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Literatur und Menschenkunde

Literarische Entwürfe des Mensch-Seins im 20. Jahrhundert

  • Wolfgang Riedel: Nach der Achsendrehung. Literarische Anthropologie im 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 452 S. Softcover. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 978-3-8260-5544-7.

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Literarische Anthropologie – eine Bestandsaufnahme

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Worüber sprechen wir, wenn wir die Stimme des Herzens gegenüber dem Diktum der Ratio im Drama des Sturm und Drang zu vernehmen suchen, die spirituellen Sehnsüchte der romantischen Dichtung erschließen oder Todestrieb und -furcht in der Prosa der Wiener Moderne diskutieren? Es sind allesamt grundlegend menschliche Empfindungen und Zustände, die die Literatur hier verhandelt, und die mit der Herausbildung anthropologischer Forschungen im Laufe des 18. Jahrhunderts einen Impuls erhält, sich selbst als dasjenige zu begreifen, was Literatur seit jeher schon war: Menschenkunde.

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Wolfgang Riedel hat bereits mehrfach in Form von Aufsätzen und Monografien die eigentümliche Verbindung von Literatur und Anthropologie, den Blick des Dichters auf das Menschengeschlecht untersucht und die enorme Wichtigkeit dieses Zugangs herausgestellt. In seinem 2014 erschienen Beitrag »Nach der Achsendrehung. Literarische Anthropologie im 20. Jahrhundert« schließt Riedel an vorausgegangene Verhältnisbestimmungen zur Spätaufklärung und der Jahrhundertwende mit einer Betrachtung der literarischen Menschenkunde im 20. Jahrhundert an. Der Begriff der Achsendrehung, so legt er im Vorwort dar, entnimmt er Georg Simmels Rede von der »Achsendrehung im Begriff des Menschen«. Diese ist bezogen auf die willensmetaphysische Wendung in der Anthropologie, wie sie mit Abschluss des 19. Jahrhunderts unumkehrbar erscheint. Das Wesen des Menschen ist in der tierischen Natur gelegen, der Triebnatur, nämlich dem Willen, nicht der Vernunft. Die Naturalisierung des Menschensubjekts erscheint mit Darwin zementiert. Aus den neuen naturwissenschaftlichen und philosophischen Ausrichtungen gehen aber auch Disziplinen hervor, die, wie die experimentelle Psychologie oder – prominentestes Beispiel – die Psychoanalyse, auf den empfindlichsten Gegenstand dieser Reduktionen aufbauen: die Seele, den Geist. Und diese wirken wiederum auf die Ausgangsdisziplinen zurück: die Achsendrehung wird fortan in der Lebensphilosophie und der philosophischen Anthropologie forciert. Die Frage nach der natürlichen Determination des menschlichen Wesens, so hält der Autor fest, hält sich bis heute und ist mit der in den 1990ern eröffneten Decade of the Brain nochmals im gesellschaftlichen Diskurs jenseits der Hirnforschergemeinde in unseren Köpfen verankert worden – ja, sie scheint gar vermehrt toleriert zu werden. Was vormals unter die »großen Kränkungen der Menschheit« (Freud) subsumiert wurde, ist heute eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit (vgl. S. IX-XII).

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Auch für die Literatur hat diese Entwicklung, wie Riedel nachweist, Folgen: Literatur und Fiktion als Selbstverständigung und Sinnbildung evolutionistisch zu erklären, Kultur als ein naturgeschichtliches Produkt zu demaskieren, dem steht die Einsicht gegenüber, dass sich die eigentümlichen literarischen Qualitäten mit biologischen Kategorien nicht hinreichend erfassen lassen. Antike Tragödie und barockes Trauerspiel sind in den reduktionistischen Kategorien dasselbe – und sind es eben nicht. Dennoch ist die literarische Produktion Rezeptionsfeld dieser Naturalisierungsunternehmen. Und Riedel wirft auf, je säkularer eine Kultur sei, desto bedeutender werde auch die Literatur (vgl. S. XX): diese könne gar nicht umhin, sich in welcher Gestalt auch immer »mit der Achsendrehung und ihren Folgen zu befassen, sprich, ihre großen Themen seit alters, Liebe und Tod, an die veränderte Lage zu adaptieren. Diese – mithin wesentlich moderne – Arbeit des poetischen Geistes und ihre Erträge nenne ich ›literarische Anthropologie‹.« (vgl. S. XXI)

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Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang eine methodische Unterscheidung, die eingangs bereits angedeutet wurde und die Riedel in seinem Epilog präzisiert. Literarische Anthropologie kann bezogen sein auf die Literaturwissenschaft wie auf die Literatur selbst. Howard Bloch und Fernando Poyatos brachten als erste die Formel der literary anthropology in den englischen Sprachraum ein. In Deutschland wurde diese durch Doris Bachmann-Medicks Sammelband »Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft« publik. Jene anthropologische Wende ist im Sinne einer ethnologischen Wende zu verstehen. Literatur fungiert in diesem Zusammenhang als Objekt der kulturwissenschaftlichen Untersuchung (vgl. S. 357 f.). Der Text ist dabei nicht länger Zweck, sondern wird zum Mittel einer historischen Forschung, die das dahinter Liegende vermittels einer solchen Quelle erschließen will. Literarische Anthropologie ist somit quasi eine Form historischer Kultursoziologie und der Literaturwissenschaftler droht als Literaturanthropologe dasselbe zu tun wie der Kollege aus der Historischen Anthropologie (vgl. S. 363f.).

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Literatur als Anthropologie heißt nach dem Verständnis Riedels demgegenüber, die Kompetenz des Dichters stark zu machen und Literatur nicht als Dokument ihrer Kultur, sondern als Kommentar auf diese zu werten. Die Texte dürfen nicht durch ihre rigorose Historisierung auf diese fixiert werden, sondern haben weiterhin als eigenständige Produkte mit ästhetischem Anspruch zu gelten (vgl. S. 369).

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Dass diese literarische Anthropologie, die Literatur als Anthropologie, seit Beginn ihrer Beiträge in der Spätaufklärung, wie der Autor nachgezeichnet hat, eine Bestimmung der Natur des Menschen sucht und damit eng an die naturwissenschaftlich orientierte Anthropologie geknüpft ist, die Literatur als Anthropologie eine Allianz von poetischer und naturwissenschaftlicher Menschenkunde bedeutet, steht diesem Anspruch keinesfalls im Wege. Die Poesie ist gar noch näher am Menschen, denn sie fokussiert auf das nach neuerem neuzeitlichen Verständnis genuin Menschliche, auf das Irrationale, Imperfekte, auf den Trieb- und Gefühlshaushalt. Sie generiert Wissen wie die Wissenschaft und ist zugleich Kunst mit eigenen ästhetischen Gesetzen (vgl. S. 374 f.), die sich nicht in naturalistische Kategorien fassen lassen, und dennoch die conditio humana ganz unmittelbar zum Ausdruck bringen.

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Brückenschlag in die Vormoderne

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In seinem ersten Teil »Ursprache und Spätkultur« stellt Riedel eine Verbindung zu den Anfängen des Mensch-Seins her. Der Titel ist einem Werk von Gehlen entlehnt: »Urmensch und Spätkultur«. Gehlen begreift den Menschen als gespaltenes, anachronistisches Wesen: einerseits aus der Zivilisationsgeschichte hervorgegangen versteht er sich als modern und fortgeschritten, andererseits ist er ein Produkt der natürlichen Evolution und weiterhin mit den äffischen Strukturen dieser ausgestattet (vgl. S. 3). Der Primitivismus ist ein Spezifikum der Moderne: Die Rückbesinnung auf den Ursprung, die Sehnsucht nach der alten, besseren Zeit findet sich in ganz verschiedene Formen wieder; sie kann auch das etwaige Zurück-zur-Natur im Sinne Rousseaus sein, oder aber die sentimentalische Sehnsucht eines Schiller nach der verlorenen Naivität. Sich rückwärts besinnend schreitet dieses Sehnen dabei stets der Zukunft entgegen, die Moderne ist somit, so Riedel, zwischen zwei gegenläufigen Zeitpfeilen verspannt (vgl. S. 6f.). Analog zum Primitivismus in der Kunst gibt es auch einen literarischen Primitivismus: Entsprechend der Nachbildung primitiver Artefakte wie Masken oder formale Reduktionen in Bildwerken entfaltet die Literatur atavistische Darstellungen oder Reden von Traumzuständen oder Wahnmomenten. In ihrer poetischen Sprechweise greift sie auf, was in Psychologie und Volkskunde um die Jahrhundertwende als ›mythische Denkform‹ und menschliche Ursprache reaktiviert wird (vgl. S. 29 f.).

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Exemplarisch anführen für diesen Bezug lässt sich die Sprachkrise, die im Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal exponiert wird. In der Krise befindet sich die Begriffssprache, sind die Abstrakta: »Die abstrakten Worte […] zerfielen mir im Mund wie modrige Pilze«. (Hofmannsthal, Ein Brief, GW (7), S. 465). Die hierin gelegene Metaphorik weist zugleich zurück auf die Urform der menschlichen Sprache, einer bildhaften, einer primären und uneigentlichen Sprache, einer: Muttersprache. Die Metapher schlägt Brücken zwischen den Dingen, verschmelzt Ich und Natur, Innen und Außen (vgl. S. 32 ff.). Sie ist ein Sprachapriori, eine Konstituente des menschlichen Denkens und in den empirischen Wissenschaften vom Menschen wurde dieser Zusammenhang um 1900 mit der entscheidenden Bedeutung versehen (vgl. S. 48).

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Zu mythischen Denkformen führt nach Riedel auch die Frage nach der eigenen Identität zurück, wie sie am Beispiel der Person Jaakobs in der Josephs-Trilogie Thomas Manns aufgeworfen wird: Jaakob ist nicht nur er selbst, er ist auch Isaak, Abraham und Noah, da sich ihre Geschichten und die Tradierung ihrer Geschichten seiner eigenen Biografie eingeprägt haben (vgl. S. 53). Diese Überlegung ist an Schopenhauers Idee von der Deindividuation angelehnt – und wird dem Leser noch vermehrt begegnen: Die Vorstellung von der Vereinigung im zeitlosen Willen, und damit die Bezugnahme auf etwas Ursprüngliches (vgl. S. 57), wird in der Literaturgeschichte fortan von zentraler Bedeutung für die Betrachtung des Mensch-Seins sein.

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Die Suche nach dem Ich im modernen Roman

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Seinen zweiten Teil zum »Subjektschicksal im modernen Roman« eröffnet Riedel mit den Ausführungen zur narrativen Psychologie bei Robert Musil: Die Frage nach der Menschennatur mündet bei diesem in die Einsicht, dass die Wissenschaft das Ich nicht allein ergründen kann. Das Innere des Menschen lässt sich nur im Medium des Subjektiven richtig erschließen: So entspricht seine Auffassung exakt dem Konzept der literarischen Anthropologie: Wissen durch Dichtung. Musil führt es geradezu als Auftrag des Dichters an, sich der Subjektivität anzunehmen, welche die Wissenschaft nur verkürzt, also narrativ zu entschlüsseln, was sich systematisch nicht entschlüsseln lässt; er ordnet an, nicht zu normieren, sondern auch alles Abnorme in das Menschenporträt miteinzubeziehen (vgl. S. 69 ff.).

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In der »Vollendung der Liebe« findet sich dieser Ansatz wieder: In der Ausnahme liegt das Normale. Die Pointe von Claudines an sich simpler Geschichte ist der Moment, in dem sie den Blick des Lesers in einen Spiegel lenkt: Erkenne den Menschen, indem du dich selbst erkennst. Und ein jeder Mensch speist sein Wesen aus Dissonanzen, so könnte man daraus folgern. Durchleuchtet wird in dieser Erzählung die Psyche der Hauptperson, der Leser begreift, was ihre banale, aber psychologisch sehr komplexe Affäre mit einer Reisebekanntschaft anrichtet – oder besser: vollbringt. Denn durch den Ehebruch zu ihrem Mann, so das Paradox, erfährt diese erst die Vollendung ihrer Liebe zu ihm (vgl. S. 74 f.): Claudine durchläuft in der Verabsolutierung ihrer Person zum Körperlichen im Moment der Affäre eine Deindividualisierung – sie ist der Inbegriff des schopenhauerschen Willens: Die Teppichszene offenbart am schonungslosesten das Es, den Trieb, der sie nur noch auf einen begehrendes Körper-Sein festlegt, das Ich dahinter – verschwunden (vgl. S. 84). Doch ist dies eben auch nur der Körper, der der Affäre hingegeben wird; der Ich-Verlust ist ein temporärer, der zugleich das Tor zu ihrem Mann offenhält. Sie kommt zu sich zurück und erlebt in der Einheit von Einheit und Differenz erst das Ganze der Liebe. Und nicht nur zur absoluten Liebe zu ihrem Mann gelangt sie hierdurch, sondern auch zu ihrer Identität (vgl. S. 76).

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Alfred Döblins »Berge Meere und Giganten« (1924) müssen im Kontext des Futurismus gedeutet werden und seines Lobgesangs auf die Zukunft, der die Schönheit der Maschinen den klassischen Idealen entgegensetzt, die Selbstapotheose des Menschen gegenüber dem Fortschrittspessimismus stark macht. Ein neuer Mensch soll aus der Gegenwart hervorgehen, der vom (Ersten) Weltkrieg nicht mehr belastet ist. Der technologische Fortschritt setzt sich fort, und mit ihm entwickeln sich erneute Kriege, die zum Schluss in einen totalen Krieg gegen den Planeten Erde, die Natur und damit die eigenen Lebensgrundlage des Menschen münden: Döblin fingiert acht Jahrhunderte, in denen die Naturbeherrschung voranschreitet. So ermittelt der Erfindergeist im 26. Jahrhundert die künstliche Lebensmittelsynthese. Das Bestreben, das Leben zu beherrschen, zeichnet weitere Erfolge. Doch mit dem 27. Jahrhundert folgt das Verhängnis: Berauscht vom Umbau der Welt, will der Mensch schlussendlich einen neuen Kontinent aus dem Ozean heben: die technischen Mittel werden gegen die Natur verwendet, der Mensch führt Krieg gegen seinen Ursprung, um das Unmögliche zu ermöglichen (vgl. S. 130 ff.). Dabei haben die Physiker und Ingenieure die Rechnung ohne das »Leben« gemacht. Ihre kalkulatorische Auffassung des Weltgeschehens blendet die Eigenwilligkeit der Natur aus, das Phänomen des Lebendigen, das sich seinen Weg bahnt. Mensch versus Biosphäre, so die Ausgangssituation. Das jüngst evolutionierte Wesen gegen das immer gleich Seiende (vgl. S. 135 f.). Doch die Natur, das planlose, blinde, auf ewig und unsinnigerweise dasselbe tuende Gegenüber – produzierend, reproduzierend, reagierend – ist stärker. Mit Kleist: Reflex schlägt Reflexion. Der sture Automatismus ist ein Gesetz, gegen das die menschliche Ratio, die Intentionalität versagt (vgl. S. 142). Die Natur holt sich ihre Kinder gewissermaßen zurück, indem sie diese dem um sich greifenden Trieb zum Opfer fallen lässt; der, man könnte wieder sagen, schopenhauersche Wille tritt in der Krisensituation zum Vorschein, und in der Vermählung von Eros und Thanatos, in der Deindividuation, werden diese wieder Teil der Flüsse und Berge, von dem Gegner verzehrt – und zugleich erlöst (vgl. S. 135 f.).

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Auch Thomas Manns »Zauberberg« macht die menschliche Aneignung des Wissens zum Gegenstand. Anstelle einer futuristischen Utopie steht an dieser Stelle jedoch die Weltbetrachtung eines Moribunden der Jahrhundertwende.

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Nach platonischem Verständnis wird das Wissen durch die Philosophie bereitgestellt, die Dichtung erzeugt demgegenüber nur trügerische Bilder. Diese Abgrenzung wird im 20. Jahrhundert durch die Rede von den »zwei Kulturen« untermauert, von der wissenschaftlich-technischen und der humanistisch-literarischen Natur. Mit dem Begriff der third culture, wie er in den 1990ern geprägt wird, wird diese Gegenüberstellung jedoch ausgehebelt, da beide Kulturen fortan als eine, dritte verstanden wird: die Kultur ist nur eine zweite Natur. Die literarische Anthropologie ist eine paradigmatische Begegnung dieser beiden Antipoden, wie Riedel mehrfach nachweist, als poetisches Pendant zur Lehre vom »ganzen Menschen«, die auch die leibliche, imperfekte Seite der Krone der Schöpfung miteinbezieht (vgl. S. 144 ff.).

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Zum anthropologischen Roman wird der Zauberberg ausdrücklich dank seiner Rezeption der zeitgenössischen Biologie: Hans Castorp, ein Flachländer im doppelten Sinne: dieser kommt nicht nur aus dem Tiefland Hamburg, sondern ist auch ein regelrechter Flachkopf, erfährt in den Höhen des Sanatoriums die plötzlichen Regungen seines Geistes. Der Roman beschreibt die intellektuelle Steigerung des Protagonisten (vgl. S. 151), der mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und in den Tod gerissen wird. Wieder ist es der schopenhauersche Pessimismus, die grundsätzliche Lebensfeindlichkeit, die alle Geschehnisse zu überschatten scheint. Das Leben, der Mensch – ein flüchtiger Schein, der sich alsbald im Nichts deindividualisiert. Riedel will diese Lesart transzendieren. Castorp findet Im Sanatorium nämlich Zugang zu mehreren Mentoren. Darunter nicht nur ein Philosoph und ein Theologe, sondern auch ein Fürsprecher der Naturwissenschaften selbst – und aus dieser Begegnung scheint er seine wesentliche Erkenntnis zu gewinnen: Es ist der Chefarzt des Sanatoriums, durch den er auf die Spur der Anthropologie gelangt, der biologischen, empirischen, nicht metaphysischen Befragung des Menschen. Den Siedepunkt zwischen Wissenschaft und Kunst markiert das fünfte Kapitel: mit dem Moment der Betrachtung eines Gemäldes seines Schwarms Clawdia. In dem Austausch mit Behrens über die Ausführung gerät die erotische und ästhetische Betrachtung zur dermatologischen Analyse. So offenbaren sich ihm Wissenschaft und Kunst als Variationen ein und desselben Gegenstandes, des Gegenstandes überhaupt: des Menschen. Castorp nimmt den Menschen ganzheitlich in den Blick. In der Folge unternimmt er autodidaktische Forschungen zur Zellbiologie, zur Pathologie und weiteren medizinischen Spezialgebieten (vgl. S. 154 f.). All das steht natürlich im Zusammenhang mit der Lebensphilosophie, der schopenhauerschen Willensmetaphysik, und ihrem Metabiologismus im engeren Sinne. So kann er schließlich behaupten: »Ich weiß alles vom Menschen«. Dazu haben alle drei Mentoren beigetragen. Und hieraus ergibt sich auch, so kann man diese Fusion von Wissenszugängen lesen, das Postulat eines neuen Humanismus, der erforderlich ist, wenn die Biologie das Ende des Menschen besiegelt, der ganze Mensch mit dem Würgegriff der Natur, dem Tod ausgelöscht wird. Er formuliert eine neue Lebensfreundlichkeit dem Absolutismus des Todes zum Trotz. Und doch – oder gerade darum – läuft auch Castorp in einen sinnlosen Tod, all die Erkenntnis ist schließlich wieder zunichte – das ist das bittere Ende, das ist die nötige Konsequenz der »Achsendrehung«. Literatur als Anthropologie beschönigt nicht, sie transformiert Erkenntnis über die unbequeme Realität (vgl. S. 157 ff.). Und diese Realität ist nur im Medium der Literatur nachvollziehbar, das ist der Trumpf der Literatur als Wissenschaft über die Wissenschaft selbst.

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Der Mensch als Wissenschaftler tritt auch in Max Frischs »Der Mensch erscheint im Holozän« (1979) auf. Der Ingenieur Geiser verbringt seinen Lebensabend abgeschieden im Tessin. Während eines Unwetters kommt der Hang ins Rutschen, über den der Weg von seiner Klause ins Dorf führt. Geiser verbleibt in seinen vier Wänden und vertieft sich in Fachliteratur. Frisch stellt hier den reflektierenden Menschen der tobenden Natur draußen gegenüber. Er versucht seine Sonderstellung als denkendes Wesen, dass die Natur begreift und sich von ihr distanziert, im Subjektsein gegenüber der Katastrophe zu bewahren. Doch droht diese Sonderstellung zu schwinden: Geiser verliert langsam sein Gedächtnis. Er geht dagegen vor und bespickt sein Heim mit Zetteln, bis er seine Räume nicht mehr erkennt, schlachtet dafür sogar seine Lexika aus. Damit leitet er aber erst recht die Zersplitterung seiner Erinnerungen ein. Auf einem Weg, den er schließlich versucht ins abgeschnittene Tal zu unternehmen, gerät er völlig in Verwirrung, als er bemerkt, dass er seine Thermosflasche vergessen hat. Wieder zurück stürzt er im Haus, erleidet einen Schlaganfall und ist lädiert. Die Analogie von außen und innen, von Natur und Mensch führt Frisch damit fort: Das Tohowaboho des Unwetters geht einher mit der Verwirrung im Kopf. Der Mensch erscheint im Holozän: Das ist die Nacheiszeit, mit der der Mensch sich als Homo faber beginnt der Welt technisch zu bemächtigen, und sich auf eine neue Kulturstufe der Sesshaftigkeit, der Landwirtschaft schwingt. Der Zivilisationsmensch, wie der Ingenieur Geiser, betritt die Bühne der Evolution. Zugleich wird er bei Frisch als Naturmensch dargestellt und damit auch seine Kontingenz ins rechte Licht gerückt. Der Mensch des Holozän verschwindet vielleicht wieder, so wie einst die mächtigen Saurier. So pointiert Frisch die Krise des Humanismus (vgl. S. 216 ff.).

[20] 

In seinem »Stiller« dringt das anthropologische Moment wiederum durch die (individuelle) Identitätsfrage ein. Der gebürtige Schweizer tritt nach seiner verfehlten Vergangenheit die Ich-Flucht nach Amerika an, gibt sich als James White aus, doch wird bei einer Rückkehr aufgrund seiner schlecht gefälschten Papiere festgenommen und eines Verbrechens beschuldigt, mit dessen Täter sein Profil koinzidiert. Seine neue Identität zerbricht, im Gefängnis wird er eindringlich vernommen und mit seinem alten Leben konfrontiert (vgl. S. 185 f.).

[21] 

In dieser Situation kommt die Frage auf, ob die Wirklichkeit sich umfassend in Worte fassen lässt, die Sprache wahrheitsfähig sein kann. Und wie weit sich ein Bild von einem Menschen(-Leben) zeichnen lässt, denn indem wir schildern, bebildern wir auch. Ein Leitmotiv des Romans ist daher auch das Bilderverbot. Der Mensch ist als Einzelner ein ens realissimum, so Riedel nach Frischs Tagebuchaufzeichnungen, das Unendliche und Unfassbare, das in Bildnissen verkürzt und verfälscht würde. Also ist die Wirklichkeit, die Identität, das Wesen des Menschen mit unseren kommunikativen Bildern nicht fassbar (vgl. S. 190 ff.).

[22] 

Man kann menschliche Erfahrung nicht verbal nachbilden, sondern muss sie selbst erlitten haben. Zugleich sind all diese Erfahrungen eine Wiederholung für uns. Die Wiederholung ist eine Grundkonstante des menschlichen Lebens. Und damit reiht sich Stiller gewissermaßen in die Tradition der existentialistischen Literatur ein: Der Mensch ist das Wesen, das um die Wiederholung seines Tuns weiß, ein jeder Mensch sein eigener Sisyphos. Dabei wird Sartre hier gegen Camus ausgespielt. Der Mensch hat die freie Wahl seiner Identität. Doch was ist damit schon gewonnen, wenn man zugleich mit dem einzig größeren Übel, als der Tod es bedeutet, verflucht ist: der ständigen und sinnlosen Wiederholung. Dennoch entschließt Stiller sich nach seinem missglückten Selbstmordversuch zur Bejahung des Lebens, um der bloßen Tatsache des Lebens willen. Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst. Amor fati lautet die Losung, die jedoch nicht ohne einen Bruch davonkommt: Stiller bejaht das Absurde – und gibt sich dem Whisky hin (vgl. S. 200 ff.).

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Von Hirnmetaphern und lyrischen Schädelstätten

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Seinen dritten Teil »Elixiere der Dichtung« eröffnet Riedel mit einer anthropologischen Sicht auf das Werk Gottfried Benns.

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Er unterscheidet zwei Arten des Denkens nach C.G. Jung, analog zu diesen sich Benns Betrachtungen erstrecken lassen: die Unterscheidung betrifft, grob gesprochen, die bewusste und unbewusste Denkform. Während das bewusste, logische Denkens in Begriffen nach außen gerichtet ist, fällt das andere, das unbewusste, assoziative und in sich zurückgezogenen Denken in der Bereich der Vorstellungen und Phantasie. Dabei weicht das Wort dem Bild: Letzteres ist konkret statt abstrakt, behandelt die Gefühle, anstatt den Verstand zu bedienen (vgl. S. 128 f.). So zeichnen die Rönne-Novellen, seinem Gehirne-Zyklus, nach, wie der Arzt Werf Rönne wahnsinnig wird, den Weg vom Wissenschaftler zum Dichter beschreitet – er von der ersten zur zweiten Art des Denkens wechselt (vgl. S. 230 ff.). Dabei vollzieht sich diese Wende vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verschiebung: Das Gehirn ist nach neuerem Verständnis Ort und Medium der geistigen Vorgänge, die Einbildungskraft ein physiologischer Prozess. Benn untersucht selber in medizinhistorischen Essays die Materialisierung des Ich. Er setzt beim cartesianischen Dualismus an und zeichnet die Zerebralisierung kognitiver Prozesse im Laufe des 18. Jahrhunderts nach. Die res cogitans wird auf eine Hirnrinde fixiert, die Seele geht in ihrer Hirnfunktion auf (vgl. S. 236 ff.). Der Gehirnphänomenalismus wird im 19. Jahrhundert fortgesetzt, die Wirklichkeit findet nicht zur Realität, sie ist die »Welt als Vorstellung«, oder mit Benn: die Welt als Halluzination (vgl. S. 241). Das im Subjektivismus gefangene Subjekt Mensch weiß jedoch um seine Gefangenschaft: Es befindet sich in einer exzentrischen Positionalität, um mit Plessner zu sprechen. Der Mensch ist in der Welt und kraft seiner Reflexion gegenüber dem Tier doch außerhalb dieser. Das Bewusstsein spaltet somit den Menschen. Wenn Benn von der Transzendierung der Seele durch den Leib spricht, dann referiert er auf eine regressive Erlösungsmöglichkeit: Der Rückschritt aus der exzentrischen, der gespaltenen, bewusstseinsgeschuldeten Positionalität ist die Befreiung vom Ich ins Außen, eine Erlösung im Körperlichen, in der Natur. Die Evolution hat das Großhirn verbrochen, und die Umkehrung der Evolution, des von der Natur verschiedenen Menschen wäre die Lösung (vgl. S. 245 ff.). So sucht auch das lyrische Ich in den Benn-Gedichten den Untergang im Weltganzen. Was Freud in seiner Psychoanalyse versuchte, das Ich zu stärken und dem ungesunden Wunsch entgegenzuwirken, im Es, im Nicht-Ich, im Unbewussten, also alles anderem, einzugehen, zu sterben, also die Ich-Auflösung zu kurieren, wird bei Benn unterlaufen. Vom Ich zum Es, das ist die Erlösung des Menschen von seiner Sonderstellung, die Rückkehr zum ungespaltenen Tier (vgl. S. 269), die Erlösung von der Reflexionsspannung und der Zerrissenheit, wie die exzentrische Positionalität sie beschreibt – kurzum: Die Revision der Evolution (vgl. S. 278). So schreibt Benn in seinen »Gesängen« aus dem Jahr 1913:

[26] 
Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären.
[27] 
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
[28] 
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
[29] 
Glitte aus unseren stummen Säften vor.
[30] 
[31] 
Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel:
[32] 
Vom Wind geformtes und nach unten schwer.
[33] 
Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel
[34] 
Wäre zu weit und litte schon zu sehr. -
[35] 
[36] 
(...)
[37] 
[38] 
Die weiche Bucht. Die dunklen Wälderträume.
[39] 
Die Sterne schneeballblütengross und schwer.
[40] 
Die Panther springen lautlos durch die Bäume.
[41] 
Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer. – (ED 1, S. 47, zitiert nach Riedel, S. 268)

[42] 

Es ist auch hier die prominente Überwindung der Individuation im Sinne Schopenhauers, eine Regression – und sie zeigt sich auch formal in der Transformation der poetischen Dynamik in Figuren der Starrheit von Stein und Statue. Benns statische Texte sind der sprachgewordene Stillstand, beschreiben die Sphäre des Anorganischen, des Leblosen, beleuchten eine »Dorische Welt« (1934) (vgl. S. 279 ff.).

[43] 

Wo der Mensch einerseits seine Auflösung sucht, dort erscheint sein nahendes Ende andererseits als Verdammnis. In seinen Morgue-Gedichten wird der menschliche Tod in allen schonungslosen Registern verhandelt, oft in einem pathetischen und verzweifelten Ton. Keine Spur von einer gelassenen Verabschiedung der Metaphysik (vgl. S. 320).

[44] 

Das Kreisen um das menschliche Sein zum Tode prägt auch Durs Grünbeins Dichtung in der Dekade des Gehirns. Er nimmt dabei Bezug auf Georg Büchner, bei dem die Physiologie paradigmatisch in die Dichtung eingeht und der als Anthropologe wie auch Literat gelten kann (vgl. S. 300 f.). Grünbein findet bei Büchner so den anthropologischen Realismus präfiguriert, der auch für ihn entscheidend wird. Das Reich des Geistes, traditionelle Ausflucht des Dichtergemüts, wird auf den dunklen, engen Ort der Schädelstätte eingezäunt. Zugleich hält diese Reduktion eine Einsicht bereit: der Blick des Physiologen offenbart die Gleichheit der Menschen, ermöglicht einen neuen Humanismus, eine Demokratie, und damit hält der Dichter ein Mittel gegen die sozialistische Diktatur bereit: die Wirklichkeit des Körpers gegen die Ideale des Geistes. Der Körper ist die letzte Instanz, so auch in der Gedichtreihe »Schädelbasislektion«. Das Schicksal des Menschen ist seine Physiologie. Und damit die Sterblichkeit. Kein himmlisches Paradies wartet auf das endliche Wesen, sondern das Jetzt und Hier gilt es ihm zu gestalten (vgl. S. 302 f.):

[45] 
1
[46] 
Was du bist steht am Rand
[47] 
Anatomischer Tafeln.
[48] 
Dem Skelett an der Wand
[49] 
Was von Seele zu schwafeln
[50] 
Liegt gerad so verquer
[51] 
wie im Rachen der Zeit
[52] 
(Kleinhirn hin, Stammhirn her)
[53] 
Diese Scheiß Sterblichkeit. (SB, S. 11, zitiert nach Riedel, S. 303)

[54] 

Der Naturaspekt dominiert über das menschliche Bewusstsein, sein Ich, explizit: die Sprache. Die evolutionsgeschichtliche Entwicklung ist ein hübscher Überbau, doch das Fundament behält das letzte Wort (vgl. S. 303).

[55] 
Zwischen Sprache und mir
[56] 
Streunt, Alarm in den Blicken,
[57] 
Ein geschlechtskrankes Tier.
[58] 
Nichts wird ganz unterdrücken
[59] 
Was mein Tier-Ich fixiert (…) (SB. S. 13, zitiert nach Riedel, S. 303)
[60] 

Und die Sprache gibt die Welt auch nie wieder, wie sie wirklich ist. Die Poesie übersteigt die Begriffe, sie generiert Bilder, die mit Vorstellungen verknüpft sind. Ein lyrischer Text sei ein Protokoll der inneren Blicke, so lässt sich wieder mit Benn ergänzen, die Wörter hingegen sind nur ein zerebrales Ereignis, reine Physiologie (vgl. S. 306 f.), und wir »[s]ingende Hirne«. 1 Eine schier unerträgliche Verabschiedung des Transzendenzglaubens wird in den Epitaphen »Den Teuren Toten« vorgenommen. Über jede Ekelschwelle hinweg porträtieren diese das Sterben und den Tod. Und sie prägen dem Leser ein: das ist der Mensch, seine Körperlichkeit ist er. Das Panorama der Todesarten, vom Herzinfarkt vorm Fernseher, bis zum Vater, der zu Kettensäge greift, um seinen behinderten Sohn hinzurichten, fällt drastisch und gar sarkastisch aus. Doch auch darin, in der grausamen Verabsolutierung des Körperschicksals, liegt das Plädoyer für den Humanismus im Hier und Jetzt (vgl. S. 320 f.).

[61] 

Auf die lyrische ars moriendi verstehen sich auch Robert Gernhardt und Heiner Müller. Gernhardt war zweifach schwer erkrankt, und seine Gedichte zeugen von der Trostlosigkeit des Sterbenden, der keine Hoffnung mehr hat und seine Verzweiflung dem Gesunden gegenüber kundtut. Die christliche Sterbekunst mit ihren mittelalterlichen Sterbe-ABCs sah noch eine Unsterblichkeit der Seele vor, verstand den Tod als etwas, das nur die Körperhülle betraf. Der Tod ließ sich so negieren. Der Todgeweihte hat eine Zukunft. Der Schrecken des Nichts wird depotenziert, da dieses nur einen Übergang darstellt. Daher pflegte der Christ in Momenten seines Ablebens eine gewisse Sterbefreudigkeit an den Tag zu legen. Der Platonismus legte diese Sicht gewissermaßen an, doch unterscheidet sich die antike Philosophie von dieser Zuversicht überwiegend. Der philosophische Realismus der Sterblichkeit, der Epikurismus predigte vor allem: Lerne zu leben (vgl. S. 326 ff.). So steht auch in Gernhardts elendem Band »Später Spagat« am Ende des Tages die bittere Einsicht: Man hat nur dieses Leben (vgl. S. 340).

[62] 

Augenfällig bei Heiner Müller ist demgegenüber eine stoizistischere Begegnung mit dem Ende: Kaltschnäuzig, unerschütterlich gibt sich das lyrische Ich im Angesicht mit ihm. »Der Tod ist auch nicht neu […] Sterben ist ein Nu / Nimm es nicht ernst es ist ein Witz wie du« (Gespräch mit Yang Tschu »dem Pessimisten«. 28.6.1994, W1, 277, zitiert nach Riedel, S. 346) Ebenso tönt die ungerührte Todesverachtung im letzten Gedicht »Ich kaue die Krankenkost der Tod« (12.12.1995): »[…] In den Augen der Ärzte / War mein Grab offen Beinahe rührte mich / Die Trauer der Experten« […] (W1, 325, zitiert nach Riedel, S. 346) Den Tod gilt es anzunehmen, scheint Müller zu verkünden, er wohnt bereits im Kinde, schon das frische Leben ist zum Sterben prädestiniert, und so ein jeder von uns: Wo bei Gernhardt Trauer, da leuchtet bei Müller Versöhnung mit der Natur auf, wird der Tod zur Heimat (vgl. S. 351 ff.), wie im Sonnett Traumwald:

[63] 
Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum
[64] 
Er war voll Grauen nach dem Alphabet
[65] 
Mit leeren Augen die kein Blick versteht
[66] 
Standen die Tiere zwischen Baum und Baum
[67] 
Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spailer
[68] 
Der Fichten mir entgegen durch den Schnee
[69] 
Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh
[70] 
Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier
[71] 
Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt
[72] 
Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt
[73] 
Die letzte Tagesspur ein goldner Strich
[74] 
Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt
[75] 
Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich
[76] 
Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich. (1994, W1, 298, zitiert nach Riedel, S. 351)

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Fazit

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Mit den Betrachtungen zu einer Literarischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts wird innerhalb der literarisch-anthropologischen Forschung eine Lücke geschlossen und die Relevanz einer literaturwissenschaftlichen Analyse unter anthropologischen Vorzeichen verdeutlicht: Dieser Blickwinkel auf bereits vielfach analysierte Beispiele fördert weiterhin neue Erkenntnisse zu Tage, die erahnen lassen, welche interpretativen Möglichkeiten diese Lesart auch für andere Werke noch bereithält. Die große Herausforderung besteht dabei stets darin, das genuin Menschliche von all jenen Kategorien zu unterscheiden, in denen der Mensch natürlicherweise auch, aber nicht explizit zur Sprache kommt, bzw. diese seine urtümlichen Merkmale aus den übrigen Kategorien heraus zu destillieren. Literarische Anthropologie birgt immer die Gefahr, sämtliche Aspekte miteinzubeziehen, die, entfernt wie verwandt, das menschliche Verhaltens-, Gefühls- und Gedankenspektrum berühren. Darin liegt wiederum eine ihrer Stärken, denn sie belegt hierdurch ihre Tragweite. Um sich in dieser nicht zu verlieren oder ihren Untersuchungsgegenstand willkürlich festzulegen, scheint eine Engführung auf diejenigen Kategorien sinnvoll und notwendig, die auch aus den Untersuchungen der übrigen, anthropologisch engagierten Disziplinen hervorgehen, wie des Leib-Seele-Problems oder die Natur-Kultur-Dichotomie, also all diejenigen Kategorien, die auch in engem Zusammenhang mit der beschriebenen Achsendrehung stehen.

 
 

Anmerkungen

Zerebralis. SB, S. 136.   zurück