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Nach-denken

Die Struktur der Medien

  • Claude Lévi-Strauss: Wir sind alle Kannibalen. Berlin: Suhrkamp 2014. 252 S. Gebunden. EUR (D) 26,95.
    ISBN: 978-3-518-58613-6.
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Die Agenda des Ethnologen, bzw. das ethno-logische Verfahren, ist sicherlich nicht selbstverständlich. Mit dem zuletzt erschienenen Band Wir sind Kannibalen ließe sich der Arbeitsprozess in folgende Schritte zusammenfassen: Beobachten, Differenzieren, Vergleichen, Kohärenz herstellen. Einen besonderen Platz nehmen hierbei Metapher und Analogie ein. Alle 16 Kapitel 1 , die diese Schritte und Elemente auf die eine oder andere Weise veranschaulichen, sind ursprünglich von 1989–2000 als Artikel in der italienischen Zeitung La Repubblica erschienen. Obwohl diese Artikel als Kapitel in ihrer Gesamtheit einen repräsentativen Eindruck von Claude Lévi-Strauss Gesamtwerk geben mögen, liegt die eigentliche Schwierigkeit, die sich mit der Rezension einer solchen Textsammlung stellt, weniger in der kontextuellen Einordnung und vielmehr bei einer plausiblen Zusammenfassung. Wie lässt sich Verschiedenes zu Einem zusammenfassen?

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Eben diese Schwierigkeit, die dieses Buch an seinen Leser stellt, ist auch die Aufgabe eines jeden Ethnologen bei seinen Untersuchungen: Wie lässt sich Alterität kohärent denken? Es ist fast unmöglich, alle Kapitel einzeln und für sich zu besprechen und ihnen dabei gerecht zu werden. Deshalb seien einige sehr beispielhafte Kapitel herausgegriffen und beobachtet. Bei dieser Einheit (Buch) aus Vielheiten (Artikel) ist die Vermutung, dass Wir sind alle Kannibalen selbst Ausdruck und Beispiel für Lévi-Strauss’ Methodologie ist. Es soll nun darum gehen, diese Elemente zu identifizieren, aber auch in ihrem Vergleich auf die eigentliche Struktur zu stoßen.

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Beobachten: Kultur(en)

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Lévi-Strauss behandelt die ethnologische Methode an sich, stellt aber auch Fragen der kulturellen Praktik(en), und zwar stets im Rahmen eines Kulturvergleichs. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass das Wort Ethnie im speziellen auf das (andere) Volk verweist und allgemein als Begriff für das zu verstehen ist, was der eigenen Kultur fremd ist, was also ein ›Jenseits der eigenen Kultur‹ bildet. 2 Ethnologie muss daher immer schon voraussetzen, dass es andere Kulturen gibt. Dafür ist grundlegend davon auszugehen, dass zwar eine menschliche Kultur existiert, es aber gleichzeitig verschiedene gesellschaftliche Kulturen gibt. Man muss demnach prinzipiell zwischen der einen und der anderen Kultur differenzieren. Mittels des Vergleichs lassen sich diese »gegenseitig« »bestimmen« und führen schließlich zu einer Definition, 3 die sich Struktur nennt. Man versucht also eine Kultur durch eine andere »aufzuhellen« und zu erklären. 4

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Die allgemeine Differenzierung soll von der Spezifik der Kulturen zu der Allgemeinheit der (menschlichen) Kultur, von Differenz zu »Kohärenz« (S. 78) führen. In dem Kapitel Gesellschaftliche Probleme: Weibliche Beschneidung und assistierte Reproduktion (1989) wird diese Differenzierung der Kulturen besonders deutlich. Dort wird u.a. anhand des Beispiels der weiblichen Beschneidung (S. 74 ff.) der Konflikt zwischen dem Rechtssystem einer Kultur und dem »Glaubenssystem« (S. 79) einer anderen Kultur aufgezeigt.

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Es wird folglich nicht nur die Differenz zweier Kulturen veranschaulicht, sondern auch gezeigt, dass und wie sich diese Kulturen wiederum in sich differenzieren. Um das zu erklären, referiert Lévi-Strauss einen Präzedenzfall aus dem Jahr 1988, in dem es wegen einer Beschneidung zu der Anklage wegen schwerer Körperverletzung kam, da das behandelte Mädchen gestorben ist. Diesen vergangenen Fall bezieht er auf einen anderen Fall aus dem Erscheinungsjahr des Artikels, bei dem dasselbe Urteil gesprochen wurde wie in erstem Fall, obwohl die Beschneidung keine Folgen nach sich gezogen hatte. Die Problematik liegt hier demzufolge nicht nur in einer unterlassenen Differenzierung der Situation, sondern vor allem auch in dem Versuch, die Differenzierung zwischen den Kulturen aufzuheben, da eine Kultur die andere Kultur nach ihren eigenen Maßstäben beurteilen will.

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Weiter bespricht er, warum das eine System das andere System eigentlich nicht beurteilen kann. Das Rechtssystem habe die Aufgabe, das »Wertesystem« (S. 79) einer Kultur gegen das einer anderen zu vertreten. (Gegen-)Bewegungen innerhalb des einen Wertesystems, wie in diesem Fall der Feminismus (S. 75), zwingen wiederum das Rechtssystem zu einer repressiven Reaktion gegenüber dem anderen Wertesystem, weil sie ihre eigenen Werte in einem anderen Wertesystem verletzt sehen.

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Mit Montaigne erklärt er, wie ein kulturelles Wertesystem definiert ist. Jeder Kultur liegt eine andere »Argumentation« (S. 135) zugrunde. Mit der Argumentation ist gemeint, wie eine Kultur ihre kulturellen Praktiken begründet und plausibel macht. So wäre Beschneidung legitim, je nachdem, in welchem kulturellen Rahmen sie stattfindet. Lévi-Strauss als Ethnologe in beratender Funktion schlägt im Fall der weiblichen Beschneidung vor, die Traditionen und Praktiken einer Kultur in der anderen Kultur zu akzeptieren und zu erlauben oder aber diese andere Kultur mit ihren anderen Bräuchen auszuweisen (S. 80): Entweder Akzeptanz oder Verweis. Die männliche Beschneidung der jüdischen Tradition sei beispielsweise eine solche akzeptierte kulturelle Praktik, (S. 77) während die weibliche Beschneidung (nach wie vor) empört (S. 75) und zu kulturellen Spannungen führt.

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Differenzieren: Sozialer Riss wie Soziales Band

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An dem speziellen Beispiel der weiblichen Beschneidung wird ein allgemeines Phänomen (in) der menschlichen Wirklichkeit beschrieben: Das Verschieben einer Kultur in eine andere führt zu »inneren Differenzen« (S. 89). Verschiedene Kultursysteme stehen nicht wie gewöhnlich nebeneinander, sondern sie existieren ineinander. Da Kulturen nicht nur aus Gegensätzlichkeiten bestehen, sondern ebenso in Gesetzlichkeiten leben, müssen sich bei einer solchen Verschiebung der Kulturen auch die Diskurskonstruktionen und die Ethnologen als Beobachter eben dieses Vorgangs mit bewegen. Die Methode des Ethnologen als ein Prozess der Differenzierung muss demnach ständig mit den aktuellen Bewegungen der Kulturen mithalten und sich folglich selbst immer wieder neu aktualisieren. Wenn sich Kulturen ineinander verschieben, so erklärt er, muss sich auch der Ethnologe anders positionieren. Selbst wenn ein Phänomen wie die Globalisierung oberflächlich zu einer Vereinheitlichung der Kulturen anleiten will (S. 88), bleiben Differenzen erhalten.

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Die Globalisierung entwickelt sich Lévi-Strauss zufolge zu einer Art Umkehrung des Kolonialismus, (vgl. S. 89) was dazu führt, dass sich die Fragen an den Ethnologen, aber auch dessen Position verschieben (S. 88). Deshalb erklärt der Ethnologe auch nicht mehr die fremde Kultur mit der eigenen Kultur, vielmehr werden in diesem Buch zunehmend eigene Kulturphänomene mit fremden Kulturerzählungen verglichen. Er muss demzufolge nicht mehr eine fremde Kultur erklären können, er soll bei der Identifikation seiner eigenen Kultur durch eine andere Kultur helfen. Damit bringt Levi-Strauss seinem Leser bei, das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen. Was uns zudem mit diesem Kapitel gezeigt wird, ist der Umstand, dass sich nicht die Gegenstände, sondern die Fragen an die Gegenstände verändern. Lévi-Strauss vergleicht hier nicht nur die ethnologischen Gegenstände, sondern befragt auch die Wissenschaft der Ethnologie als ethnologischen Gegenstand.

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In dem beschriebenen Beispiel fallen äußere und innere Differenzen zusammen. Recht und Religion treten in Konflikt. Das Ineinanderschieben der Kulturen resultiert daher nicht in einer vermutlichen Einheit, sondern in einem ›sozialen Riss‹. In dem Kapitel Auguste Comte (1994) schließt er an dieses Problem an und zeigt am Beispiel von Comtes Système de politique positive (1851) auf, dass der politische und geografische »Zerfall« eines Landes dem »Normalzustand der menschlichen Gesellschaft« ähnelt. (S. 166) In diesem Kapitel wird von einer (spez.) politischen Struktur gesprochen, die sich einer allg. sozialen Struktur annähert. So wie sich ein Land in mehrere Staaten gliedert, so teilt sich eine Kultur in verschiedene Kulturen.

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In Anschluss an das Kapitel Montaigne und Amerika (1992) knüpft er an das Prinzip der kulturellen Differenzierung an und referiert die entscheidende Frage, die ihn interessiert und die Montaigne stellt: Wenn wir von einem prinzipiellen ›sozialen Riss‹ ausgehen müssen, von »welcher Natur ist [dann] das soziale Band?« (S. 133) Die Entdeckung Montaignes ist eine systematische: Er erkennt, dass »eine Kultur innere Gegensätzlichkeiten aufweisen kann und daß zwischen den Kulturen äußere Gegensätzlichkeiten existieren.« (S. 134) Kultur muss sich daher notwendig in und mit Kulturen auseinander-setzen und trotzdem eine gegenseitige Zusammensetzung, die Struktur, denken können. Die eine Kultur muss sich in der Differenzierung zu einer anderen Kultur erkennen können. Damit ist die Differenzierung auch ein Prozess kultureller Identifikation.

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In dem titelgebenden Artikel Wir sind alle Kannibalen (1993) vergleicht Lévi-Strauss das Verzehren von Menschenfleisch in den Völkerstämmen Neugineas (S. 151) mit den Injektionen und Transplantationen menschlicher Teile unter anderem in England, Neuseeland und den Vereinigten Staaten (S. 153). Bei den neuguineischen Gruppen war es Bestattungsritual, verstorbene Verwandte zu essen. (S. 151) Jedoch wurden diese Stämme von der Kuru-Krankheit befallen. War der Tote damit infiziert, dann verschiebt sich, durch den Verzehr des infektiösen Fleisches, die Krankheit von dem toten auf den lebendigen Menschen.

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Bei der Behandlung bestimmter menschlicher Störungen des Wachstums oder der Fruchtbarkeit, in den oben genannten Ländern, lässt sich Ähnliches beobachten. Beispielsweise wurde versucht, diese Störungen zu beheben, indem man dem ungesunden Menschen das fehlende Hormon von einem anderen gesunden Menschen implantiert. (S. 153) Folglich wurden nicht nur die Hormone von einem menschlichen Gehirn in ein anderes transplantiert, (Ebd.) mit ihnen wurden auch die Erreger der Creutzfeld-Jakob-Krankheit übertragen, (Ebd.) die mit der Kuru-Krankheit »identisch« ist. (S. 150) Beide Praktiken werden von ihren Kulturen als legitim aufgefasst, und in beiden Fällen resultiert die Praktik in einem Problem, nämlich in einer Krankheit. Wo die Krankheit ihren Ursprung nimmt, wird nicht erklärt, es geht lediglich um die Übertragung als eine Form der Verschiebung. Obwohl hier verschiedene Praktiken und Kulturen miteinander verglichen werden, handelt es sich für Lévi-Strauss in beiden Fällen um eine Form des Kannibalismus (S. 153), weil hier eine prekäre Differenzierung zwischen dem Eigenen und dem Anderen stattfindet.

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Im Folgenden geht es ihm darum, das kannibalistische Prinzip zu charakterisieren. Was ist Kannibalismus und wie funktioniert Kannibalismus? Er kommt zu dem Entschluss, dass es sich bei dem Kannibalismus um eine »ethnozentrische Kategorie handelt: er existiert nur in den Gesellschaften, die ihn verbieten.« (S. 157) Demnach definiert er eine gesellschaftliche Grenzlinie, die je nach Kultur anders gesetzt wird. In der abendländischen Kultur ist es tabu, seinen Mitmenschen zu essen, aber ein Rind zu verspeisen gilt als legitim. (S. 199 ff.) Jedoch wäre beispielsweise im Buddhismus jeder Fleischkonsum als Kannibalismus zu verstehen, (S. 157) weil nach der Gesetzlichkeit dieser religiösen Gemeinschaft keine typische Trennung zwischen Mensch und Tier gemacht wird. (S. 200/201) Kannibalismus beruht demnach auf einem Prinzip der (falschen oder irrtümlichen) Identifikation. Der Prozess der Identifikation aber zeichnet eine funktionale Gesellschaft aus:

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Jean-Jaques Rousseau sah den Ursprung des sozialen Lebens im Gefühl, das uns drängt, uns mit dem anderen zu identifizieren. Schließlich ist das einfachste Mittel, den anderen mit einem selbst zu identifizieren, immer noch, ihn zu verzehren. (S. 158)
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Es kommt also darauf an, wie sich eine Kultur definiert und wer in ihr als zur Gesellschaft gehörig gezählt wird und was nicht. Hier stellt sich der eigentliche Kern und die Lektion heraus, die Claude Lévi-Strauss mit seinem Buch und dem Kapitel Wir sind alle Kannibalen klarmachen möchte: der Kannibalismus ist ein Prinzip und eine Struktur, die jeder sozialen Gesellschaft direkt oder indirekt zugrunde liegt. (S. 159) In diesem Sinne wird der Titel des Buches zu einem Diktum allgemein menschlicher Sozietät. Kannibalismus beschreibt unser eigentlich konstantes Identifikationsproblem in einer modernen Gesellschaft. Das ständige Abtasten von Ähnlichkeiten, das Identifizieren des Eigenen und des Anderen ist das, was Gesellschaft strukturiert. Der Vergleich agiert dann als eine Grundvoraussetzung für die Idee von Identität. Deshalb ist der eigentliche ›soziale Riss‹ in Wirklichkeit nichts anderes als das ›soziale Band‹.

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Vergleichen: Mythen und menschliche Wirklichkeit

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Daran anknüpfend beschäftigt Lévi-Strauss die Frage nach der eigentlichen Fassbarkeit dieser Struktur(en) der Gesellschaft. Er möchte wissen, wie das ›soziale Band‹ tatsächlich greifbar wird? So folgt auf die Definition der Kultur die Frage nach dem Denken einer Kultur. Dafür geht er davon aus, dass die Mythen einer Kultur auch das Denken (der Wirklichkeit) einer Kultur repräsentieren. In dem Kapitel Variationen über das Thema eines Gemäldes von Poussin (1994) deutet er an, dass bei einem Mythenvergleich auditive und visuelle »Codes« (S. 183) eine Rolle bei der Beobachtung spielen, er dementsprechend Mythen auch mit einem (un)bewußtem Seitenblick auf Medientechniken ansieht. In dem Kapitel Mythisches Denken und wissenschaftliches Denken (1993) beschreibt er Mythen als eine Verdichtung dieser beiden Codes in Form der »bildlichen Sprache« und bezeichnet diese als »grundlegenden Modus des Denkens«. (vgl. S. 146) Philosophische Begriffe markieren lediglich die Grenzen unseres Denkens, weil sie sich nur mit den Bedingungen der Möglichkeit von Denken beschäftigen (S. 143) und eben nicht wie das mythische Denken mit den Strukturen des Denkens selbst. Demzufolge besteht ein entscheidender Konflikt zwischen dem Denken und dem, was wir glauben oder begreifen. (S. 138) Mythen liegen noch vor dem (begrifflichem) Denken, sie seien der »Architektur des Geistes« (Ebd.) bereits eingeschrieben, noch bevor sie der erdachten Welt »adäquat« werden könnten. (S. 145): Demnach bilden sie die eigentlichen Konditionen für das Denken (des anderen). Mythen sind Bilder, die etwas fremdes Anderes 5 , Unfassbares oder Indirektes, aber Implizites anschaubar machen können, Mythen »versuchen […] eine Struktur wahrnehmbar zu machen, die sich den direkten Beschreibungsbemühungen entzieht« (S. 146). Mythen erfüllen demnach eine Medienfunktion, sie machen eine Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit denkbar. Mythen erlauben letztendlich auch, so Lévi-Strauss, von der »Struktur des Denkens« zu einer »Struktur der Wirklichkeit« zu gelangen. (S. 245)

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Immer inszenieren die Mythen allerlei aus der Sicht der gewöhnlichen Erfahrungen absurde und widersprüchliche Geschöpfe und Ereignisse, die in einem Maßstab, wie dem des Mythos, aufhören, völlig sinnlos zu sein. Das liegt daran, daß sie, sozusagen andeutet, in der Architektur des Geistes, der, von dieser Welt ist, bereits eingeschrieben sind und daß sich die von den Mythen vorgeschlagenen Bilder der Welt eines Tages als dieser Welt adäquat erweisen werden und geeignet, bestimmte Aspekte von ihr zu veranschaulichen. (S. 144/145)
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Was uns diese Textstelle erzählt, ist, dass Mythen absurde Literaturen mit großem Potenzial sind. Mythen sind der eigentlichen Wirklichkeit schon »eingeschrieben«, noch bevor sie von dieser geäußert werden. Dieses Eingeschriebene bezeichnet eine verborgene Struktur, und diese äußert sich in solchen Sprachbildern wie den Mythen. Es wäre also ein Irrtum, zu denken, dass diese Mythen erst erfunden werden müssen, tatsächlich sind sie immer schon da. Mythen existieren als ein der Wirklichkeit verdeckt Inhärentes und gleichzeitig ist gerade dieses in der Wirklichkeit Verdeckte das, was die Wirklichkeit aufdeckt. Der Mythos ist das der Kultur wie eine Signatur Eingeschriebene, jene versteckte Struktur, die erdacht erscheint und zugleich tatsächlich wirklich ist.

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Kohärenz herstellen: Von der Struktur der Gesellschaft zur Struktur der Medien

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Das Buch Wir sind Kannibalen prüft demzufolge nicht nur die Ethnologie als Gegenstand der Ethnologie, es befragt auch die Ethnologie auf seine Medialität hin. Diese Themenstellung wird für den Leser des Buches auch medial vorgeführt. Mit dem Nachdruck der Zeitungsartikel 6 in das Buch entsteht eine Textwiederholung, aber auch eine Medienverschiebung. Zeitungslektüre wird zum Buchlesen, Artikel erscheinen als Kapitel, usf. Diese Medienverschiebung will den Prozess der Mythenbildung repräsentieren. Man könnte vielleicht sagen, sie sind Medien der Mythen. Denn Zeitungen besprechen in der Regel das, was aktuell Diskurs ist. Mit dem Nebeneinanderstellen von verschiedenen Artikeln kommt es auch zu einem ständigen Vergleich von Aktualitäten. Gleichzeitig erheben diese Artikel Anspruch auf die(se) Wirklichkeit(en), sie denken die Wirklichkeit, aber sie können aufgrund der mit ihrer Aktualität einhergehenden Zeitgebundenheit nicht über die Wirklichkeit hinaus nach-denken. Erst mit der Wiederholung eines Textes entsteht das eigentliche Denken (des Buches), nach dem Denken (des Zeitungsartikels). Anders gesagt, das Lévi-Straussche Nach-Denken entsteht erst mit dem Verschieben der Zeitungsartikel in das Buch.

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Fazit:

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Das Bemerkenswerte an dem Buch Wir sind alle Kannibalen ist, dass der Kannibalismus der Gesellschaft als definierendes Prinzip zugrunde gelegt wird, dieses Konzept aber gleichzeitig mit dem Verschieben von Zeitungsartikeln in ein Buch medial umgesetzt wird. Diese Verschiebung ist selbst ein kannibalistisches Prinzip. Und die Differenzen zwischen den Medien Zeitung und Buch lösen sich in einem Medien-Kannibalismus auf. Kannibalismus, so scheint es, ist eine Struktur, die Kultur garantiert. Das Buch über Kannibalismus zum »Kultbuch« (so sagt es der Klappentext) zu erklären, ist insofern gerechtfertigt, als es selbst und in sich Prozesse der Kultivierung aufzeigt: nämlich Differenzierung und Verschiebung. Es ist der Kannibalismus, der bei Wir sind alle Kannibalen Medienform und Medieninhalt performativ verbindet. So wird die Struktur der Gesellschaft zu der Struktur der Medien. Das alles zu rezensieren produziert wiederum die Aufgabe einen Text über einen Text zu schreiben, zu zitieren, sprich einen Text in den Anderen aufzunehmen. Und gerade dadurch wird diese kannibalistische Struktur wiederholt. Kurz gesagt, Rezensieren an sich bedeutet bereits einen (Medien-)Kannibalismus. Claude Lévi-Strauss‘ Wir sind alle Kannibalen kann man also lesen, um – anhand von nach wie vor aktuellen Diskursen – einen wesentlichen Einblick in sein gesamtes Nach-Denken zu bekommen. Darüber hinaus bietet dieser Band seinem Leser aber eben auch die Mittel, um eine titelgebende These tatsächlich zu verinnerlichen.

 
 

Anmerkungen

Ausgenommen aus dieser Sammlung ist der den Artikeln vorangestellte Essay Der gemarterte Weihnachtsmann, der ursprünglich 1952 in der Zeitschrift Les temps modernes (damalig unter der Herausgeberschaft von Jean-Paul Sartre) erschien.   zurück
»Gegenstand der Ethnologie ist – zunächst einmal ganz allgemein formuliert – das kulturell Fremde.« Karl-Heinz Kohl: Ethnologie – Die Wissenschaft von dem kulturell Fremden. [1993] München: Beck 2012, S. 16.   zurück
Gilles Deleuze: Was ist Strukturalismus? [1973] Berlin: Merve 1992, S.  21.   zurück
In Anlehnung an Ferdinand Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin/New York: de Gruyter 2001, S. 2: »Eine Sprache durch eine andere aufzuhellen, die Formen der einen durch die Formen der andern zu erklären«. Lévi-Strauss‘ Methodentransfer liegt grob formuliert darin, den Vergleich der Wortstämme in den Vergleich von Völkerstämmen zu übersetzen.   zurück
Der Mythos »entspricht einem Transformator, der Nachrichten aus verschiedenen Kulturkreisen vermittelt.« Ursula I. Meyer: Paul Ricoeur: Die Grundzüge seiner Philosophie. Aachen: ein-Fach-verlag 1991, S. 94.   zurück
Man könnte die Zeitung an sich schon als ein ethnographisches Medium ansehen, da sie fortwährend versucht, (direkte) Beobachtungen (indirekt) aufzuzeichnen. Darüber hinaus entsteht mit dem Zeitungslesen eine gewisse Praxis, die für manche sogar zu einem (Morgen-)Ritual werden kann.   zurück