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Ausschneiden und Einkleben von Grafiken als Aneignungsformen bildlichen Wissens in der Frühen Neuzeit

  • Marie Isabelle Vogel: Die Klebebände der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek Arolsen. Wissenstransfer und -transformation in der Frühen Neuzeit. (Medien - Literaturen - Sprachen in Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik 20) Frankfurt a. M: Peter Lang 2015. 491 S. 45 farb., 114 s/w Abb. Hardcover. EUR (D) 89,95.
    ISBN: 978-3-631-66277-9.
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Es mag als Folge eines Perspektivwandels betrachtet werden, dass eine Reihe von historischen Medien, die früher bestenfalls hinsichtlich des Wertes ihrer Inhalte die Aufmerksamkeit von Historikern oder Kunsthistorikern auf sich gezogen hätten, nun in den Fokus einer an den Formen der Speicherung und Kommunikation des Wissens interessierten Forschung treten. Dazu zählen u. a. Klebebände, ein für frühneuzeitliche Sammlungen typisches Medium zur Aufbewahrung und Zusammenstellung von Grafikbeständen. Über seine Erscheinungsformen existieren keine zusammenfassenden Untersuchungen; und auch Veröffentlichungen zu einzelnen Konvoluten sind eher selten. Die vorliegende Publikation widmet sich einem solchen geschlossenen Bestand: den Klebebänden der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek in Arolsen. Sie ist hinsichtlich ihres Umfangs und der streng an den strukturellen und kommunikativen Eigenschaften des Mediums »Klebeband« ausgerichteten Forschungsinteressen die erste Studie dieser Art. Die Autorin ist Germanistin, das Buch entstand als Dissertation im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojektes zur Hofbibliothek in Arolsen. 1

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Der Bestand

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Der Bestand der Hofbibliothek in Arolsen zählt in Summe 21 Klebebände mit über 7.000 Druckgrafiken, die nach Format, Einbandgestaltung und nach den Techniken und Prinzipien des Montierens nur partiell Ähnlichkeiten aufweisen und somit insgesamt kein einheitliches Erscheinungsbild abgeben. Es fragt sich unter diesen Gegebenheiten, ob wir es mit einem geschlossenen Corpus zu tun haben, wie es die Arbeit von Vogel mitunter suggeriert; ob die Bände also allesamt in zeitlicher Nähe und an einem Ort (nämlich in Arolsen) entstanden sind. Der Umstand, dass in drei der Alben Reste eines Exlibris enthalten sind (S. 219 f.), belegt bereits hinlänglich, dass dies nicht durchwegs der Fall sein kann. Damit ist aber zugleich eine für den Gang der Untersuchung wesentliche Voraussetzung angesprochen: Über die Entstehung bzw. Provenienz der Arolsener Klebebände war bis dato so gut wie nichts bekannt.

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Die Alben enthalten keine Paratexte, die Metadaten, Erläuterungen oder Suchhilfen zum Inhalt bieten, doch sind die meisten auf dem Rücken mit Titelschildern versehen (S. 104–106). Nach den dort bezeichneten Themen der montierten Drucke lassen sich zwei Gruppen von Klebebänden abgrenzen. Neun der Alben enthalten Porträtgrafiken, und zwar mit über 4.500 fast zwei Drittel des Bestandes an Einzelbildern. Innerhalb der Porträt-Klebebände wiederum zeichnen sich drei Unterkategorien ab. Vier Alben tragen am Rückenschild den Titel »Geistliche und Gelaehrte« (darunter drei mit Bandzählung I-III BAND), zwei die Aufschrift »Herrschaften Kriegs= und Staats=Bedienten«. Diesen letzteren lassen sich zwei weitere Bände zuordnen: eine mit dem Etikett »Nordische« versehene Sammlung von Regenten, Staatsmännern und Diplomaten aus Schweden, Dänemark und Norwegen und ein Band, in den die großformatigen, ganzfigurigen Bildnisse aus der zweiten Auflage (1569) von Francesco Terzios »Austriacae Gentis Imaginum« eingeklebt sind. Der übrige neunte Porträtband enthält »Raths und Stadtleuthe«.

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Dem Rezensenten drängt sich angesichts dieser Sachlage die Vermutung auf, dass die Gruppierung der Porträts in den Alben aus Arolsen durch die frühneuzeitliche ständische Gesellschaftsordnung geprägt ist und diese in ihrer kategorialen Dreiteilung widerspiegelt. Da das Album »Raths und Stadtleuthe« laut Vogel »Bürger aus allen Schichten der Gesellschaft: z. B. Mitglieder alter patrizischer Familiengesellschaften, Kaufleute und Handwerker« vereint (S. 130), wäre damit der sozial äußerst heterogene dritte Stand repräsentiert, der als Hauptmasse der Bevölkerung typischerweise im Medium Bildnis vollkommen unterrepräsentiert ist. Die Verbindung von Geistlichen und Gelehrten entspricht zugegebenermaßen nicht den ständischen Kategorien; doch wäre mit der häufigen Apostrophierung des Klerus als »Lehrstand« immerhin eine gedankliche Voraussetzung gegeben. Und schließlich spricht noch die auffällig hierarchische Abfolge der Bilder für ständisches Denken: Am Beginn der Bände »Geistliche und Gelehrte« stehen jeweils die Bildnisse von Päpsten, am Anfang von »Herrschaften Kriegs= und Staats=Bedienten« rangieren die Kaiser aus der Dynastie der Habsburger (S. 166 und 184).

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Die übrigen zwölf Klebebände enthalten Bilder zu »diversen Motiven«, die sich keiner übergeordneten Kategorie zuordnen lassen. Darunter fallen Landschaften und Städteperspektiven (Grafiken der Maler- und Vedutenstecherfamilie Perelle sowie das von dem Architekten Erich Dahlberg herausgegebene Werk »Suecia antiqua et hodierna«), Landkarten und Pläne, eine Flugblättersammlung, Druckgrafiken mit Feuerwerksdarstellungen, Theateraufführungen, höfischen Festen und Aufzügen, biblische Historien, das »Theatre des peintures« von David Teniers und der »Combat à la Barriere« von Jacques Callot, Architektur- und Ornamentstiche von Jean Le Pautre sowie Bildnisse von Balthasar Montcornet, Matthias van Somer und Peter Aubry. Vogel beschreibt diese Bestände nur summarisch (S. 131–140); lediglich der selektiven Verwertung der Festpublikation eines im Jahr 1695 in Dresden abgehaltenen Aufzuges im Band »Lust und Schau-Spiele auch Auf- und Einzüge«, der schwerpunktmäßig Festberichte vom sächsischen Hof vereinigt (S. 137, Anm. 463), widmet die Autorin eine detailliertere Analyse (S. 117–124).

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Historische Verortung der Klebebände

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Bei der Erforschung von Sammlungsbeständen, über deren Entstehung und Herkunft nichts bekannt ist, bildet die Provenienzforschung die erste und zugleich grundlegende Aufgabe. Vogel widmet diesem Thema ein umfangreiches Kapitel, wobei sie die historischen Kataloge der Waldeckschen Hofbibliothek und ergänzende handschriftliche und gedruckte Zeugnisse als Quellen benutzt. In den Verzeichnissen von 1641 und 1737 finden sich lediglich vage Hinweise, die auf das Vorhandensein von Klebebänden schließen lassen, sowie Einträge zu Stichfolgen, die tatsächlich im heutigen Klebeband-Bestand enthalten sind oder wenigstens thematisch mit diesem zusammenhängen (S. 46f. und 49 f.). Die bestehenden Alben als solche aber lassen sich – wenn auch nicht vollständig, so doch großteils – erst in den Katalogen des frühen 19. Jahrhunderts (nach 1812 und 1839) zweifelsfrei nachweisen. (S. 73–97). Von Interesse ist dabei, dass die Bibliothekare bei der Erstellung der beiden Repertorien auf Befehl des Fürsten auch Provenienzangaben bei den Titeleinträgen vermerkt haben: Die genaue Herkunft der Klebebände war aber bereits damals nicht mehr bekannt; als Terminus ante wird für sie im Katalog von 1839 lediglich das Jahr 1760 (der Regierungsantritt des Fürsten Friedrich Karl August) angeführt. Vogel nimmt für die Klebebände eine Entstehungszeit im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts an und begründet dies mit guten Argumenten. Ein Teil der Einbände lässt sich in diese Zeit datieren (S. 49) und eine Buchbinderrechnung aus dem Jahr 1727 verzeichnet in mehreren Posten die Kosten für insgesamt 15 »Kupferbücher«, womit in zeitgenössischen Quellen nachweislich Klebebände bezeichnet wurden (S. 50–55 und 96). Auch die Verwendung zahlreicher im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts »hochaktueller« Stiche in den Porträtbänden weist in diese Zeit. So wurden etwa aus einer zeitgenössischen Zeitschrift in den Jahrgängen zwischen 1714 und 1729 die Frontispize herausgeschnitten und im Band »GEISTLICHE UND GELÄHRTE III BAND« wiederverwendet (S. 155 f.). Der damit umrissene Entstehungszeitraum koinzidiert mit einer Reihe wichtiger Entwicklungen im Hause Waldeck: dem Regierungswechsel von der Eisenberger zur Wildunger Linie Ende des 17. Jahrhunderts, der Erbauung des Residenzschlosses in Arolsen nach französischem Vorbild ab 1710 und der Erhebung in den erblichen Fürstenstand 1712. Auch für die Bestände der Hofbibliothek bedeuten diese Entwicklungen aufgrund der Evidenz der erhaltenen Kataloge aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert eine Umgestaltung (S. 47–49). Dass die Herstellung der Mehrzahl der bis heute überlieferten Klebebände in Arolsen in diese »hochbarocke« Phase des Fürstentums fällt, erscheint plausibel.

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Muster der selektiven und assoziativen Verwendung von Porträtgrafiken

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Ausführliche Analysen zu den Auswahl- und Montageprinzipien der Grafiken stellt Vogel anhand von fünf der Porträtalben an, in denen laut Titel »GEISTLICHE UND GELÄHRTE« und »HERRSCHAFTEN KRIEGS= UND STAATS=BEDIENTEN« enthalten sind (S. 140–220). Diese Fokussierung mag mehreren Umständen geschuldet sein: Die Porträtbände besitzen formal und inhaltlich den Charakter eines geschlossenen Konvolutes, das, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch in Arolsen hergestellt worden ist. Und sie eignen sich aufgrund der häufigen Zusammenstellung mehrerer Einzelbilder auf einer Seite gut für Untersuchungen zu der Problematik, wie ein Kompilator durch Auswahl und Anordnung die in den Bildern repräsentierte Wirklichkeit klassifiziert und durch assoziative Verbindungen strukturiert. Als hilfreich erweisen sich dabei eine Reihe von Thumbnail-Abbildungen größerer Seitenfolgen, die einen guten Überblick über Layoutstrukturen und Muster der Bildverteilung bieten (Abb. 26, 36, 47, 59, 63, 64, 80, 91).

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Keiner der Bände enthält irgendwelche Hinweise auf Autorschaft und Entstehungszeit, wenngleich der Kompilator durch die Montage von Kupferstichen eine Art Titelblatt gestaltet hat. Im Fall der »HERRSCHAFTEN [...]« sind dies eine Herrschaftsallegorie Kaiser Leopolds I. und eine Allegorie der Justitia von Joachim von Sandrart (S. 182 f. und 208 f.); in den Bänden »GEISTLICHE [...]« handelt es sich jeweils um Kollagen aus zwei Bildern unterschiedlicher Herkunft. So wird etwa im dritten Band dieser Reihe das Exlibris des Wolfenbütteler Stadtarztes und Büchersammlers Johann Heinrich Burckhard zurechtgeschnitten und in eine Bandelwerkkartusche geklebt (S. 148–152). Die Montage der Bilder erfolgt fast ausschließlich auf den Rectoseiten und vorwiegend in Gruppen (S. 143, 182 und 197). Da der Kompilator keinen Wert auf die Qualität der Drucke legt und unterschiedslos Blätter verschiedener Techniken und Jahrhunderte nebeneinanderklebt, geht es ihm hauptsächlich um die Bildinhalte, d. h. um die dargestellten Personen (S. 144, 181 und 202 f.). Die meisten Grafiken wurden aus- oder zurechtgeschnitten, wobei die Reduktion durch die Bedürfnisse des Kompilators ebenso wie durch das begrenzte Platzangebot auf den Buchseiten bedingt ist (S. 176). In der Art der Zusammenstellungen spiegelt sich das Wissen um gesellschaftliche und historische Zusammenhänge. Großen Raum nehmen die Bildnisse der Päpste und der habsburgischen Kaiser ein, die zum Teil mehrfach in unterschiedlichen Kombinationen vertreten sind und gewissermaßen an der Spitze der in den Serien »GEISTLICHE […]« und »HERRSCHAFTEN […]« repräsentierten sozialen Gruppen stehen (S. 152–155, 166–170, 184–190 und 197–202). Das Interesse an der Reformation bezeugen drei ganzfigurige Bildnisse von Luther, Melanchthon und Calvin, um die auf der Restfläche der Buchseite kleinere Porträts von Personen aus ihrem Umfeld gruppiert sind (S. 174–179). Derartige assoziative Verbindungen und ein beim Kompilator vorauszusetzendes Vorwissen über die dargestellten Personen mögen die Zusammenführung von Bildnissen auch in jenen Fällen bestimmt haben, wo der Zusammenhang nicht ohne weiteres ersichtlich ist (S. 215 und 228). Wegen des Mangels an Kenntnissen über den Urheber und die Entstehungszusammenhänge ist die Stichhaltigkeit von Erklärungen jedoch stark an die unmittelbare Evidenz des Materials gebunden. Nicht sehr überzeugend ist etwa die Überlegung Vogels, dass die Bildnisse Augusts II. von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666) und Georgs III. von Anhalt (1507–1553) nur deshalb flankierend neben das Porträt des Trierer Fürsterzbischofs Philipp Christoph Von Sötern (1567–1652) geklebt worden sein sollen, um auf dessen lutherische Taufe hinzuweisen (S. 171–173). Ein anderes Beispiel einer sehr ähnlichen Bildkombination spricht hingegen für sich: Hier ist ein kleineres Porträt Kaiser Karls V. neben die Darstellung Ferdinands I. geklebt und diese mit einer aus einer anderen Quelle herausgeschnittenen Bildunterschrift ergänzt, die u. a. die Bezeichnung »FRATER & SUCCESSOR CAROLI V.« enthält (S. 188–190).

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Zur Frage der Funktion der Klebebände

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Die Schlussbetrachtung widmet die Autorin hauptsächlich der Frage nach Zweck und Gebrauch der Klebebände. Wie sie mehrfach betont, handelt es sich bei den montierten Blättern großteils um minderwertige Grafik (S. 55, 110, 144, 181 und 229). Der Prestigewert der Objekte, Kennerschaft oder das Interesse an bestimmten Künstlern dürften bei der Zusammenstellung der Arolsener Klebebände jedenfalls kaum eine Rolle gespielt haben. Vogel vermutet als Zweck eine didaktische Verwendung: Die Alben sollen als Anschauungsmaterial bei der Erziehung der Prinzen benutzt worden sein. Bei der Betrachtung von Bildern sollen Kenntnisse zu wichtigen Persönlichkeiten, zu Geschichte, Geographie, höfischen Umgangsformen etc. vermittelt worden sein. Konkret denkt die Autorin an Joachim Christoph Nemeitz (1679–1753), der bis 1730 als Prinzenerzieher in Waldeckschen Diensten stand (S. 227). Unterstützt wird diese Hypothese zur Funktion der Klebebände durch zwei zeitgenössische literarische Quellen, die Vogel in ihrer Arbeit immer wieder als Zeugnisse für historische Sammlungspraktiken heranzieht: die 1710 erschienene deutsche Übersetzung von Roger de Piles »Abregé de la vie des Peintres« 2 und Apins »Anleitung« für Bildnissammler von 1728. 3 Beide Schriften streichen die mnemotechnische Funktion von druckgrafischen Bilder-Kollektionen an mehreren Stellen heraus (vgl. S. 200 f., 222, 226, 227, und 229). Ein Gebrauch der Arolsener Klebebände in diesem Sinn ist zwar denkbar, gewinnt aber mangels direkter Quellenbelege keine unmittelbare Evidenz. Übungshefte des nachmaligen Fürsten Karl August Friedrich aus der Zeit vor 1720, in denen Hinweise auf die Verwendung der Klebebände als Unterrichtsmaterial enthalten sein sollen, werden zwar erwähnt, die entsprechenden Passagen aber nicht zitiert und besprochen (S. 227, Anm. 655). Besonders auffallend ist der Umstand, dass in den Porträtalben keine Bildnisse aus dem Geschlecht der Waldeck enthalten sind (S. 230). Ahnengalerien waren ja gerade in jener hochbarocken Periode der deutschen Fürstenhöfe für aufsteigende Geschlechter ein typisches Instrument der Selbstdarstellung und -definition innerhalb der symbolischen Inszenierung der frühneuzeitlichen Gesellschaftsordnung. Etwas mehr Informationen hätte man sich schließlich über das kulturelle Leben am Arolsener Hof in der für die Klebebände angenommenen Entstehungszeit erwartet und über etwaige Kenntnisse zur Funktion von Klebebänden in anderen Überlieferungskontexten. Doch gerade das ist ein Thema, zu dem die Forschungssituation anscheinend noch kaum Vergleichsmöglichkeiten zulässt. Die vorliegende Publikation ist deshalb in ihrer Eigenschaft als detaillierte Fallstudie auch ein Referenzwerk und wichtiger Schritt in der weiteren Erforschung des Mediums »Klebeband«.

 
 

Anmerkungen

Roger de Piles: Historie und Leben der berühmtesten Europaeischen Mahler […]. Hamburg 1710.   zurück
Sigmund Jacob Apin: Anleitung wie man die Bildnisse berühmter und gelehrter Männer mit Nutzen sammeln und denen dagegen gemachten Einwendungen gründlich begegnen soll. Nürnberg 1728.   zurück