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Wege zum literarischen Lesen lernen

Funktionen lyrischer Texte für den Erwerb von Literarität und Autonomie

  • Anja Pompe (Hg.): Kind und Gedicht. Wie wir lesen lernen. Freiburg: Rombach 2015. 236 S. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-7930-9803-4.
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Der Herausgeberin dieses Sammelbandes Kind und Gedicht. Wie wir lesen lernen, Anja Pompe, ist es gelungen, herausragende Vertreter/innen der Kultur- und Literatur-, Erziehungs-, Neuro- und Musikwissenschaftler/innen von Hans Ulrich Gumbrecht über Ernst Pöppel bis Heinrich Bosse sowie der Literatur- und der Sprachdidaktik von Kaspar Spinner bis Jakob Ossner für die Mitarbeit zu gewinnen. Alle Beiträger/innen bringen Aspekte, Argumente und Beispiele für die zentrale These bei, dass mit literarischen Texten und hier besonders mit Lyrik lesen gelernt wird bzw. gelernt werden sollte. Lesen wird nicht nur im Sinne von Erstlesen aufgefasst, sondern als Lesen aller, insbesondere literarischer Texte. Und genau genommen geht es nicht nur um das Lesen, sondern um das Verstehen, das Erleben und Erfahren der durch Sprache und Texte vermittelten Prozesse, die mit dem Lesen einhergehen.

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Emphatischer Literaturbegriff als Leitkonzept

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Der leitende ganzheitliche Literaturbegriff bildet das argumentative Zentrum aller Beiträge, wie Anja Pompe in ihrem Schlussbeitrag betont:

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Literatur zeichnet sich durch die Aufhebung sprachlicher Beschränkungen aus […] Entsprechend müssen literarische Lern- und Lehrprozesse so gestaltet sein, dass sie den Raum des sprachlich Uneingeschränkten vorbehaltlos öffnen und in der gemeinsamen Erkundung bewahren und erhalten (S. 217).
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Letztlich zielt sie mit diesem Literaturbegriff auch auf ein ganzheitliches Menschenbild. So verweist sie mit Harold Bloom auf die »Fähigkeit zum literarischen Lesen [sc., die uns] in die Lage versetzt, ein autonomes Selbst zu begründen und zu erweitern « (S. 218). 1

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Dieser so imponierend weit gesteckte Rahmen verlangt ein weites Ausholen, wie es Hans Ulrich Gumbrecht mit seiner den Band eröffnenden »Variation über eine Affinität zwischen Euphorie und Melancholie« gelingt. Gumbrecht stellt Wiederholung und Veränderung als Grundprinzipien sowohl des kindlichen Spiels wie der lyrischen Sprache heraus und illustriert dies an »Vers, Reim, Strophe, Rhythmus« (S. 17) als den sprachlichen Medien der Veränderung wie der Wiederkehr (und damit der Präsenzerfahrung). In ähnlicher Intention bringt Jörg Zirfas den Begriff der »Liminalität« als »Erfahrung des ästhetischen Verweilens« ins Spiel. Nach ihm ist die durch Lyrik ermöglichte »Bildungsbewegung« durch »Leichtigkeit« und »Levitationskraft« (S. 25) bewirkt und geht vom Gesang aus. Ähnlich wie bei Gumbrecht haben auch nach Zirfas Gedichte »kontemplatives, spielerisches und imaginäres Potential« (S. 30).

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Stichwort Potential: Das »ästhetische Erfahrungspotential Optischer Poesie für Kinder« leuchten Thomas Möbius und Michael Steinmetz aus. Dabei unterscheiden sie

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die Bildlichkeit des Ausdrucks, also äußere (graphische) Bildlichkeit, von der Bildlichkeit des Ausgedrückten, also innere (sprachliche) Bildlichkeit. Beide Ebenen, Worte als Bilder und Bilder als Worte, können für die kindliche Rezeption von großer Bedeutung sein (S. 172).
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Nach der Argumentation der Autoren hilft Optische Poesie wie z.B. »Schweigen« von Jandl (1974) »dabei, die an sich komplexen ästhetischen Kriterien ›Poetizität‹ und ›Polysemierung‹ – beides zentrale Merkmale literarischer Texte – auf kindgerechte Weise zu vermitteln« (S. 182). Als weiteres Potential ist neben der Bildlichkeit vor allem die Stimmlichkeit hervorzuheben, was Hans Lösener mit seinem Beitrag »Das Gedicht und die Stimmlichkeit der Sprache« tut. Dies bedeutet,

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von der Wahrnehmung des Hörens auszugehen, also von der Ganzheit der geschriebenen oder gesprochenen Rede, von der Sprechbewegung, dem Rhythmus des Sprechens (auch im geschriebenen Text), vom Gestus und von der Körperlichkeit der Sprache, um so Zugänge zur Stimmlichkeit der Sprache zu finden (S. 187).
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Nach Lösener ist »Stimmlichkeit […] eine sprachliche Modalität, die sich auf die Ebene der konkreten Äußerung bezieht und personale Wirkungen des Sprechens im Gesprochenen oder Geschriebenen erfahrbar macht« (S. 188). Das Verdienst des Beitrags liegt darin, das Konzept der Stimmlichkeit auszubuchstabieren und mit den Wirkungsaspekten des Sprechrhythmus, der Sprechbewegung und -gestaltung, der Sprechhaltung, der Körperhaltung und der auf all dies gerichteten Wahrnehmungsweisen die Sprachproduktion und auch die Sprachreflexion operationalisierbar zu machen. Einen weiteren Aspekt fügt Georg W. Bertram mit Rekurs auf Herder hinzu, wenn er die Rolle der Lyrik für ein » Selbstbewusstsein mit Blick auf die Struktur von Sprache« (S. 38) und für die »Reflexion von Sprache« (S. 40) hervorhebt.

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Neurowissenschaftliche Aspekte des literarischen Lesens

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Der auf Sprache, Literatur und deren Verarbeitung sowie auf die damit verbundenen Kompetenzen gerichtete Fokus wird durch Ernst Pöppel um temporale und neuronale Aspekte wesentlich erweitert. Sein Kernargument ist das

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»Drei-Sekunden-Fenster« der subjektiven Gegenwart, das sich in der spontanen Sprache und in Gedichten in allen Sprachen beobachten lässt […]. Das heißt, dass das Zeitmaß der Verse, die Verslänge, nicht nur weltweit etwa gleich ist, sondern auch unserer neurologischen Ausstattung entspricht (S. 46).
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Das Gehirn integriert neuronale Aktivitäten automatisch zu Einheiten. Dementsprechend nehmen wir Wörter in einzelnen zeitlichen Intervallen (Blicksprüngen) wahr und dekodieren sie. Die Länge lyrischer Verse bringt diese allgemeine Tatsache auf den Punkt. Jede einzelne Verszeile hebt somit das »sprachlich erzeugte Bild […] auf die Bühne der Gegenwart« (S. 55). Das in allen Beiträgen empfohlene Auswendiglernen und/oder Rezitieren von Gedichten trainiert somit »das Gehirn in der zeitlichen Segmentierung […] [sc. und] in sequentieller Informationsverarbeitung« (S. 56). Dem stimmen Arthur M. Jacobs und Annette Kinder zu, wenn sie Gedichten die Fähigkeit zuschreiben, »[…] verdichtet die Komplexitäten vorzuführen, mit denen unser Hirn die Welt um uns und in uns konstruiert« (S. 57).

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Beispiele lyrischer Texte in der Geschichte der deutschen Literatur

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Hans-Heino Ewers eröffnet mit einem Abriss zur »Geschichte der deutschen Kinderlyrik« den Reigen literaturwissenschaftlicher Beiträge. Seine Übersicht beginnt mit Christian Adolf Overbecks Frizchens Lieder von 1781 (S. 78) und endet mit dem Jahrbuch der Kinderliteratur von 1971 (S. 86) von Hans Joachim Gelberg. Auch Ewers urteilt: »Eine lebendige Kinderlyrik-Kultur steht und fällt mit der Wertschätzung und Pflege des Auswendiglernens« (S. 87). Weitere Beiträge beleuchten weitere Aspekte bzw. einzelne Autoren(-gruppen): Hermann Korte die Doppeltadressierungen der Gedichte von Joachim Ringelnatz für Kinder und für Erwachsene, Alexander Koșenina die Erfahrung ›angenehmen Grauens‹ bei der Lektüre von Gedichten von Heinrich Hoffmann, Wilhelm Busch und Joachim Ringelnatz. Nicht mehr literaturgeschichtlich, sondern phänomenologisch angelegt ist der Beitrag von Heinrich Bosse »In Gedichten suchen wir Gestalten«. Er ermittelt, was eine literarische Gestalt ausmacht, z.B. das Bauprinzip der Kanzonenform, die sich durch klar geordnete »Wiederholungen und Gegensätze(n)« (S. 109) auszeichnet. Bei einer Reihe lyrischer Phänomene zeigt er auf, dass es sich nicht um »Strukturen [sc. handelt], bei denen die Anordnung von Elementen in einem System zu beachten wäre, sondern [um] Beobachtungsformen selber, deren Reihe sich fortsetzen ließe« (S. 118). Ähnlich ausgerichtet ist Annegret Löseners Untersuchung von Sprichwörtern als »Miniaturtexte[n] von manchmal großem poetischen Reiz« (Annelies Beyer) (S. 150) und somit als Keimzellen von Gedichten. Sie empfiehlt folglich die »Untersuchung von Sprichwörtern als Bindeglied zwischen dem Betrachten der Alltagssprache und der analytischen Arbeit an poetischen Texten […]« (S. 154).

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Gattungsübergreifend und wirkungsorientiert ausgerichtet ist der Beitrag von Gesa zur Nieden »Zwischen Vers und Lied – Musikalische Lyrik für Kinder«, der die Verbindung von Kindern und Musik bereits in der Volkskultur und -musik feststellt, also im »Kinderlied als einfach-regelmäßige[r], tonal beschränkte[r] elementare[r] Musikgattung« (S. 134). 2 Am Beispiel des Komponisten Wilfried Hiller und seiner Kooperation mit Michael Ende demonstriert zur Nieden das

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Potential von Gedichtvertonungen beim Lesenlernen. Einerseits unterstreicht die Musik Tempo und Metrik der sprachlichen Verse, oft in Form eines regelmäßigen Liedes, das gut memoriert werden kann, und sensibilisiert somit vor allem für Rhythmik, Metrik und Klang von Gedichten und weniger für Grammatik, Semantik und Symbole […]. Andererseits jedoch werden mit der musikalischen Vertonung zentrale sprachliche Eigenheiten der Lyrik wie unvollständige Sätze, neue Wortschöpfungen und ein Akzent auf dem Bildlichen statt dem Szenischen oft übertüncht und kommen daher nur in einer kontrastiven Einzelbetrachtung von literarischem und musikalischem Text zum Vorschein (S. 146).
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Perspektiven für den Deutschunterricht

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Auf diesen philosophischen, literatur-, sprach- und neurowissenschaftlichen sowie interdisziplinären Grundlagen bauen dann die dezidiert fachdidaktischen Beiträge des Bandes auf. Kaspar H. Spinner macht in seiner Analyse von Gedichten von Kindern aus dem Augsburger Schreibwettbewerb von 2013 »Wiederholungsstrukturen, Verdichtung, Rahmung, Semantisierung der Form, Vergleich und Metaphorik und auffällige Typographie [sc. als] Merkmale von Lyrik [sc. aus], die schon Grundschüler in eigenen Gedichten realisieren« (S. 167). Wichtig ist vor allem für Lehrpersonen, sich klarzumachen, dass Kinder bei ihrer Gedichtproduktion »implizites poetisches Wissen« anwenden und »dass sie einen Blick für poetische Qualitäten entwickeln, damit sie die Gedichte der Kinder angemessen beurteilen und entsprechende fördernde Hilfen geben können« (S. 167). Jakob Ossner richtet mit seinem Beitrag »Genau lesen – sprachaufmerksam werden« sein Augenmerk auf die Textanalyse. Er stellt sie unter die neuerlich von Horst-Jürgen Gerigk aktualisierte Lehre vom vierfachen Schriftsinn als einer Schrittfolge vom literalen wörtlichen bis zum anagogischen, über den Text hinausweisenden Sinn. An den Formbeispielen von Reim und Metrum, von Wortschöpfungen, von »gewählte[n], nicht alltägliche[n] Satzstrukturen« sowie am Beispiel des »›lyrische[n] Ich‹ als besondere[r] Form einer Rollenübernahme« (S. 198) zeigt er den didaktischen Gewinn auf, der darin liegt, bei Grundschulkindern »Aufmerksamkeit vom Inhalt auf die Form zu lenken« und so »eine Vorläuferfähigkeit für eine alphabetische Schrift« (S. 199), nämlich die phonologische Bewusstheit auszubilden.

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In ihrem abschließenden Beitrag »›Das hier ist Wasser‹ Oder was heißt: Literarisches Lesenlernen?« bringt Anja Pompe nochmals die Stoßrichtung dieses Bandes auf den Punkt. Durch die Betonung einer primären Phase nicht-diskursiven mimetischen Erlebens und Verstehens besonders der klanglichen musikalischen Dimension lyrischer Texte und ihrer Rezitation wird ihr spezifisches Wirkungspotential nutzbar und fruchtbar gemacht. Gleiches gilt für das visuelle Strukturelement lyrischer Texte und »die Fähigkeit, Bilder oder Bildsequenzen in Texten wahrzunehmen« (S. 221). Sowohl die klangliche wie die bildliche Dimension lyrischer Texte legen es nahe, »[…] dass wir auch für Leseanfänger Begegnungen mit der Bedeutungsoffenheit literarischer Texte eröffnen sollten« (S. 222). Dabei darf das reflexiv-analytische Moment nicht vergessen werden, dass nämlich »Lesenlernen immer auf die Sprachaufmerksamkeit der Lernenden zielen sollte, die es ihnen erlaubt, sich zunehmend besser im Bereich der nichtsinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit zu orientieren« (S. 224).

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Fazit

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Die Herausgeberin und die Beiträger/innen votieren mit ihrer Konzeption, ihren Beispielen und ihren Unterrichtsvorschlägen implizit für eine fachlich bzw. gegenstandsorientierte, literatur- und kulturwissenschaftlich fundierte Literaturdidaktik. Damit reiht sich diese Publikation ein in Initiativen der Kooperation zwischen Fachdidaktik und Literaturwissenschaft, die nach den zahlreichen Forschungsverbünden mit den Bildungswissenschaften eine neue Ära ankündigt, ohne dass dies eigens diskutiert würde. 3 Darüber hinaus werben die Beträge für den Einsatz literarischer Texte in zahlreichen anderen Bereichen des Deutschunterrichts, also zum Teil beim Lesen- und Sprachlernen und bei der Sprachreflexion – mit anderen Worten für die Renaissance oder den entschiedenen Ausbau des integrativen Deutschunterrichts.

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Diese offene und von der Begeisterung für den Gegenstand getragene Konzeption versteht sich als Gegengewicht gegen den kurzschrittigen kompetenzorientierten Literaturunterricht, was allerdings auch nicht ausgeführt wird (vgl. Leubner/ Saupe). 4 Es drückt sich vielmehr implizit im Methodenwechsel aus, in der Hinwendung zur Phänomenologie, zur Hermeneutik oder zur professionsspezifischen Erfahrung aus jahrelanger Vermittlungstätigkeit. Einzig in den Beiträgen von Pöppel und Jacobs/Kinder finden sich aus dem empirie-wissenschaftlichen Paradigma belastbare Befunde zu den neurowissenschaftlichen Aspekten des literarischen Lesens. Als vorherrschenden Eindruck nimmt man vor allem die entschiedene Orientierung an fachlichen und gegenständlichen Strukturen und Texten mit, mit dem hier das Potential der Entfaltung, der Vermittlung und des Verstehens lyrischer Texte demonstriert wird. Auch wenn nicht alles neue Entdeckungen sind – in dieser kompakten Synopse ist der Band ein nützlicher Begleiter vor allem bei der Begründung und der Erweiterung des alltäglichen Deutschunterrichts.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Harold Bloom: Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten. München 2000.   zurück
Diese Bestimmungen gehen zurück auf Ernest Bornemann: Die Umwelt des Kindes im Spiegel seiner »verbotenen« Lieder, Reime, Verse und Rätsel. Studien zur Befreiung des Kindes. Bd. 2, Olten 1974, S. 42.   zurück
Ein weiteres Beispiel hierfür ist der soeben erschienene Band von Marie Lessing-Sattari et al. (Hrsg.): Interpretationskulturen. Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens. Frankfurt am Main/Berlin/Bern u.a.: Peter Lang 2015   zurück
Also ein Gegengewicht etwa zu Martin Leubner et al.: Literaturdidaktik. 2., aktualisierte Aufl. Berlin: Akad.-Verl. 2012   zurück