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Register und Gesicht leiblicher Erfahrungen

Eine Kultur- und Funktionsgeschichte der Haut

  • Dagmar Burkhart: Hautgedächtnis. Mit einem Vorwort von Volker Steinkraus. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms 2011. 268 S. Hardcover. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-48714-631-7.
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»Nackte Haut«

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Dass nur wenige Zentimeter Haut genügen, um Diskussionsstoff zu bieten, Zen­soren auf den Plan zu rufen und ggf. eine ganze Gesellschaft inklusive ihrer po­litischen Institutionen auf Trapp zu bringen, wird nicht nur bei der (versuchten) Skandalisierung von Medienauftritten erkennbar, wie es Michael Jacksons Schwester Janet bei ihrem Super Bowl Auftritt mit Justin Timberlake im Jahr 2004 (»nipplegate«) widerfuhr. Weitaus höhere Wellen schlug – und bot zugleich damit auch tiefgründigere Einblicke – ein Urteil des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012, das die Beschneidung eines kleinen Jungen auch dann als Körperverlet­zung, also als Straftatbestand, wertete, wenn sie aus religiösen Gründen vollzo­gen wird. Fragen des Glaubens, der individuellen Religionsausübung, waren damit ebenso angesprochen wie das Verhältnis von Kir­chen/Religionsgemeinschaften und staatlicher Ordnung im Allgemeinen; das Recht auf die Un­versehrtheit des Leibes (Art. 2(2) GG) stand plötzlich gegen das Recht auf freie Religionsausübung (Art 3(2) GG), beide überwölbt und getragen von dem in Art 1(1) des Grundgesetzes festgelegten Leitwert der »Würde des Menschen«, zu deren Realisierung ggf. sowohl das Festhalten als auch das Abschneiden eines kleinen Stückchens Haut offensichtlich ihren Beitrag zu leisten vermögen.

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»Verletzte Haut«

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Aber mit diesem Stückchen Haut rückten auch über diese theoretischen Fragen hinaus mit einem Mal wieder das Zusammenleben unterschiedlicher Religionsgemeinschaften in einer (mehr oder weniger) säkularen Gesellschaft, der Umgang der Bundesrepublik mit ihrer Migrationsgeschichte und mit der Wirklichkeit einer Einwanderungsgesell­schaft, nicht zuletzt Fragen des Kindswohls und des Elternrechts in den Mittel­punkt öffentlicher Debatten; im Besonderen dann auch noch einmal die Frage nach der Möglichkeit, im Schatten der Shoah und unter den Bedingungen der heutigen Bundesrepublik ein jüdisches Leben in dieser Gesellschaft führen zu können, wenn dieses religiös gesehene Merkmal der Zugehörigkeit zugleich unter Strafvorbehalt gestellt werden sollte. Säkulare und kulturanthropologische Positionen und Beobachtungen meldeten sich hinsichtlich der Frage, wie mit der Entfernung und der damit ver­bundenen Markierung eines Stückchens Haut umzugehen sei, ebenso zu Wort wie politische Positionen und medizinische Fachlichkeit. Hinzu kamen die vielen kontroversen Stimmen unterschiedlicher Erfahrungsräume, Zielsetzungen und Zuständigkei­ten. Denn schließlich wird die Debatte um die Möglichkeit, Angemessenheit oder eben Gefähr­lichkeit und Unannehmbarkeit der Beschneidung doch weltweit, und sehr unter­schiedlich auch innerhalb der damit befassten Religionsgemeinschaften und von verschiedenen Richtungen ausgeführt, wobei medizinische und hygienische As­pekte ebenso eine Rolle spielen wie religiöse Überzeugung, politische Ansichten und Programme, aber auch Fragen des Geschmacks und der Selbstinszenierung. Nicht zuletzt müss(t)en geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigt werden und es stellt sich auch die Frage einer stellvertretenden ethischen Entscheidung (einer advokatorischen Ethik), wie sie von Eltern zu treffen ist, wenn sie sich für oder gegen die Markierung der Haut ihres Kindes zu einem Zeitpunkt entscheiden (müssen), an dem dieses noch unmündig ist.

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Hautzeichnungen

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Beide Beispiele können belegen, dass sich Haut skandalisieren und instrumenta­lisieren, ebenso aber auch schätzen und gestalten, ja ggf. »retten« oder auch zer­stören lässt. Mithin kann also eine Kulturgeschichte der Haut aktuell vom Striptease bis zum Brandschutz reichen, im historischen Längsschnitt vom geschun­denen Marsyas, jenem im Sängerwettstreit unterlegenen Satyr, dem Apoll als Sieger die Haut abziehen darf, über Körperkunst und Körperinszenierungen älte­rer und neuerer Stammesgesellschaften, mittelalterliche und frühmoderne Herrscher und Künstler bis hin zur body art, der Schönheitschirurgie und der medi­zinischen Dermatologie unserer Tage. Die Verbrennung der Haut mit Phosphor, bzw. die Vergiftung von Menschen im Vietnamkrieg der 1970er Jahre mit Hilfe von Dioxin-Präparaten (»Agent Orange«), erwies sich instrumentell als ebenso zerstörerisch und effektiv für die Kriegsführung wie die Bilder verbrannter Haut und entspre­chend »gezeichneter« Menschen politisch zu weltweitem Protest geführt und zu einer davon ausge­henden Delegitimierung des Krieges und der ihn führenden Mächte beigetragen haben. »Haut« ist in diesem Sinne nicht nur ein Organ und Medium des Menschen, sondern auch eine Gestaltungs- und Projektionsfläche für den Menschen, zugleich auch eine »Schnittselle« unterschiedlicher Sichtweisen auf ihn. Aber natürlich verfügen auch andere Lebewesen über Haut und in metaphorischer Hinsicht können auch Dinge eine Haut sein oder haben: Von der Kleidung über Zelt und Schlafsack bis zur Erdoberfläche und ebenso lässt sich dies von Milch oder Wasser, von Früchten und Farben sagen. Entsprechend bietet Haut ein Thema und Arbeitsfeld für die unterschiedlichsten Wissen­schaften: für Medizin, Biologie, Anthropologie, Ethnologie, Kunst, Literatur, für Philo­sophie und eben auch für Politik und Soziologe. Sie verbindet durchaus weit auseinan­der liegende Diskurse in (vielfach kontroverser) Weise und lässt sich sowohl als Spiegel und Medium unterschiedlicher übergreifender Vorstellungen vom Men­schen als auch jeweils ganz aktueller Trends, Obsessionen und ggf. auch Verstörungen sehen. Ein Arbeitsfeld also auch für interdisziplinäre Zugänge und eine historisch und gegenwartsbezogene Kulturwissenschaft und historische Anthropologie.

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»Natürliche Künstlichkeit«

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In diesem Sinne ist das Thema Haut also dann auch ein Paradebeispiel für aktuelle kulturwissenschaftliche Erkundung, wobei kulturwissenschaftlich hier zum einen die Syntheseleistung meint, mit der solche unterschiedlichen Themengebiete einer historisch-systematischen, Grenzdisziplinen einschließenden Sichtweise unterworfen werden, in denen sich die besondere Befähigung des Menschen erkennen bzw. erörtern lässt, sich selbst und seine Welt auf die Weise einer symbolischen Codierung und Ordnung sowohl zu schaffen als auch sich in deren Spiegel dann (in Maßen) als animal symbolicum (Ernst Cassirer) selbst erkennen, ja in gewissem Sinn »haben« zu können. Zum anderen geht es dabei aber dann auch darum, nicht nur Fakten, Wissen und Erfahrungen aus unterschiedlichen Themenfeldern und Sichtweisen zu bündeln, sondern in einer weiteren Hinsicht aus der Geschichte des Umgang mit und der Bezugnahme des Menschen auf seine Haut (und die anderer) etwas über die Natur des Men­schen, die nach Helmut Plessner ja gerade in seiner »natürlichen Künstlichkeit« besteht, zu erfahren. Dies ist dann mit der Frage verbunden, in welchem Maße es möglich ist, die Geschicht­lichkeit des Menschen: seine Zeiterfahrungen, sein Gewordensein und seine Vergänglichkeit – in individuell-biographischer Perspektive (ontogenetisch) ebenso wie in gruppen- oder gesellschafts- (kultur-) spezifischer Hinsicht (phylogenetisch) – im Spiegel einer Kulturgeschichte der in die Haut jeweils (gewollt oder unge­wollt) eingeschriebenen Erfahrungen vor Augen zu stellen und diese dann für kulturtheoretische Überlegungen aufzuschließen. Als intentional, kultu­rell, sozial und/oder auch durch Not, Gewalt und Zufall gestaltetes Medium kann die Haut in dieser Hinsicht als Erinnerungsraum und Speichermedium im Sinne eines kulturellen Gedächtnisses verstanden und entsprechend untersucht und zum Sprechen gebracht werden.

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Mythen, Märchen, elektronische Medien

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Diesem Vorhaben widmet sich das hier in Rede stehende Buch »Hautgedächtnis« der Hamburger Slawistin und Kulturanthropologin Dagmar Burghart in vielen Facet­ten, mit Blick auf unterschiedliche Zugangsweisen und wissenschaftliche Be­funde dann auch in seiner ganzen Breite. Dass die Haut als Oberflächen-Phänomen zugleich Natur und Kultur an einer Schnittstelle zum Vorschein bringt (und im natürlichen oder kulturellen »Scheinen« einer glänzenden Haut einmal die eine, einmal die andere Seite jeweils sowohl zeigen als auch verbergen bzw. überdecken kann), spricht gerade jene Voraussetzungen eines kulturwissenschaftlichen Zugriffs an (S. 9), die seit dem »cultural turn« zu Be­ginn der 1990er Jahre die neue interdisziplinäre und transdisziplinäre Ausrich­tung der aktuellen Kulturwissenschaften ausmacht. Denn gerade weil diese im Wechselverhältnis zu ihren jeweiligen historischen, disziplinären und auch kul­turellen Codierungen erst in verschiedenen Formen und Funktionen, also als Sinngebilde und Erfahrungsgegenstand, erscheint, kann es dabei nicht nur um den historischen Abriss einer Geschichte der Haut ge­hen. Vielmehr zeigen ja bereits Mythen und Märchen, erst recht die neuere phantastische Literatur, ebenso aber auch die Leistungen aktueller Gesichtschirurgie (S. 73–77), dass die Haut sich wechseln lässt, je­mand buchstäblich in die Haut eines Anderen schlüpfen, aus seiner eigenen Haut fahren, bzw. sich mehrerer Häute – wie Hannibal Lector in »Das Schweigen der Lämmer« (hier S. 203 f.) 1 – je nach Umständen und in ihnen bedienen kann. Haut als kulturell gestaltetes Muster und natürlich-künstliches Faktum erfordert damit auch einen anderen als einen historisch linearen Zugriff auf die vielen, sicherlich im einzelnen noch bis in Unendliche hin weiter zu führenden Informationen, Zitate und sonstigen Fundstellen zum Thema »Haut«, die die Autorin anschaulich und instruktiv aus den verschiedenen Wissenschaften, Künsten und Alltagsinsze­nierungen zusammengetragen hat. Mitunter kommt es dabei zu Doppelungen oder auch Wiederholungen, was wohl dem Umstand geschuldet ist, dass die Verfasserin ihren Gegenstand – und so auch manches Bespiel und Zitat – aus mehreren Perspektiven aufnimmt, unterschiedliche Sichtweisen damit verbindet und somit auch eine Multiplizität der Hautbezüge in unterschiedlichen Diskursen vermitteln möchte.

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Narben, Male, Falten

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Dazu sind die von ihr gewählten und – materialreich entfalteten – Ordnungsmuster ebenso nützlich wie einleuch­tend. Das Buch besteht aus drei großen Abschnitten, die sowohl das Interesse der Philologin als auch den Zugang der Kulturwissenschaftlerin/Kulturhistorikerin belegen: »Hautzeichen im wörtlichen Sinn« (S. 25– 77) bietet nach der Einführung in einige grundlegende Verstehens- und Ordnungsmöglichkeiten von Hautphänomenen, die die Einleitung schon anspricht (S. 9–23), zunächst eine Zusammenstellung dessen, was wir über die Haut aus historischer, medizinischer, alltagspraktischer und medial vermittelter Sicht wissen können. In der Art eines phänomenologischen Zugangs wird erkennbar, wie sich »Haut« in der wirklichen Welt und im zeitgenössischen, aber auch historischen Leben zeigt, wie sie wahrgenommen, gestaltet und ggf. auch instrumentalisiert oder auch nur »gebraucht« wird und wurde. In einem zweiten großen Abschnitt: »Narben, Male und Falten im übertrage­nen Sinn« (S. 79–115) werden dann Möglichkeiten und Beispiele vorgestellt, die den metaphorischen Gebrauch von Haut und Hautbezügen in den Bereichen der Geographie, der Geschichte, der Politik belegen und damit auch die Haut als Ort, Objekt und Zeichen psychi­scher Erfahrungen, entsprechender Einkerbungen (Gilles Deleuze) und Verletzungen ausweisen können. Im Blick auf vernarbte Wunden und die in diesen angezeigten, noch virulenten seelischen Verletzungen (Traumata) wird hier auch von Ansätzen berichtet, diese historischen, sozialen und jeweils auch individuellen Leiden und Leidensmale mit Hilfe von Haut-Modellierungen zu bearbeiten, ggf. zu lindern oder auch ganz zu heilen. Von der literatur- und kulturwissenschaftlichen Ausrichtung und Expertise der Autorin aus naheliegend, ist schließlich der dritte, umfangreichste Teil des Buches (S. 117–205) den »symbolische(n) Hautgedächtnis-Zeichen in der Kultur« gewidmet. Neben vertrauten und verbreiteten Narrativen der religiö­sen Überlieferungen, der Volkskulturen und der Mythen stehen hier Literatur, bildende Kunst und Fotografie sowie Theater, Film und andere massenmediale Inszenierungen im Mittelpunkt. Gerade in diesen Bereichen lassen sich viele Ansatzpunkte und zahlrei­che Beispiele finden, die deutlich machen, welchen Reichtum an Formen und Gestaltungsmöglichkeiten die Haut als biologische Gegebenheit, kulturelles Phänomen und symbolisches Feld bietet; sicherlich wäre hier auch noch mehr zu finden und zu kommentieren. Offensichtlich geht es der Verfasserin an dieser Stelle aber weniger um eine weitere systematische oder theoretische Fassung des Themas als vielmehr darum im Sinne eines Lese- (und auch Bilder-)Buches Anschauungsmaterial vorzustellen und so ein breiteres Lesepublikum für das kulturelle Phänomen und eine darauf bezogene kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise zu interessieren. Mitunter weiten sich die Kommentare zu einer allgemeinen Jugend- und oder Kulturkritik aus (bspw. S. 60 ff., zum Schönheitswahn, S. 73–77) oder transportieren manchmal auch Missverständnisse, etwa wenn von einer »religiös begründeten Genitalbeschneidung […] im Judentum und im Islam […] an männlichen und weiblichen Kindern« (S. 216, Fn. 87) die Rede ist.

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Kategorien und Ordnungsmuster

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Sehr lesenswert und hilfreich, nicht nur für die Strukturierung des Mate­rials, sondern auch für eine kulturgeschichtliche, sozialanthropologische Weiterung des Horizonts und Arbeitsfeldes­ sind die für das Buch entwickelten und von der Autorin dann für die Ausführung auch genutzten ordnungs- bzw. systembe­zogenen Differenzierungs- und Denkmodelle, unter denen das Phänomen der menschlichen Haut angegangen werden kann. Neben den vielen Beispielen, Zitaten sind zudem die beiden sehr aufschlussreichen Interviews, einmal mit dem Fotografen Peter Wat­tendorff (S. 52–54) und einmal mit der Schriftstellerin und Literaturwissen­schaftlerin Ulrike Draesner (S. 167–174), hervorzuheben, da sich hier, zumal in Draesers Beitrag ebenso eigenwillige wie anregende Sichtweisen formuliert finden, die noch einmal die Komplexität, die Vertrautheit und zugleich Irritation belegen, die von einer Beschäftigung mit der Haut ausgehen können. Denn gerade in der Differenzierung und im Vergleich dieser unterschiedlichen Zugänge lässt sich die vieldimensionale kultu­relle Bedeutung der Haut erkennen, wobei durch die Zusammenführung beider Ebenen: der Haut als kulturellem Bezugsfeld und der Hautsymbolik als Ansatzpunkt eines kulturwissenschaftlichen Arbeitens deren anthropologische Bedeutung auch noch einmal hervorgehoben wird. Immerhin ist sie mit ca. 1,6 m2 das größte und mit 16% Anteil am Körpergewicht auch kein Leichtgewicht unter den menschlichen Organen (S. 9).

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Erste, zweite, dritte und vierte Häute

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Angesichts der Fülle von Beispielen, Funden und Bezügen muss es natürlich auch um eine Strukturierung der Phänomene und Funktionen, und damit auch impli­zit um eine Zuordnung und Interpretation des Materials gehen. Diesem Bestreben dient zunächst die – natürlich dann auch wieder metaphorisch nutzbare – Unterscheidungsmöglichkeit einer ersten, zweiten, dritten und vierten Haut (vgl. S. 13, S. 21–23 und öfter): Zum Ersten die Haut, die den einzelnen Menschen umschließt (1), zum Zweiten die Kleidung als Überzug, Schutz und natür­lich auch Darstellungsfläche des jeweiligen Körpers/Menschen (2), zum Dritten die Haut als Metaphorik für jene einen Menschen und ganze Gruppen umfassenden sozialen Beziehungen bis hin zur Vorstellung einer Gesellschaft im Ganzen (3) und schließlich zum Vierten Haut als Bezeichnung für die symbolisch-epistemologischen, aber auch ggf. ideologischen Orientierungsrahmen (4), in denen Menschen sich im Rahmen ihrer eigenen Selbst- und Weltdeutungen zuordnen, bewegen, die sie schützen und umfassen und in die sie jeweils dann auch (in Teilen) wieder verstrickt sind. Diese Aufgliederung bietet im weiteren Verlauf des Buches dann die Gele­genheit, unterschiedliche Ebenen der Inszenierung, auch der Instrumentierung und letztlich der kulturellen Codierung von Haut zu bestimmen und entspre­chende Phänomene jeweils zuzuordnen.

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Anfang, Ende und das Leben in der Mitte

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Eine andere wichtige Funktion, zumal es im Buch gerade auch um die Funktionen der Haut als individuelles, soziales und im Sinne von Maurice Halbwachs kulturelles Gedächtnis geht, kommt der Unterscheidung von Hautmerkmalen in Alpha-, Omega- und Zoezeichen zu. Mit ihnen wird die Geschichtlichkeit, die Naturgegebenheit bzw. das Gewordensein einer bestimmten Haut, eines bestimmten Menschen in seinem Lebensverlauf und unter seinen Umständen eben am Zustand seiner/ihrer Haut fass- bzw. auch beschreibbar. Dabei beziehen sich die mit den grie­chischen Buchstaben angesprochenen Merkmale auf naturhaft vorgegebene, intentional geschaffene oder aber durch mehr oder weniger subjektiv ver­antwortete bzw. auch unverantwortete Außeneinwirkung zustande gekommene Einkerbungen/Eindrücke, die sich auf einer jeweils vorhandenen menschlichen Haut finden und von ihrem Geschick berichten bzw. als Dokumente gelesen werden können; die Haut eines Menschen hat in diesem Sinne nicht nur etwas zu erzählen sondern kann ihn/sie auch selbst erzählen. Alpha-Zeichen wie Muttermale oder der Bauchnabel berichten als universal vorhandene Merkmale von der Geburt und dem Herkommen eines menschlichen Kör­pers. In Omega-Zeichen, die wie Altersflecken oder andere Hautveränderungen dem Altern der Haut zuzuschreiben sind und auf unausweichliche Veränderungen und auch Abnutzungen des Menschen im Laufe seines Lebens, also auch auf seine Endlichkeit, hinweisen, kommt die zeitliche Dimen­sion des Lebens zum Vorschein: das geboren Werden um zu sterben, ein Sein zwischen Geburt und Tod unter den unentrinnbaren Vorgaben der Vergänglichkeit. Damit stellt sich die Gegebenheit der Haut auch als ein Menetekel des Lebens dar.

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Hinzu kommen die einen bestimmten Lebensverlauf und die damit verbundenen Erfahrungen dokumentierenden, aus ihm hervorgegangenen, ihn reflektieren­den und damit auch symbolisierenden Zoe-Zeichen, die nicht nur von der Plastizität und Verletzlichkeit des Menschen berichten, sondern in den jeweiligen Hautformen und Hautgestaltungen sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit bezeugen, dass Menschen sich in ihrem Leben selbst entwerfen und in diesem Rahmen sich wieder auf andere beziehen können und müssen. Dass diesen drei Zeichenfeldern mit der Unterscheidung von »Malen« die wie die Muttermale mit dem Menschsein auf die Welt gekommenen sind, »Falten«, die den Zeitverlauf und einen entsprechenden Alterungsprozess dokumentieren, und »Narben«, die auf eine konkrete und ggf. individuelle Lebensgeschichte verweisen, dann noch eine weitere Ebene der Beschreibung und ggf. analytischen Zuordnung beigestellt wird, gehört sicherlich zu den nützlichsten Vorschlägen und zum weiteren Arbeiten anregenden Instrumenten, die das vorlie­gende Buch anzubieten hat.

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Schutz, Signum, Erfahrungsfeld des Humanen

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Hierauf gründet dann ganz zu Recht der von der Verfasserin immer wieder auf­genommene und an zahlreichen Beispielen aus den Bereichen der Medizin und der Mode, den Medien und Künsten und nicht zuletzt aus den unterschiedlich­sten Alltagsvollzügen belegte Anspruch, mit einer kulturgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Untersuchung von Hautphänomenen einen Zugang zu einer Kulturanthropologie des Menschen zu eröffnen. Der besondere Akzent einer kulturwissenschaftlichen Perspektive besteht dabei in der Ausarbeitung der Formen, die zum einen von der Gemachtheit (Techne, Poiesis) des Menschen, von seiner Geschichtlichkeit, Veränderbarkeit und auch Verwundbarkeit, berichten und zum anderen gerade darin auch die Spuren seiner Kreativität, Produktivität und Reflexivität aufweisen können. Eindrucksvoll wird dies in umfassenderen historischen Ausfüh­rungen etwa zur Markierung der Sklaverei auf dem Rücken der Sklaven (S. 46–51) belegt, wobei dann auch andere Formen der Brandmarkung, bspw. in Fällen unbotmäßigen oder widersetzlichen Verhalten, berücksichtigt werden, insbesondere aber auch die willkürliche Zeichnung von Menschen in den NS-Vernichtungslagern bzw. auch im GULAG (S. 91–107) anzusprechen ist.

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Oberfläche als Essenz

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»Die Haut in ihrer Abgründigkeit«, so heißt es schon recht bald in einem der frühen Abschnitte dieser Studie, »spiegelt die Essenz menschlichen Daseins wieder. Sie trägt die Lebendigkeit, aber auch die Verwundbarkeit und den fortschreiten­den Verfall nach außen. Male, Falten, Narben und andere ungewollte Hautein­schreibungen formieren Lebensspuren…«. (S. 34) Der Zustand der Haut, die darauf ablesbaren Male berichten vom Leben, ei­ner Existenz, wie sie gelebt wird und erlebt wurde, davon dass dieses konkrete Leben gefährdet und verletzlich ist und enden wird. Mit diesen Malen stellen sich gleichzeitig die Aufgaben ihrer Interpretation, die – so zeigen es Kultur-, Religions- und Sozialge­schichte, auch die Literatur – vom einzelnen Menschen nicht immer alleine gelöst werden können, sondern ggf. übergreifender Sinnorientierungen (einer oder ggf. auch mehrerer Exemplare einer vierten Haut) bedürfen, die ihrerseits natürlich auch den Menschen wieder für weitere Verletzungen anfällig machen: Für ideologische Übernahmen, Selbstüberhöhung oder aber auch Ignoranz, die ihrerseits wiederum in Macht und Gewalt, also auch in Zerstörung aller kulturellen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens münden kann.

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Als zuletzt die Wellen im Beschneidungs-Diskurs hochschlugen, hat die Berliner Kulturhistorikerin Christina von Braun in einem Interview Vorhautbeschneidung als ein »Körper gewordenes Symbol« bezeichnet und sich gegen deren Einordnung als Straftatbestand ausgesprochen. Vielmehr handele es sich um eine Möglichkeit der »Einschrei­bung menschlicher Versehrtheit in den männlichen Körper. Die Fantasie männ­licher Unversehrtheit hat viel Unheil angerichtet, das viel deutlicher den Straftatbestand erfüllt.« (taz 1. 9. 2012). Nicht zuletzt die Bildbeigaben des vorlie­genden Buches zeigen, wie und in welchem Maße wir von der Rätselhaftigkeit des Le­bens und des In-der-Welt-Seins in jenen Spuren lesen können, die wir selbst und die anderen, aber auch das Leben als natürlicher und zugleich nur partiell zugänglicher Vorgang auf unserer Haut hinterlassen haben.

 
 

Anmerkungen

Inzwischen ist sein »I‘m having an old friend for dinner (tonight)« vielfältiger Anlass für weitere kulturwissenschaftlicher Erkundungen über die kulturelle Konstruktion des Menschen und seiner Abgründe geworden; vgl. Daniel Fulda/Walter Pape (Hg.): Das andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Freiburg: Rombach 2001.   zurück