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Fehlende Stimmen: The end of shame and secrecy

  • Viola Amato: Intersex Narratives. Shifts in the Representation of Intersex Lives in North American Literature and Popular Culture. (Queer Studies) Bielefeld: transcript 2016. 316 S. Kartoniert. EUR (D) 49,99.
    ISBN: 978-3-8394-2.
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Bisher fehlende Forschung zu Inter*

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Seit ungefähr 30 Jahren wird Inter*sexualität auch außerhalb jener Bereiche verhandelt, die – wie die Bio-Medizin und die Psychologie – dazu tendieren, das Thema mit Scham zu besetzen und zu pathologisieren. Aus der Soziologie, der Geschichtswissenschaft sowie der Anthropologie kommen nun Berichte über den Umgang, das Auftreten und die Wichtigkeit von Inter*sexualität, Hermaphroditismus, Zwittertum, Intragender und sogenannte dritte Geschlechter. Die Studie von Viola Amato jedoch bringt einen neuen und seit jeher vernachlässigten Aspekt in die akademische Verhandlung und Diskursivierung von Inter*: eine literatur- und medien- und literaturwissenschaftliche Analyse von (Selbst-) Repräsentationen von Inter*personen in populären Printmedien und im Fernsehen.

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Die Studie ist in fünf Kapitel unterteilt, deren erstes den theoretischen und konzeptuellen Rahmen absteckt. Das zweite behandelt die Anfänge einer Artikulation von Inter*personen in unterschiedlichen Kontexten und berichtet so von der langsamen aber kontinuierlichen Selbstermächtigung einzelner Individuen, aber auch von einer wachsenden sozialen Bewegung und deren Einfluss auf Pathologisierung und Behandlungsparadigmen. Kapitel drei ist klassischer literaturwissenschaftlich aufgebaut und analysiert autobiographische Dokumente aus der Inter* Community. Anhand dieser Analysen werden unterschiedliche Aspekte von Inter* in der US-amerikanischen Kultur untersucht. Das vierte inhaltliche Kapitel beschäftigt sich mit dem zu verzeichnenden diskursiven Spagat zwischen hegemonialen Erzählungen über Inter* und denjenigen Narrationen, die subversive Tendenzen aufweisen. Das Schlusskapitel untersucht schließlich US-amerikanische Krankenhaus-Fernsehserien und deren Umgang mit Inter*.

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Intersex conditions versus intersex variations – eine wichtige Unterscheidung

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In der Einleitung positioniert Amato ihre Studie jenseits der pathologisierenden Diskurse der Medizin. Sie spricht daher nicht von intersex conditions sondern von intersex variations. Des Weiteren nimmt sie das Konzept der Intelligibilität (Judith Butler), auf das das Buch immer wieder Bezug nimmt, als subjekttheoretisch-philosophischen Ausgangspunkt für die Analyse von Inter* Erzählungen. Das Augenmerk ist richtigerweise auf die Publikationen der wichtigsten Intersex Organisationen (NGOs) wie OII gerichtet. Hier finden sich kritische Beiträge zu Behandlung und medizinischem Umgang mit Intersex, zum Diskurs der Menschenrechte und zu anderen ethischen Debatten sowie natürlich die first-person accounts die für die Studie am wichtigsten sind. Leider fällt Amatos Bericht zum Forschungsstand ziemlich knapp aus und wird somit auch der derzeitigen Flut an Publikationen aus den unterschiedlichsten Disziplinen zum Thema nicht gerecht. Hauptsächlich zieht die Autorin Monographien und Sammelbände der ›üblichen Verdächtigen‹, wie Alice Dreger (1998), Suzanne Kessler (1998) und Sharon Preves (2003) und Morgan Holmes (2009) heran. Die wachsende Zahl an Journalbeiträgen in internationalen Zeitschriften jedoch findet kaum Beachtung. 1 Auch international durchaus relevante deutsche Publikationen von zum Beispiel Ulrike Klöppel (2010) oder Heinz-Jürgen Voß (2010) werden nicht rezipiert. Das ist besonders schade, da die Autor*in die Chance hätte nutzen können, diese umfassenden Studien dem anglophonen Sprachraum vorzustellen.

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Inter* verstehen

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Im ersten inhaltlichen Kapitel zu konzeptuellen und theoretischen Rahmungen werden der »medizinische Blick« von Michel Foucault und das Intelligibilitätskonzept von Judith Butler aufgerufen. Der medizinische Blick, wie in Die Geburt der Klink (1973) untersucht, beschreibt, wie in einer okularzentristischen Gesellschaft der Blick eine besondere Macht ausübt und gerade im medizinischen Kontext die Patient*innen den Mediziner*innen unterwirft und ausliefert. Intelligibilität nach Butler ist die Voraussetzung dafür, als Mensch von anderen anerkannt zu werden – was verhindert wird, wenn die verfügbaren Kategorien für Menschliches nicht das repräsentieren, was ich bin oder sein muss, um überleben zu können – wie zum Beispiel weder männlich noch weiblich. Diese Konzepte sind sicherlich nützliche Instrumente, um die Genderdebatte um Normalisierung und Widerstand aufleben zu lassen, jedoch wird mit ihnen wenig konzeptuell Neues zur Diskussion um Inter* beigetragen. Auch in der Verschränkung der beiden Konzepte findet sich keine neue These, um jene Intersex Narratives besser verstehen zu können, die im Zentrum der Studien stehen. Dennoch bleibt die theoretische Rahmung solide. Zu wünschen bleibt allerdings eine Perspektivierung in Bezug auf Verkörperungs- bzw. embodiment-Theorien oder auch den new material feminism. Die Autorin schneidet zwar das Konzept des embodiment – der Verkörperung oder Verleiblichung von Erfahrungen und Gefühlen – an, führt es jedoch nicht weiter aus und versäumt darüber hinaus, es für eine Lektüre fruchtbar zu machen.

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Die Aufarbeitung der first-person-narratives sowie deren Einbettung in die, seit den frühen 1990er Jahren entstehende, Intersex Bewegung ist der wichtigste Beitrag, den Amatos Buch leistet, weil sie die Schwierigkeiten und Besonderheiten dieser politischen Bewegung durch eine sensible und eingängige Analyse aufzeigt. Einzelne Stimmen werden hörbar und in den Kontext von shame and secrecy durch Medikalisierung und Pathologisierung gesetzt. Das Ineinandergreifen von psychologischem und sozialem Stigma, das über die operationellen Eingriffe in Inter* Körper entsteht, wird hier höchst einfühlsam erzählt und aus den first-person narratives extrahiert. Die multiplen Aspekte von körperlicher Integrität, Sexualität, Gender Normen und Heteronormativität werden hier sorgsam herauspräpariert. Ebenso wird die Notwendigkeit einer kollektiven Stimme deutlich, die sich in der Existenz einer Gemeinschaft und in den Zusammengehörigkeitsgefühlen von Inter* Bewegungen als nicht nur politische Vereinigungen, sondern auch als Selbsthilfegruppen, herausbildet. Es muss gesprochen und gehört werden, es müssen viele Stimmen sein, damit ein schambehaftetes Thema wie Inter* – da mit Genitalien und Geschlechtlichkeit assoziiert – in der Öffentlichkeit als politisch akzeptables Thema wahrgenommen werden kann.

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Im folgenden Abschnitt der Studie werden nun Autobiographien von Inter*personen analysiert. Das Herzstück der Studie behandelt eine der im Titel angekündigten Verschiebungen. Mit der eingängigen Analyse von Intersex. (For Lack of a Better Word) (2008) von Thea Hillman, den einzigen Inter* Memoiren, die bisher erschienen sind, hebt Amato einige interessante und bisher im wissenschaftlichen Kontext unterbelichtete Aspekte hervor. Beginnend mit Hillmans Reaktion auf Jeffrey Eugenides’ Roman Middlesex (2003) als ignorant gegenüber ›wahren‹ Geschichten von Inter*personen, hin zu einer Kritik Hillmans an allen hegemonialen Erzählungen über Inter*, kann Amato nachzeichnen, dass das Verletzende in der Wahrnehmung von Inter* sich nicht nur in medizinischen Operationen, sondern auch in der literarischen/künstlerischen Repräsentationen manifestiert. Amato schildert Hillmans Erfahrungen mit Ärzten, sowie ihren ersten Kontakt mit der Inter*Bewegung. Auch die Zweifel, Ängste und Bedrohungen von und durch persönliche Beziehungen werden nach und nach freigelegt. Das Konzept der Körperlichkeit (corporeality) spielt hier eine größere Rolle. Die Untersuchung hätte jedoch auch hier von einer Verschaltung mit dem Verkörperungs-Begriff (embodiment) profitiert, da dieser im Gegensatz zur bloßen Körperlichkeit auch die Aspekte der Erfahrung und der Gefühle sowie der Einschreibung dieser in den Körper und das Werden des Körpers erfassen kann. Auch der zentrale Aspekt der Heteronormativität in Inter*erfahrungen und -leben wird nur durch eine Bezugnahme auf die queer community behandelt. Damit werden jedoch wichtige Unterschiede zwischen queer und inter* verschwiegen und darüber hinaus politische Interessen in eins gesetzt, die sich oft nicht decken. Fragen der Zugehörigkeit (belonging) allerdings werden hier virulent und von Amato in Bezug zu Identitätskonzepten gesetzt, was einen wichtigen Teil der Diskussion im Inter*kontext speisen kann.

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Das darauf folgende Kapitel beschäftigt sich – leider etwas wenig nachvollziehbar strukturiert – mit Eugenides’ Middlesex und Kathleen Winters Annabel (2010). Hier wird wiederum Butlers Intelligibilitätskonzept wichtig, dem von Amato, seit seiner Einführung im Theorieteil, wenig Beachtung geschenkt wurde. Es geht um hegemoniale Narrative, die dem Dogma der Normalisierung unterworfen sind, sowie um das Potential, ihm zu entkommen. Auch Foucaults »medizinischer Blick« wird hier wieder aufgegriffen und eingesetzt, um Middlesex als assimilatorische Repräsentation von gender-Normen und damit auch von Inter* zu verstehen. Middlesex verbleibt, wie Amato überzeigend argumentiert, im Modus der Pathologisierung von Inter* und reproduziert so die bio-medizinische Definitionsmacht über Inter*. Annabel, das zweite Analyseobjekt behandelt, anders als Middlesex, die medizinischen Umgangsweisen mit Inter* als einen wichtigen zu kritisierenden Aspekt. Ebenso spielt die Eltern-Kind-Beziehung eine herausragende Rolle im Roman und dementsprechend auch in der Analyse. Butlers Intelligibilitätskonzept wird erneut, diesmal unter literaturwissenschaftlicheren Betrachtungsweisen, herangezogen und findet in den Interaktionen der Figuren des Romans Öffnungen hin zu einer neuen Geschlechterordnung. Annabel wird von Amato, in Hinblick auf Non-Konformität mit der traditionellen Geschlechterordnung, ein größeres subversives Potential zugesprochen als Middlesex.

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Das letzte Kapitel widmet sich US-amerikanischen Krankenhaus-Fernsehserien, die auch hierzulande bekannt sind – Chicago Hope, Emergency Room, Grey’s Anatomy und House M.D. – und ihren Repräsentationen von Inter*. 2 Dass alle Serien, in denen Inter* nach behandelt wird, im medizinischen Kontext angesiedelt sind, zeige, so Amato, wie wenig Inter* bisher im mainstream außerhalb von Medizin wahrgenommen werde. Was in diesem Kapitel der Studie eine neue Dimension hätte zufügen können, wäre die Analyse visueller Repräsentationen gewesen. Amato arbeitet die Misogynie, die Gewalttätigkeit der Mis/representation sowie die Normalisierungsstrategien der Serien überzeugend heraus. Jedoch schenkt sie der spezifischen Medialität von Fernsehserien, sowie zum Beispiel der Serialitätstheorie zu wenig Beachtung, und so bleibt ihre Untersuchung auf der Ebene des Narrativs stehen. Sicherlich hätte man der Studie hier – durch Erweiterung der literaturwissenschaftlichen Perspektive in Richtung einer medienspezifischen Analyse –wichtige Aspekte hinzufügen können, und somit auch die Debatte um Inter* an sich etwas breiter aufstellen und transdisziplinär anschlussfähiger gestalten können.

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Fazit

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Amatos Fazit proklamiert die Notwendigkeit der Pluralität von Inter*Narrationen. Die vorgelegte Analyse kann selbstverständlich nur einen Teil dieser Vielheit untersuchen, hat dies jedoch überzeugend und in klassisch literaturwissenschaftlicher Manier getan. Eine wichtige Archiv-Studie, deren Aufarbeitungscharakter den Ansprüchen des Gegenstandes an eine sensible Analyse mit kleinen Einschränkungen gerecht wird. Auch wenn sich Amatos Buch ausschließlich mit der US-amerikanischen Kultur auseinandersetzt, hat sie, was die Debatte von Inter* angeht, hoffentlich dennoch breitere Strahlkraft auch was die Diskussion des Themas in Deutschland betrifft. Auch durch die vor Kurzem erschienene Stellungnahme des Deutschen Ethikrates (2012), hat das Thema Inter* eine größere Aufmerksamkeit erreicht.

 
 

Anmerkungen

So etwa die Beiträge von Georgiann Davis et al. in Gender & Society, 2015; Alice Dreger im Journal of Pediatric Endocrionology and Metabolism; Emily Grabham in Body & Society, 2012; Iain Morland in GLQ, 2009 und Katrina Roen in Sexual Health, 2004.   zurück
Chicago Hope (CBS, 1994 – 2000), Emergency Room (NBC, 1994 – 2009), Grey’s Anatomy (ABC, seit 2005), House M.D. (Fox, 2004 – 2012).   zurück