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Die »Unverständlichmachung des Selbstverständlichen«

Franziska Bergmann untersucht die Verfremdung von Geschlecht im Theatertext

  • Franziska Bergmann: Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte. Geschlechterverfremdungen in zeitgenössischen Theatertexten. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015. 348 S. Broschiert. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-8260-5217-0.
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Franziska Bergmann geht in ihrer Dissertationsschrift Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte. Geschlechterverfremdungen in zeitgenössischen Theatertexten unterschiedliche Strategien der Verwirrung tradierter sowie der Repräsentation alternativer Geschlechterkonzepte in deutschsprachigen, britischen und US-amerikanischen Theatertexten nach. Sie konzeptualisiert das Theater als privilegierten Raum für die Überschreitung von Geschlechtergrenzen, indem sie die Nähe der Gender und Queer Theory zum theatralen Diskurs herausstreicht. Da das Theater ohnehin ein performatives Medium ist, sei es insbesondere dazu fähig, die von der Theorie behauptete Performativität von Geschlecht im »ästhetischen Freiraum« (S. 45) der Bühne auszustellen, so die These. Bergmann arbeitet an einer Engführung des Verfremdungsbegriffes Brechts mit der Gendertheorie Judith Butlers und hebt dabei insbesondere auf die »Unverständlichmachung des Selbstverständlichen« (S. 28) ab. Sowohl Brecht als auch Butler verstehen Verfremdung als politische Strategie, wobei sich der Verfremdungsbegriff Brechts eher auf Klassendiskurse bezieht, während Butlers Verständnis auf die Subversion heteronormativer Geschlechtskonzepte zielt. Laut Bergmann unterscheiden sich die eigentlichen Verfahrensweisen jedoch nicht voneinander, sie prägt den Begriff der ›Geschlechterverfremdung‹, den sie auf ihren Korpus im Folgenden anwendet. Dabei bezieht sie sich in erster Linie auf Butlers frühe Theoriebildung und entscheidet sich dafür, Butlers spätere Revision des Performanzbegriffes, die stärker auf eine machtvolle, durch normative Zwänge geprägte Verfasstheit von Performativität eingeht, nicht einzubeziehen.

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Bergmann stellt den Textanalysen eine umfassende Kontextualisierung ihres Korpus voran. Sie diskutiert zeitgenössische Entwicklungen im deutschsprachigen Raum wie die Debatten um postdramatisches und neorealistisches Theater, wobei sie sich gegen eine strikte Trennung der beiden Ästhetiken ausspricht (vgl. S. 60 f). In Bezug auf das britische Theater stellt sie das tonangebende In-Yer-Face-Theatre vor und benennt zentrale Autor_innen (v.a. Sarah Kane und Mark Ravenhill) und Themen wie die Auseinandersetzung mit konfliktbeladenen Geschlechterverhältnissen und mit Männlichkeitsbildern. Auch den US-amerikanischen Raum diskutiert sie anhand verschiedener Beispiele, die sich mit Identitätsdiskursen auseinandersetzen, so etwa das Black Theater, das Gay Theater und das Queer Theater, das der performance art nahe steht. Deutlich wird, dass die Beschäftigung mit alternativen Geschlechterkonzepten im Theater im britischen und US-amerikanischen Raum weitaus ausgeprägter ist als im deutschsprachigen Raum (vgl. S. 85).

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Im ersten Analysekapitel mit dem Titel Bedrohliche Diskontinuität fokussiert Bergmann mithilfe der von Lee Edelman entwickelten Theoretisierung des ›Sinthomosexuals‹ die Reproduktionsverweigerung in Krankheit oder Moderne Frauen von Elfriede Jelinek und Du sollst mir Enkel schenken von Thomas Jonigk. Die Entwürfe reproduktionsverweigernder Figuren – bei Jelinek in Form lesbischer, ihre eigenen Kinder essenden Vampirinnen, bei Jonigk in Form eines schwulen Sohnes, der nicht heiraten will – werden mithilfe Edelmans als eine Störung der heteronormativen und zugleich der symbolischen Ordnung verstanden. Gleichzeitig ermöglichen die Theatertexte eine Kritik der Theorie Edelmans, die als zu stark auf männliche Figurationen fixiert erscheint (vgl. S. 133). Auch die formalen Aspekte der Theatertexte arbeiten, so Bergmann, auf unterschiedliche Weise mit an der Störung der tradierten Geschlechterordnung.

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Im anschließenden Kapitel widmet sich Bergmann den Geschlechtliche[n] (Ver-)Störungen in Doug Wrights I Am My Own Wife und Nora Mansmanns zwei brüder drei augen. Zunächst geht sie auf verschiedene Transgender-Theorien ein, wobei sie sich der Kritik an Butlers Theorie anschließt, die besagt, dass transgender und transsexuelle Identitäten nicht notwendigerweise queerend und subversiv im Sinne der Queer Theory sein müssen, da es transsexuellen Individuen häufig um die Anerkennung als das jeweils gewünschte Geschlecht geht, was für viele eine Frage des Überlebens ist. Fraglich bleibt dabei jedoch, welchen Status sie der Protagonistin in I Am My Own Wife zuschreibt. Bergmann tituliert sie als transvestitisch und schwul, benutzt aber durchgehend weibliche Pronomen und den weiblichen Vornamen, auch der Titel des Stücks weist auf die Weiblichkeit der Protagonistin hin. Der Text ist als dokumentarischer einzuordnen, da er sich auf die empirische Person Charlotte bezieht, und die Analyse konzentriert sich auf die Ununterscheidbarkeit zwischen Faktizität und Fiktionalität im Genre des Dokumentartheaters einerseits und der Travestie andererseits. Bergmann liest Charlottes Travestie in Bezug auf ihre Gründerzeitmöbelsammlung als Strategie des camp (vgl. S. 154) und reiht sie somit ein in die vielfältigen Strategien der Geschlechterverfremdung. Unklar bleibt, warum es sich hier nicht um die Repräsentation einer transsexuellen Identität handelt – die Performanz Charlottes wird in erster Linie auf ihren subversiven Charakter hin gelesen, ohne auf Fragen nach identitärer Anerkennung einzugehen. Die in der Arbeit ohnehin kaum reflektierte Unterscheidung zwischen der Repräsentation und Anerkennung alternativer Geschlechtermodelle wie einer transsexuellen Identität und der Störung tradierter Geschlechterkonzepte wird hier deutlich. Der mangelnde Bezug auf Butlers spätere Theorie, in der es um Fragen nach Macht und Anerkennung geht, macht sich bemerkbar. Bergmann privilegiert die Analyse von subversiver Performativität über die der Anerkennung, wie sie sowohl von der eingangs vorgestellten Transgender-Theorie als auch von Butler insbesondere in Psyche der Macht 1 ausbuchstabiert wird.

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In der Analyse von zwei brüder drei augen geht es Bergmann um die Überschreitung tradierter Körper- und Identitätsgrenzen, die mit der Entgrenzung des Textkörpers zusammenfällt. Der hermaphroditische Körper Frotzis fungiert dabei als nachhaltige Störung der totalitären Ordnung im Text (vgl. S. 171).

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Im Kapitel Queering Race bezieht sich Bergmann in Rückgriff auf Theorien Homi Bhabas, Edward Saids, José Munoz’ und Katrin Siegs auf die Performativität der Kategorie race. In David Henry Hwangs M. Butterfly werden Geschlecht und race in Bezug auf orientalistische Phantasien miteinander verschränkt, während der Text mit Momenten der Illusion und der Verfremdung gleichzeitig arbeitet und ein Hybrid aus Dramentext und Oper bildet. Bergmann analysiert den Transvestismus des Protagonisten als ein verfremdendes Verfahren und entwirft eine Lesart der melancholischen Aneignung von race in Anknüpfung an Butler (vgl. S. 202). In der Analyse von Crazyblackmothafuckin’self von DeObia Oparei hebt Bergmann auf das Verfahren des race crossing vor allem in den »beständig wechselnden Identifikationen« (S. 213) des Protagonisten als verfremdende Praktik ab, das zugleich die Gefahren der Assimilation und Appropriation birgt.

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(Neo-)Liberalisierung der Geschlechterverhältnisse fokussiert die Thematisierung von Neoliberalismus und Geschlecht in Mark Ravenhills Mother Clap’s Molly House und René Polleschs Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr. Bergmann liest Ravenhills Text als die Darstellung der Verknüpfung von schwuler Identität mit kapitalistischen Normen in der Geschichte und der Gegenwart und weist auf die Allianz von sexueller Befreiung mit neoliberaler Unterwerfung hin (vgl. S. 251). Bei Pollesch geht es Bergmann dagegen um die Zwänge des neoliberalen Systems insbesondere für Frauen, die sich einerseits einer Liberalisierung, andererseits einer Prekarisierung ausgesetzt sehen, was sich unter anderem in der Erosion der Grenze von privatem und öffentlichem Raum zeige. Sie weist auf die verfremdende Strategie des Pollesch‘schen Diskurstheaters hin, das tradierte Subjektkonzepte infrage stelle und auf die Neoliberalisierung auch formalen Bezug nehme (vgl. S. 271 f).

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Das letzte Kapitel Humanimal integriert die Queer Animal Studies in die Analyse. Mit Bezug auf die Theorien Agambens, Derridas und Haraways steckt Bergmann zunächst das Feld der Human Animal Studies ab, um sich dann der Analyse von Edward Albees The Goat or Who is Sylvia? zu widmen. Albees formalen Rückgriff auf die Tragödie liest Bergmann als produktive Referenz auf die Urformen der griechischen Tragödie, die aus dem Dionysos-Kult entstanden ist und somit in der Gestalt des Satyrn bereits auf die kontingente Grenze zwischen Mensch und Tier verweist (vgl. S. 282). Im Theatertext findet laut Bergmann eine gleichzeitige Annulierung und Konsolidierung dieser Grenze statt, wodurch sie als verhandelbar und performativ sichtbar wird. Polleschs Text, eine intermediale Verwechslungskomödie um die Liebe zu einem Affen in Form des Diskurstheaters, erweise sich als ein »Spiel mit frei flottierenden Signifikanten« (S. 309), das tradierte Konzepte von menschlicher, animalischer und geschlechtlicher Identität ad absurdum führe. Pollesch entwerfe die Theaterbühne als einen kontingenten Raum, als Experimentierfeld, in dem die Verhandlung von tradierten Konzepten möglich werde.

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In einem abschließenden Fazit fasst Franziska Bergmann ihre Ergebnisse noch einmal zusammen und stellt fest, dass kein bestimmtes Theatertextgenre privilegiert sei für die Geschlechterverfremdung.

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Franziska Bergmann legt eine umfassende komparatistische Studie vor, die sich durch eine Fülle gut gewählter Primär- und Sekundärliteratur auszeichnet. Die Neuheit des Themas vor allem im deutschsprachigen Raum ist zu betonen. Bergmann gelingt es, eine grundlegende Studie zu verfassen, die hoffentlich den Anstoß zur weiteren Bearbeitung des Themas gerade im deutschsprachigen Raum gibt. Ihre Studie zeichnet sich insbesondere durch eine umfassende und gelungene Einbettung in zeitgenössische Kontexte aus. Ihr Vorgehen, jeweils zwei Texte miteinander und mit zentralen Theorien aus der Queer Theory in Dialog zu bringen und dabei stets auch auf die formale Verfasstheit der Theatertexte einzugehen, bewährt sich und bringt spannende Ergebnisse hervor. Die Entscheidung, über ›traditionelle‹ Themen der Queer Theory hinauszugehen und auch Theorien zu race, Neoliberalismus und dem Mensch-Tier-Verhältnis einzubeziehen, ist sinnvoll, stellt sich an einigen Stellen allerdings als sehr ambitioniert heraus. Durch die Kürze der Analysen, bedingt durch die Material- und Themenfülle, bleiben einige Fragen ungeklärt, so etwa die Unterscheidung zwischen der Repräsentation und Anerkennung alternativer und der (Ver-)Störung tradierter Geschlechtermodelle, wie am Beispiel von I Am My Own Wife erläutert wurde. Das stark theatral geprägte Verständnis des Performanzbegriffes verstellt zum Teil den Blick auf zentrale Erkenntnisse der Gender-Theorie. So ließen sich einige der Texte mit Bezug auf Fragen nach Macht, Anerkennung und auch Materialität von Körpern, wie sie etwa in Butlers späterem Werk eine Rolle spielen, pointierter analysieren. Es stellt sich außerdem die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Lebenswelt: Versteht Bergmann die Texte zwar als Teil des gesellschaftlichen Verhandlungsprozesses, so wäre doch weiter zu fragen, wie genau die Texte darin positioniert sind, welche Rolle dabei die Realisierung auf der Theaterbühne spielt und wo die als subversiv angenommene Performativität ihre Grenzen findet. Gerade in Bezug auf Brechts (theatrales) und Butlers (doch eher auf lebensweltliche Zusammenhänge bezogenes) Konzept von Verfremdung sind diese Fragen interessant, so ist eine Gleichsetzung von theatraler und lebensweltlicher Performativität zwar produktiv, aber nur begrenzt sinnvoll.

 
 

Anmerkungen

Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a. M. 2001.   zurück