion geschmälert wird« (S. 212). Damit betont Gess Müllers imperialistische Haltung, erteile doch die konstruktivistische Weltsicht – der Urwald als Trope auch im rhetorischen Sinne – einer kolonialistischen Zerstörung fremder Welten carte blanche (ebd.).

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Einen deutlich differenzierteren und reflektierteren Umgang mit primitivistischen Projektionen konstatiert Gess in Musils Mann ohne Eigenschaften. Ausgehend von den Notizen und Exzerpten Musils diskutiert sie zunächst dessen Rezeption ethnologischer und psychopathologischer Schriften und deren Relevanz für seine literarischen Schriften, insbesondere für die Figurenzeichnung im Mann ohne Eigenschaften. Vor allem durch den Vergleich der verschiedenen Entwürfe für den Roman kann Gess zeigen, dass die komplexe Beschäftigung Musils mit dem Primitiven einer zunehmenden Distanzierung von sentimentalischen Regressionsphantasien unterliegt. Während auf der Figurenebene primitivistische Utopien durchgespielt werden, münde, so Gess, die diesen gegenüber zunehmend kritische Haltung des Autors in die Konzeption einer neuen literarischen Formsprache, die »primitivistisches Erzählen im modernen Sinne« (S. 280) sei, d.h. in dem Sinne, dass sie wie die Dichtung der ›Naturvölker‹ performativ sei und durch eine bestimmte Formsprache auf die Hervorbringung einer »bestimmte[n] Art von Geist« (S. 279) ziele. Gess zeigt, dass Musil mit der Formensprache des Mann ohne Eigenschaften die sprachliche Mimesis an ein wie immer konstruiertes Primitives im »Selbst-Experiment« (S. 269) erprobt, etwa wenn die Erzählung den assoziativen, metapherngesättigten ›manischen‹ Erzählmodus der Figur der Clarisse annimmt, er diese Mimesis jedoch zugleich überschreitet in der reflexiven Distanznahme. Gess begreift auch Musils distanzierte essayistisch-literarische Reflexion über regressive Utopien selbst noch – mit Musil – als ein »am Vorbild des Primitiven gewonnenes Erzählen«, sei die Reflexion doch als Komplement und Korrektiv der inhaltlichen und sprachlichen Mimesis an das humanwissenschaftlich untersuchte ›Primitive‹ Teil der Suche nach einer »Formsprache für nicht-ratioide Aussagen« (S. 279). Im Hinblick auf Versuche einer genaueren Bestimmung des literarischen Primitivismus ist dies ein interessanter Punkt. Denn Gess’ Musil-Lektüre kann dazu beitragen, der Tendenz, den Primitivismus in literarischen Texten mit der bloßen Häufung einer Reihe naiver Klischees und Stereotypen gleichzusetzen, entgegenzuwirken und Primitivismus als eine mitunter hochdifferenzierte Auseinandersetzung mit dem »entfremdeten Eigenen« (S. 280) zu begreifen.

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Wie primitivistische Projektionen zu gattungspoetologischen Innovationen führen, wird auch im anschließenden Kapitel zum Werk Benns von den frühen Novellen über die in den Brüsseler Jahren entstandenen Dramen und Gedichte bis hin zu den Essays der frühen 1930 Jahre diskutiert. In den wechselnden Spielarten primitivistischer Positionen in Benns Werk werden die jeweils implizierten poetologischen Positionen herausgearbeitet, die stets virulent sind, da bei Benn »die Aufgabe der Dichtung hier auf jeweils andere Weise immer darin [liege], das Primitive zur Sprache zu bringen« (S. 363). Dabei werde in den frühen, u. a. die evolutionsbiologischen Theorien Haeckels und die Hirnphysiologie Paul Flechsigs aufgreifenden Texten, wie in dem Dialog »Gespräch« (1910) und dem fiktiven Brief »Unter der Großhirnrinde« (1911), die körperliche und geistige Regression des Menschen auf einfachste Lebensformen imaginiert, welche nicht als ein Ausleben von Trieben, sondern als ein »bloßes Vegetieren«, als ein »passives ›gelebt werden‹ in bewusstloser Geborgenheit« (S. 299) gefasst ist. Demgegenüber liege der Fokus der mittleren Texte auf einem »rauschähnlichen Zustand der Entformung«, welcher eine »schöpferische Neu-Gestaltung« (S. 306) ermögliche. Hier arbeitet Gess insbesondere Benns Orientierung an der Entwicklungspsychologie Semi Meyers heraus, wobei nicht der Nachweis psychiatrischer Theoreme in den literarischen Texten angestrebt ist, sondern es vielmehr darum geht, die poetologische Produktivkraft aufzuzeigen, die psychiatrische Theorien bei Benn gewinnen. In den Essays der 30er Jahre stehe, so Gess, wieder der Körper im Zentrum von Benns Überlegungen, jedoch nicht mehr im Rahmen regressiver Imaginationen, sondern als Medium der Erinnerung an Archaisches (S. 362).

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Die für Walter Benjamin zentrale Denkfigur des Primitiven ist das Kind. In ihrer Lektüre der einschlägigen Essays und Rezensionen Benjamins, insbesondere derjenigen zum Kinderspiel und Kinderbuch, profiliert Gess ihre These, das Kind stelle für Benjamin das Vorbild für einen dialektischen Umgang mit dem Fremden dar. Die Dialektik bestehe im Umschlag von einem Zustand des Gebanntseins und der Verzauberung durch das Fremde im Zeichen mimetischer »Anähnelung« (S. 390) in einen Zustand der Entzauberung im souveränen Umgang mit dem Fremden. Der Gewinn dieser Souveränität beruhe auf einer intimen Kenntnis des Fremden und gewinne Form in der Bricolage, einer befreienden barbarischen Destruktion und produktiven Neugestaltung des gegebenen Materials. Das Kind erscheint so als der »dialektisch gewendete Primitive«, dessen »destruktiv-produktive Mimesis« sich von den »regressiven Überlegungen vieler Zeitgenossen zur Heilsamkeit primitiver Gewalt« grundlegend unterscheide. Dieses Konzept eines dialektischen Umschlags, das Benjamin in der Beobachtung auch der eigenen Kinderspiele in der Berliner Kindheit gewinnt, sieht Gess in der Berliner Kindheit und im Passagenwerk auch auf der Ebene ästhetischer Gestaltung selbst am Werk (S. 393).

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Fazit

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Das beeindruckende Panorama an geistesgeschichtlicher Kontextualisierung, in das die Autorin mit großer Umsicht gedeutete kanonische Texte der deutschsprachigen Moderne rückt, macht die Studie nicht nur zu einem großen Gewinn für die literaturwissenschaftliche Forschung zur literarischen Moderne, sondern zu einer wichtigen Bereicherung auch für primär wissens- und wissenschaftsgeschichtlich interessierte Forschungen.

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Über manch neue Perspektive und etliche neue Einsichten hinaus, die die auf primitivistische Tendenzen fokussierten Lektüren der literarischen Texte – zumeist vielgelesene und bereits vielfach gedeutete – eröffnen, besteht die zentrale Qualität der Studie darin, für den deutschsprachigen Raum eine für die Moderne maßgebliche diskursive Formation in ihrer gleichermaßen wissenschaftliche wie literarische Texte überspannenden Produktivität sichtbar zu machen. Insofern kann sie als modellhaft gelten für eine kulturwissenschaftlich vorgehende Literaturwissenschaft, die profunde wissen(schaft)sgeschichtliche Kenntnisse mit der Sensibilität für ästhetische Formen zu verbinden vermag und damit die Verschiebungen, Nuancierungen und kritischen Revisionen erfassen kann, die humanwissenschaftliche Theoreme in literarischen Texten gerade durch spezifische poetische Verfahren erfahren. Dabei bewährt sich Gess’ Entscheidung für ein kleines Textkorpus, da erst ihre intensiven Lektüren die Bezüge dieser Texte auf Humanwissenschaften in ihrer Vielschichtigkeit und Differenziertheit herauszuarbeiten vermögen.

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Die besondere Leistung der Studie besteht vielleicht aber mehr noch darin, im Rahmen einer Analyse des primitivistischen Diskurses materialreich nachzuweisen, dass und wie die Auseinandersetzung literarischer Autoren mit humanwissenschaftlichen Theorien hier tatsächlich für die Innovation literarischer Formensprachen wirksam wurde. Dass wissenschaftliche Kontexte für die Wahl bzw. Neuprägung formaler literarischer Gestaltungsmittel bedeutsam sind, wird immer wieder behauptet, selten aber wird die Wechselwirkung zwischen Poetik und wissensgeschichtlichen Zusammenhänge tatsächlich greifbar gemacht. Dies ist in dieser Studie in bemerkenswerter Weise gelungen. Umgekehrt stellt die Studie einen ebenso materialreichen wie reflektierten Beitrag zur anhaltenden Diskussion um poetologische Dimensionen auch wissenschaftlicher Texte dar – welche sie eindrücklich belegt. Eine Fülle methodologischer Überlegungen zu aktuellen wissenspoetologischen Ansätzen macht die Studie schließlich auch unabhängig von ihrem thematischen Fokus lesenswert und bereichernd.

 
 

Anmerkungen

Das wachsende Interesse der Literaturwissenschaft an Globalisierungsphänomenen bezeugen etwa die neu eingerichtete Reihe Global Poetics der Bonn University Press, deren erster Band in diesem Jahr erschienen ist: Christian Moser/Linda Simonis (Hg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V & R unipress 2014 sowie die Bände Anna Babka/Alex Dunker (Hg.): Postkoloniale Germanistik: Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld: Aisthesis, 2013 und Gabriele Dürbeck/Alex Dunker (Hg.): Postkoloniale Lektüren: Perspektivierungen deutschsprachiger Literatur. Bielefeld: Aisthesis, 2013.   zurück
So etwa Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. München: Fink 2005 und Sven Werkmeister: Kulturen jenseits der Schrift. Zur Figur des Primitiven in Ethnologie, Kulturtheorie und Literatur um 1900. München: Fink, 2010.   zurück
Das gilt insbesondere für die französische Forschung bzw. die Forschung zu französischer Literatur, die von Gess’ germanistisch orientierter Studie nicht fokussiert wird. Siehe etwa Stéphane Legrand: Portraits du dégénéré, en fou, en primitif, en enfant et finalement en artiste. In: Methodos 3 (2003). URL : http://methodos.revues.org/107 (19.9.2014). Aber auch prominent schon Sartre rückblickend in Questions de méthode [1957]: »Nous adoptions avec enthousiasme toutes les doctrines qui divisaient les hommes en groupes étanches. Démocrates ‘petits-bourgeois’, nous refusions le racisme mais nous aimions à penser que la ‘mentalité primitive’, que l’univers de l’enfant et du fou nous demeuraient parfaitement impénétrables.« (Jean-Paul Sartre: Questions de méthode. Paris: Éditions Gallimard, 1960, S. 29-30).   zurück