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Empirische Ästhetik im Aufschwung

  • Jutta Müller-Tamm / Henning Schmidgen / Tobias Wilke (Hg.): Gefühl und Genauigkeit. Empirische Ästhetik um 1900. Paderborn: Wilhelm Fink 2014. 213 S. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-7705-5584-0.
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In ihrer material- und quellenreichen Einführung stellen die Herausgeberin und die Herausgeber fest, dass die Empirische Ästhetik »seit einigen Jahren erheblich an Aufmerksamkeit gewonnen hat« (S. 7). Für Deutschland nennen sie als Beispiel die Einrichtung des Max-Planck-Instituts für Empirische Ästhetik im Jahre 2012. Dass ein solches Forschungsfeld, das von Anfang an ein dezidiert interdisziplinäres war, keineswegs so neu und ohne Beispiel ist, wie es bisweilen den Anschein erweckt, sondern einen langen Vorlauf hat und auf eine »Vorzeichnung« (S. 8) ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückblicken kann, ist einer der wesentlichen Ansprüche des Bandes, der auf einen Workshop des Forschungsprojekts »Emotionswissen in der empirischen Ästhetik um 1900« (2009–2012) im Rahmen des Exzellenzclusters »Languages of Emotion« der Freien Universität Berlin zurückgeht.

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Tradition mit langem Vorlauf

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Die »Anfänge dieser Konjunktur« (S. 9) datieren die Herausgeberinnen auf die Zeit um 1870. In den Jahren bis nach der Jahrhundertwende treten der Philosoph Gustav Theodor Fechner, der Mediziner Ernst Brücke, der Kunsthistoriker Robert Vischer, die Psychologen Wilhelm Wundt, Ernst Meumann, Karl Groos und Max Dessoir mit Schriften hervor, die wechselweise unter den Schlagworten ›experimentelle‹, ›psychologische‹, ›physilogische‹ oder ›evolutionistische‹ Ästhetik firmieren. Kennzeichnend waren die zwar konkurrierenden, doch noch kaum geschiedenen empirischen und philosophischen Forschungsansätze auf dem Gebiet der Ästhetik. Der Band hat die Zeit zwischen 1870 und 1920 im Blick und diskutiert im Sinne des programmatischen Titels »Gefühl und Genauigkeit« die leitende »Frage, wie sich das Verhältnis von Gefühl und Genauigkeit [...] konzipiert, operationalisiert und repräsentiert findet«. (S. 18) Es fehlt in der Einführung auch nicht der wichtige Hinweis, dass die Konjunktur der empirischen Ästhetik um 1900 mit dem Ersten Weltkrieg jäh abreißt, was nicht zuletzt auch eine sehr verhaltene Rezeption durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch zur Folge hat.

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Der Band enthält sieben Beiträge, die teilweise über den Umfang und Komplexitätsanspruch von Aufsätzen hinausgehen und daher auch als aufeinander bezogene Buchkapitel gelesen werden können. Der Medientheoretiker Henning Schmidgen zeigt in seinem Beitrag »Literatur im Labor. Die Entwicklung psycho-physiologischer Praktiken, 1800/1900« anschaulich, dass ebensolche Experimente mit Literatur nicht erst mit Ivor Armstrong Richards’ Practical Cristicism (1930) beginnen, sondern bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Eindrücklich ist das Beispiel des Schweizer Dichters, Arztes und Physiologen Albrecht von Haller (1708–1777), der auf der Grundlage des lauten Lesens von Vergils Aeneis Messungen der Muskelbewegungen im artikulatorischen Apparat vornimmt und daraus Hochrechnungen für die Nervenleitgeschwindigkeit erstellt. Verblüffender Weise stimmen diese mit den späteren Messwerten von Hermann von Helmholtz annähernd überein. Auf der Grundlage seiner Fallstudien zu Ernst Brücke (1819–1892), Robert Chenault Givler (1884–1975) u.a. kommt Schmidgen zum Fazit, dass »[d]er Weg der Literatur [...] lange Zeit außerhalb der Bahnen verläuft«, in denen einerseits Emotionen experimentell untersucht werden und andererseits Literatur im akademischen Rahmen diskutiert wird (S. 40–43, Zitat S. 40). Dieser Umstand, so lässt sich anschließen, stimmt mit dem Befund aus der Betrachtung der Quantifizierung literarischer Artefakte überein, wie er etwa in der Geschichte der Quantitativen Literaturwissenschaft deutlich wird.

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Tobias Wilke setzt in »Schwingungs-Bilder. Ästhetische Einfühlung zwischen Seele und Gehirn« bei der Beobachtung an, dass das Konzept der Einfühlung mit der Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Naturstimmung (z.B. Witterung und Jahreszeit) einhergeht. Er geht der Frage nach, »inwiefern der psychische Vorgang des Symbolisierens durch die physi(kali)schen Qualitäten der Naturgegenstände selbst motiviert wird« (S. 47, Hervorhebung im Original). Malika Maskarinec rekonstruiert in ihrem Beitrag »Das Gewicht der Abstraktion. Der Körper als Maßstab ästhetischer Erfahrung um 1900« die konstitutive Rolle des menschlichen Leibes für die empirische Ästhetik des späten 19. Jahrhundert bei Robert Vischer, Heinrich Wölfflin, August Schmarsow und Theodor Lipps. Als Ausgangspunkt post quem dient ihr dabei die Arbeitsfrage Paul Klees zu Größe und Form eines Gebäudes, die dieser 1921/1922 in einem Grundkurs der Bauhaus-Schule erarbeitet hat.

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In Analogie zu bislang ungelösten Problemen in der Einfühlungstheorie (Fragen nach der Leiblichkeit von Wahrnehmung und Gefühlen; Relationen von ›Selbst‹ und dem ›Anderen‹, Unterscheidbarkeit zwischen Emotion und Kognition u.a.) weist die Komparatistin Sabine Mainberger in »›Tragödie der Verleibung‹«darauf hin, dass es auch in der Theoriegeschichte des Einfühlungskonzepts nach wie vor blinde Flecken gibt: Kaum erforscht seien u.a. die Debatten um die ›Einfühlung‹ in der von Max Dessoir gegründeten »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, in der Forschung unterrepräsentiert sei auch Victor Basch (1863–1944); »[...] von dem Einfühlungstheoretiker und Germanisten (!) Basch weiß man zumindest in Deutschland wenig, den Namen Dessoir und zumal seine Biographie kennt man in der Regel nur in der Kunstwissenschaft [...]« (S. 107). Die Einfühlungstheorie mit ihrer Konjunktur um 1900 endet theoriegeschichtlich einerseits mit Wilhelm Worringer (1881–1965), der sich »als der große Kritiker von Theodor Lipps« (S. 106) profilierte, andererseits mit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als »Einfühlung durch die Kritiken Benjamins und Brechts diskreditiert« (S. 107) wurde. Mainberger versucht die bislang nicht geschlagene Brück von der Einfühlungstheorie zu den Neurowissenschaften zu schlagen. Als Bindeglied dient ihr dabei Aby Warburg, der in jüngster Zeit nicht mehr »vorwiegend als Repräsentant der ikonologischen Forschung« gesehen wird, sondern auch als »spiritus rector [...] für den Brückenschlag von Natur- und Humanwissenschaften« (S. 109).

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Ebenfalls mit Warburg befasst sich die Kunstwissenschaftlerin Kerstin Thomas, vor allem mit seinen Grundlegenden Bruchstücken. In ihrem Beitrag »Momentane Mimik und potentielle Energetik. Aby Warburgs Ausdruckskunde zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft« legt sie dar, »[...] wie Warburg Begriffe aus der Philosophie (Apperzeption), der Wahrnehmungspsychologie, der Physiologie (Association, Absorption), der Biologie (Organisation, Auslese), der Physik (Masse, Kraft) überträgt und sie für seine Fragen fruchtbar zu machen versucht. Naturwissenschaft und Ästhetik werden zusammengedacht.« (S. 167)

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In Anschluss an den »beträchtlichen Empirisierungsdruck« (S. 169), dem die Ästhetik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt war, untersucht die Literaturwissenschaftlerin Jutta Müller-Tamm das Konzept der ästhetischen Schwelle nach Gustav Theodor Fechner, in dem psychologische Quantifizierung und ein ›Sprung‹ von Quantität zu Qualität ihren Ausdruck finden. Mit Parapsychophysik beschäftigt sich der Medientheoretiker Stefan Rieger. Er versteht darunter »den lebenden Körper als [...] Ort [...], an dem sich zwischen Ausdruck und Einfühlung ein hypertrophes Feld für alle nur denkbaren Interventionen eröffnet« (S. 185). Abgerundet wird der Band durch ein nützliches Personenregister.

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Fazit und Ausblick

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Die einzelnen Kapitel des Buches als auch der Band insgesamt analysieren gründlich wesentliche Aspekte der Theorie- und Wissensgeschichte der Empirischen Ästhetik und erschließen sie für weiterführende und vertiefende Forschungen. Den Anspruch, Empirische Ästhetik systematisch und historisch zu kontextualisieren, löst der Band voll ein. Ergebnis davon sind nur scheinbar ein leichtes Kratzen am Lackglanz neuester empirischer Forschungen, sondern eigentlich und im Grunde der (inzwischen konsensfähige) Befund und Nachweis, dass empirische Ansätze, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts abgesunken und vor allem in den letzten Jahrzehnten des späten 20. Jahrhunderts richtiggehend tabuisiert waren, auf eine lange Forschungsgeschichte zurückblicken und im 19. Jahrhundert gründen.

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Vieles deutet heute darauf hin, dass die Empirische Ästhetik in den nächsten Jahren wieder an ihren einstigen Rang und ihre vormalige Produktivität anschließen könnte, den sie in den Jahrzehnten um 1900 innehatte, bevor Avantgarde und Moderne durch den Ersten Weltkrieg jäh unterbrochen wurden. Heute werden wahrscheinlich humanwissenschaftliche Forschungen, namentlich die Neurologie, sowie die digitalen Geisteswissenschaften die Empirische Ästhetik voranbringen, doch für ihre weitere Entwicklung nicht zu unterschätzen ist die Konsultation historischer Wissensbestände, die nach kritischer und systematischer Sichtung, wie sie der hier besprochene Band in vorbildlicher Weise modelliert, differenzierende, korrektivbildende und flankierende Impulse beisteuern können.

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Eine Fortführung und Erweiterung der systematischen Erforschung und historischen Rekonstruktion der Empirischen Ästhetik könnte sich in drei Richtungen erstrecken: in die vertiefende Erforschung der Netzwerke um Max Dessoir, die 1906 von ihm ins Leben gerufene Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1 und die 1908 von ihm gegründete »Vereinigung für Ästhetische Forschung«, in die möglichst flächendeckende Kartographierung empirischer, szientistischer, positivistischer, experimenteller und quantitativer Methoden in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert sowie in deren umfassende Kontextualisierung in Wissenschaftstheorie und Philosophie.

 
 

Anmerkungen

Vgl. dazu Josef Früchtl / Maria Moog-Grünewald (Hg.): Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«. Unter Mitarbeit von Philipp Theisohn. Hamburg: Meiner 2007.   zurück