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»Es ist eine fortwährende Wechselbeziehung zwischen allen im Bewußtsein schlummernden Gedanken« 1

Zur Edition von Hofmannsthals »Aufzeichnungen« 2

  • Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke,. Kritische Ausgabe. Aufzeichnungen. (Text / Erläuterungen.) Hg. von Rudolf Hirsch und Ellen Ritter in Zusammenarbeit mit Konrad Heumann und Peter Michael Braunwarth. Band XXXVIII: Aufzeichnungen, Text, Band XXXIX: Aufzeichnungen, Erläuterungen. (Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe XXXVIII, XXXIX) Frankfurt am Main: S. Fischer 2013. 2200 S. Hardcover. EUR (D) 499,00.
    ISBN: 978-3-10-731539-0.
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Werk, Werkchen

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»Werk gebiert […] Werkchen«. So heißt es wiederholt in den nachgelassenen Notizen Jean Pauls zum Leben Fibels, seiner Selbstreflexion der Schriftstellerei in Romanform. 3 Das Werk löst sich im Bearbeitungsprozess auf in Vorreden, Nachwörter, Digressionen, Parallel- und Gegengeschichten. Und umgekehrt entstehen aus Sammlungen von Einfällen, Bausteinen, Erfindungen, aus Werkchen Werke, die sich dann in einem unaufhörlichen Schreibvorgang wieder in Werkchen zersetzen, um neue literarische Gebilde zu generieren. Entscheidend ist für die literarische Produktion nicht mehr allein das fertige, zum Buch stillgestellte Werk, sondern ebenso wichtig wird die Werkstatt, die den gesamten Schreibprozess, von der ersten flüchtigen Notiz bis zum nachträglichen Gedankensplitter, dokumentiert.

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Moderne Editionen haben derlei poetischen und poetologischen Prinzipien der beginnenden literarischen Moderne Rechnung zu tragen. Sie präsentieren nicht mehr nur Fertiges, etwa nach dem Prinzip der Werkausgabe letzter Hand, sondern gleichberechtigt auch Unfertiges, Entwürfe, Vorarbeiten, Paralipomena, Materialien aus dem Arbeitsprozess, wie Lektürelisten, Exzerpte, Zeugnisse kulturgeschichtlicher Kontexte und dergleichen.

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Hofmannsthals Arbeitsweise

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Die Bände 38 bis 40 der Ausgabe der ›Sämtlichen Werke‹ von Hugo von Hofmannsthal sind, neben der Dokumentation der Vorarbeiten in den Bänden, welche den Werken gewidmet sind, solchen editorischen Prinzipien nachdrücklich verpflichtet. Sie bringen nicht Werke, sondern Werkchen bzw. Materialien zu den Arbeitsvorgängen des Autors. In Band 38 und 39 sind das die, opulent kommentierten, »Aufzeichnungen«; in Band 40 Hofmannsthals nachgelassene Bibliothek mitsamt den Anstreichungen und Anmerkungen in und zu den überlieferten Büchern. 4 Dies sind also keine Nachträge zur Werkausgabe, sondern konstitutive, ja besonders wichtige, weil Hofmannsthals Arbeitsweise erhellende Beiträge zur Gesamtausgabe der – so müsste man eigentlich sagen – Gesammelten Schriften.

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2138 Aufzeichnungen

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Hofmannsthals nachgelassenes Arbeitsarchiv umfasst etwa 20.000 handschriftliche Seiten. 5 Davon ist das meiste eingegangen in die Darstellung der Werkgeschichte im Rahmen der Kritischen Ausgabe. Vieles aber bleibt, das sich nicht textgenetisch eindeutig zuordnen lässt. Es handelt sich um vierzehn Notizbücher und zwei Blöcke, in die sich Hofmannsthal von seinen frühen bis zu seinen späteren Jahren Eintragungen machte. Die ersten datieren aus dem Jahr 1887, sind also vom Dreizehnjährigen, die spätesten aus dem Todesjahr 1929. Sie werden heute in der Houghton Library der Harvard University aufbewahrt. Hinzu kommen zahlreiche, ungefähr gleich umfangreiche Notate auf losen Zetteln. Sie stammen teils aus weiteren Notizblöcken, teils aus empfangenen Briefen, Telegrammen, Einladungen, Prospekten oder etwa Vorsatzblättern von Büchern. 6 Die Frankfurter Editoren haben versucht, sie chronologisch zu ordnen. Eine Reihe von 2138 sogenannten Aufzeichnungen ist daraus hervorgegangen. Davon waren in der Taschenbuchausgabe von Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch 7 , die bereits 1980 erschienen war, nur ca. 30% enthalten. 8

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Die Einträge sind in ihrer Machart keineswegs homogen. Tagebuchartige Notizen finden sich darunter, autobiographische Bemerkungen, Lektüre- und Adresslisten, Merkzettel, zahlreiche und teils umfangreiche Exzerpte, aber auch Skizzen zu Motiven für künftige Werke, Gedicht- und Szenenentwürfe, Aphorismen, Anekdoten und Beobachtungen sowie Überlegungen zur Literatur und Literaturgeschichte. 9 In zwei der gebundenen Hefte zeugen Inhaltsverzeichnisse von dem Versuch, die schier unüberschaubare Menge von Einträgen zu ordnen und wiederauffindbar zu machen. Querverweise und Nachträge machen deutlich, dass Hofmannsthal sich die Aufzeichnungen immer aufs Neue präsent halten wollte.

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Heuristik des Nebeneinander

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Dennoch kann sich der Leser des Eindrucks des Disparaten und Chaotischen kaum erwehren. Unterschreitet die Masse dieser Notate also nicht doch die Schwelle des Edierbaren und Editionswürdigen? Sind sie doch zu sehr bloß kontingente Werkchen, zu weit entfernt von den Werken, die den Schriftsteller und das von ihm Überlieferungswürdige ausmachen? Um diese Fragen zu beantworten, muss man einen Blick auf die Eigentümlichkeit von Hofmannsthals Arbeitsweise werfen. Zeit seines Schaffens experimentiert er bekanntlich mit den unterschiedlichsten literarischen Formen, Denkweisen, Medien und Milieus – von der antiken Mythologie und Tragödie bis zum spanischen Barock, vom Rokoko des theresianischen Zeitalters bis zur zeitgenössischen Cafehausszenerie, von Goethes Novellistik bis zu Jean Pauls und Stifters Romanen, von der Literatur bis zur bildenden Kunst und Musik, von der Erforschung depersonalisierter Ichzustände bis zur Sinnesphysiologie des inneren Sehens; dabei nicht auf das Gleiche und Gemeinsame bedacht, sondern stets auf das Andere, das Unerwartete, das das literarisch Sagbare über sich selbst hinaustreiben könnte. Dies bewirkt ein unaufhörliches Voranschreiten, ein nie zu Ende Kommen, ein konstitutiv Unfertiges seiner Anverwandlungen. Im Disparaten liegt demnach nicht die Gefahr, sondern die Chance, im Fragmentarischen nicht das Scheitern, sondern die Utopie der höheren Form, in der Spannung des Verschiedenen die Aussicht auf Einheit. An Projekten wie dem Andreas-Roman, von dem sich viele Spuren in diesen Aufzeichnungen finden, kann man ersehen, wie das ständige Überschreiben und nicht fertig Werden zum eigentlichen Gebilde gerät.

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Dem entspricht eine Heuristik, der das Interpolieren im Heterogenen entgegenkommt. Das Nebeneinander mag kontingent sein, bloßer Speicher von Materialien, oder es mag Kontiguitäten stiften. »Ideen wachsen so nah beieinander«, heißt es in einer der Aufzeichnungen aus dem Jahr 1891. 10 Das unscheinbar Alltägliche, aufs Papier gebracht, kann da zu stehen kommen neben der bedeutungsschweren Lesefrucht aus fernen Zeiten und Weltregionen, und es mag mit ihm zusammenschießen zu Gedankenblitzen – oder daneben liegenbleiben als Gedankenbrocken, welche nicht zueinandergefunden haben. Ein erster Einfall zu einem Stück oder einem Gedicht mag da, eingetaucht in die bizarr fremde Umgebung, aufleuchten oder auch erlöschen, erstickt in der Fülle des Disparaten. Im scheinbaren Chaos jedenfalls kann für solch eine Poetik eine Hoffnung auf eine höhere Ordnung sein. Das, was nicht oder noch nicht Werk ist, gehört demnach jedenfalls zum Werk, fasst man es als ›work in progress‹, als unablässig fortschreitenden Arbeitsprozess, auf, konstitutiv dazu, ja macht es vielleicht zu dessen eigentlichem Humus.

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Zusammenspiel im Disparaten

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Folgt man der chronologischen Ordnung, die die Herausgeber den Materialien implementiert haben, so fällt auf, wie früh sich bereits bestimmte, durchgehende Charakteristika der Aufzeichnungen geltend machen. Da ist beispielsweise die Konjunktion von Orten, deren Alltäglichem, Atmosphärischem, und geistigen Höhenflügen, Entrückungen in die Ferne der Zeiten und Räume. 11 Unter der Rubrik »Bad Fusch« heißt es von den Sommerferien des fünfzehnjährigen Schülers: »Schön u. still. Abds. Gewitter. Spaziergang bis zur Lohningeralpe. […] Ovid Ars am[atoria] 1–570«. 12 Dann: »Schön durch den Wald Marienh[ütte] – Dietzer H[ütte] gegen d. Embach Ovidius, Ars amat. II 570-Schluss«. Was sich hier noch wie der beflissene Bericht eines strebsamen Gymnasiasten anhören mag, der selbst in den Ferien Latein lernt, wiederholt sich später – der Struktur nach, in der Verbindung der Höhenluft des Ortes mit intellektuellen Rauschzuständen – immer wieder. Einem Brief an Rudolf Pannwitz von 1919 zufolge sei es das »magisch Belebende«, das solche 13 Situationen, das Gebirgsdorf, das Ineinander der Wanderungen, der Lektüren, der literarischen Einfälle, auszeichne. Würde nicht das Zusammenspiel des scheinbar Disparaten von Anfang an zum Prinzip dieser Aufzeichnungen gemacht, würde man solche tagebuchartigen Aufzählungen des – am Werk gemessen – scheinbar belanglosen Nebeneinander wohl überblättern. Mit der Optik des kreativen Chaos ausgestattet, können sie aber hineinführen ins Werk, genauer in den ihm vorausgehenden Inspirationsvorgang, in die Werkstatt sozusagen. Wenige Jahre später etwa entspringt solch magisch Belebendem in Bad Fusch am Großglockner das unvollendete Renaissance-Drama »Ascanio und Gioconda«. 14

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Erstaunlich früh auch finden sich zeit- und selbstdiagnostische Bemerkungen. Kurz nach dem Ende jener Sommerferien von 1889 steht der Eintrag: »Das gefährliche Spiel mit der Gefahr geistiger Überreizung (Ankauf der Bücher von Lombroso, Krafft-Ebing, Interesse für Psychiatrie)«. 15 Lange vor der ersten Nietzsche-Lektüre, lange vor der ersten Begegnung mit Herrmann Bahr (beides 1891) 16 , klingen die Themen der décadence und der décadence-Kritik an, aus der sich dann die Ortsbestimmungen der Wiener Moderne ableiten. 17 Die Selbstverortung in den intellektuellen Strömungen der Zeit wird zu einem weiteren Leitmotiv dieser Notate.

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Das Interesse an den Ausnahmezuständen der Seele ist früh auch nicht nur theoretisch, sondern ebenso praktisch-introspektiv begründet. Schon der fünfzehnjährige Schüler reflektiert auf den »halbschlaf«. 18 Zwei Jahre später, 1891, heißt es, alle späteren, geradezu obsessiven Expektorationen zu den Kreativitätschancen und Gefahren dieser Absenzzustände 19 im Kern vorwegnehmend: »fieberhafter Halbschlaf am Morgen; die Gedanken jagen einander und jedes Bild drängt sich mit schmerzender Deutlichkeit ins Bewußtsein«. 20 Auch eine solche Aufmerksamkeit für das Unscheinbare, geradezu Hilflose des Ich wäre vielleicht ohne diesen Imperativ des Alleszugleich und Alles gleich-gültig nicht möglich geworden.

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Das Werden von Literatur

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An nicht wenigen Stellen ahnt man, wie die Assoziationen funktioniert haben mögen und sich ins bildlich Kreative entwickelten. Man glaubt dann, dem Entstehen von Literatur ganz nahe zu sein. Die Beschränkung auf wenige Beispiele ist geboten; und auch bei ihnen verhindert die Flüchtigkeit der hingeworfenen Notizen die Sicherheit und Entschiedenheit der Deutung. Aber gerade dieses Flüchtige und Unentschiedene ist für Hofmannsthal ja aufgrund des semantischen Schwebezustands gerade der Quell der überraschenden, neuen Verbindungen.

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Unter der Rubrik 17. Juni 1891 liest man: »Hunger als Einleitung der Surrogatstimmungen«. 21 Der wunderbar gelehrte Kommentar 22 macht darauf aufmerksam, dass Hofmannsthal damals gerade Nietzsches »Morgenröthe« gelesen habe. Darin findet sich ein Passus, der darüber reflektiert, wie unsere Triebe die Einbildung in Gang setzen: Der Hunger ruft geträumte Speisen als Surrogatstimmungen hervor, auch wenn dies letztlich nicht sättigt. Wir träumen kompensatorisch. Diese Physiologie der Imagination, die ja eigentlich reduktionistisch, imaginationskritisch gemeint ist, hält Hofmannsthal nicht davon ab, nun wenig später seinerseits in Bildern zu träumen. Der Sachgehalt ist ja durch die Physiologie der Einbildung hintangestellt, die Phantasie entfesselt. Eine andere Lektüre, wohl die von Athenaiosʼ »Gelehrtenmahl«, 23 scheint dann eine Sturzflut von Bildern auszulösen: Sie malen Berichte über den Rosenkult, der einst bei Cleopatra und Antonius geherrscht habe, aus und überblenden ihn mit Gegenwärtigen: »Rosen: lichte Rosenblätter auf Cognac schwimmend; eine dunkelrote Rose, halboffen, fast schwarz, schwimmt aus dem Bade der Cleopatra, über rieselnde Marmorstufen, zwischen goldnen Gittern durch ans Meer, wo am Strand, im Sturm, die Krieger des Antonius lagern und ihn erwarten.« 24 Direkt danach heißt es dann »Vater und Dirne/ Pflanzenleben (unter Heraldiker)/ Rose der Cleopatra«. Die Herausgeber können und wollen diese enigmatische Notiz nicht eindeutig zuordnen und formulieren vorsichtig: »Möglicherweise Titel von geplanten Prosagedichten«. 25 Immerhin deutet sich zumindest an, dass hier Potenziale zu Gedichten schlummern. Die folgende Notiz verweist dann direkt auf geplante Gedichte: »Wiener Bilder (in Sonetten)«. 26 Die Lust auf Poesie hat sich, so scheint es, Bahn gebrochen. Aber, wie immer bei Hofmannsthal, ist sie prekär, gefährdet, von Stimmungen, Assoziationen abhängig. Dennoch: Fertige Werke, gültige Formen, vermitteln nie, wie hier, diesen Eindruck des mühsamen Werdens von Literatur.

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An anderer Stelle, immer noch 1891, steht dann ein ausformuliertes Gedicht. 27 Es wurde möglicherweise wieder durch eine Nietzsche-Lektüre angeregt; diesmal wäre es »Die fröhliche Wissenschaft«. 28 Auch in dem ein Jahr später erscheinenden Drama »Tod des Tizian« findet sich eine bis in den Wortlaut komplementäre Stelle. 29 Die Ästhetik des Kontagiösen, des Ineinanderübergehens, trägt greifbare Früchte:

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»Dem stillen (1/ungestrichen) Weinen (2) Trauern | bin ich hold, das uns beim Einsamgehen aus tiefster Seele überkommt .. und keiner kanns verstehen. Ists ein Gedenken allen Leids? Vor künft’gen Schmerz ein Bangen? Ersticktes Ahnen andren Glücks und unbestimmt Verlangen? .. Wer weiß wie’s kommt, wer weiß wie’s geht? Und keiner kanns verstehen. Vielleicht missnennʼ ichs, nennʼ ichs Schmerz .. : Es kommt beim Einsamgehen.« 30
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Mit diesem Beispiel aus den Notizen des erst Siebzehnjährigen mag es hier sein Bewenden haben. Die Forschung wird angesichts dieses reichhaltigen Materials in den nächsten Jahren viel zu tun haben und viel ausloten können über Hofmannsthals poetische Verfahrensweisen.

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Spätere Notizen

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In den 90er Jahren finden sich die meisten Aufzeichnungen. Mit dem Parisaufenthalt 1900 und der Heirat mit Gerty Schlesinger sowie der Gründung eines eigenen Hausstandes in Rodaun ändert sich das. Vorübergehend werden die Notizen spärlicher, um dann in den folgenden Jahren wieder zuzunehmen. Auffällt, dass nun neben die tagebuchartigen Aufzeichnungen, die Werkpläne, die Lesefrüchte, die Entwürfe zu politischen Aufsätzen, letztere besonders in der Weltkriegszeit, 31 vermehrt auch die aphoristische Formulierung tritt: Die Lust am Sentenzenhaften, Zugespitzten ist unverkennbar. Etwa, wenn es 1917 unter »Fortsetzung der aphoristischen Aufzeichnungen. Aussee« heißt: 32 »Leute wie Rilke rechte Zauberlehrlinge, Dilettanten der Zauberei«, oder »Goethes Werke verbinden die Geselligkeit mit der Einsamkeit«, oder später, 1918: »Goethe kann als Grundlage der Bildung eine ganze Cultur ersetzen«; oder, noch pointierter: »Wir haben keine neuere Litteratur. Wir haben Goethe und Ansätze«. 33 Viele dieser Merksätze, besonders aus der Zeit zwischen 1916 und 1920, sind in das Buch der Freunde eingegangen. 34 Die Werkchen werden zum Werk. Es ist 1922 erschienen und dann von Rudolf Alexander Schröder 1929 postum in einer zweiten, erweiterten Auflage herausgegeben worden. Die Sammlung enthält neben literarischen Sentenzen auch allgemeine, an die französischen Moralisten, an Goethes Maximen und Reflexionen oder an Novalis angelehnte Bemerkungen; etwa, um bei den Aufzeichnungen von 1917 zu bleiben: »Jede Gewohnheit wird ihre Anhänger haben, bei denen sie für gerecht gilt – während sie vor der Idee niemals bestehen wird«. 35 Oder: »Aufmerksamkeit und Liebe bedingen einander wechselseitig«. Hofmannsthal verwendet für diese Form des Urteilens gerne auch den Ausdruck »Aperçu«. Bereits 1911 heißt es, wiederum wohl im Hinblick auf den in den Aufzeichnungen allgegenwärtigen Goethe: »Eines der glücklichsten termini ist aperçu. Es bezeichnet die Wahrnehmung, den Einfall und bezeichnet das Wahrgenommene, den neuen Aspect der Dinge welcher jedem Einfall zu Grunde liegt. Endlich bezeichnet es, im abgeleiteten Sinn, auch noch die Kunstform«; 36 sie decke sich nicht ganz mit ,Aphorismus‘, fügt Hofmannsthal hier noch hinzu, und nicht ganz mit Bemerkung. ,Aphorismus‘, sei pedantischer, vielleicht ist gemeint: weniger gewagt, ,Bemerkung‘ oder ,Anmerkung‘ im Vergleich dazu schal.

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Chronologische Ordnung

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Hofmannsthal selbst dachte in jungen Jahren an eine Publikation seiner Notizen. Und in diesem Zusammenhang stellt sich für ihn die Frage, wie man ihnen möglicherweise eine plausible Ordnung geben könne. Bereits 1895, gegen Ende seiner Militärzeit und im Hinblick auf ein bevorstehendes Pferderennen, schreibt er an Arthur Schnitzler: 37 »Sonntag ist das Rennen. Wenn ich an die Bretterwand hinflieg und mir das Genick brech (unwahrscheinlich, aber möglich) sollt ihr meine vielen Notizen auf Zetteln herausgeben, in Gedankengruppen geordnet, mit einem sehr einfachen, die Associationen aufdeckenden Commentar. Denn meine Gedanken gehören alle zusammen, weil ich von der Einheit der Welt sehr stark durchdrungen bin.« Gelegentlich also scheinen Hofmannsthal selbst doch auch Bedenken gekommen zu sein angesichts der Unordnung seiner Notate.

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Diese teilen auch die Herausgeber. Sie halten zwar eine Ordnung in Gedankengruppen, also in thematischen Rubriken, angesichts der Vielgestaltigkeit der Aufzeichnungen, begreiflicherweise für undurchführbar. Aber sie entscheiden sich wie gesagt für eine chronologische Anordnung. 38 Die tatsächliche Überlieferung wird dann auf 140 Seiten zu Beginn des Kommentarbandes minutiös, aber eben doch getrennt von der ursprünglichen Gestalt der Überlieferungsträger, separat dargeboten.

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Aus der »Übersicht über den Aufbau der gebundenen Notizbücher« der Houghton Library und dem Abschnitt »Überlieferung der einzelnen Aufzeichnungen« zu Beginn des Kommentarbandes 39 sowie aus den im Netz zugänglichen Digitalisaten der Bibliothek in Harvard selbst (http://oasis.lib.harvard.edu/oasis/deliver/deepLink?_collection=oasis&uniqueId=hou00286) kann man sich ein Bild davon machen, wie es in der Werkstatt des Autors tatsächlich zugegangen ist. Der Mitherausgeber Konrad Heumann schreibt dazu in seinem Begleit-Essay zur Ausgabe im Online-Magazin des S. Fischer-Verlages, 40 dass sowohl auf den losen Zetteln als auch in den gebundenen Notizbüchern ein kunterbuntes Durcheinander geherrscht habe. »Hofmannsthal führte oft mehrere Hefte gleichzeitig, und er schrieb in sie hinein, wo immer der Zufall es wollte. Das konnte in der Mitte des Heftes sein, vorne oder hinten, auf leeren Seiten oder auf bereits beschriebenen.«

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Die Chronologie der Druckausgabe bietet demgegenüber zwei große Vorteile: Sie macht durch die notwendigen genauen Recherchen zur Entstehungszeit einen großartigen Kommentar zu den einzelnen Notaten nötig und möglich. Dieser wird ergänzt durch ein überaus nützliches und kundiges kommentiertes Personen- und Werkregister. 41 Die Forderung Hofmannsthals nach einem die Assoziationen aufdeckenden Kommentar wird so in aller denkbaren Präzision und Ausführlichkeit erfüllt. Zum zweiten macht sie das Material übersichtlicher, leichter auf die bekannten Daten der Lebensgeschichte, der Werkgeschichte und allgemein der Kulturgeschichte beziehbar. Sie ist damit eine unbestreitbare und unerlässliche Lesehilfe.

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Aber – und das ist der Nachteil – sie zähmt damit in gewisser Weise auch das wilde Denken in Hofmannsthals Schreibwerkstatt. Man kann sich als Leser nie ganz sicher sein, ob die durch die Druckedition nahegelegten Assoziationen zwischen den einzelnen Notaten (vgl. Abschnitt 6) tatsächlich auch den Gegebenheiten und der Anordnung des Überlieferungsträgers entsprechen. Vielleicht hätten Faksimiles der Originalseiten dem Leser hier weiterhelfen können. Da dies aber bei diesem Umfang der Materialien in einer Druckausgabe nicht vollständig zu leisten ist, hätte man auch diese Lösung auf einige wenige Beispiele und damit nur punktuelle Einsichten beschränken müssen.

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Fazit

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Aus diesen Überlegungen ergibt sich heute, im Zeitalter der digitalen oder hybriden Editionen, eine naheliegende Forderung: Die Buchedition wäre nachträglich durch eine digitale Komponente, also durch Hybridisierung, zu ergänzen. Wünschenswert wäre eine Gesamtdigitalisierung sämtlicher Notate und eine Verlinkung mit den einzelnen Seiten oder besser noch Nummern der Buchausgabe. Erst dann wäre eine sinnvolle Gesamtedition von Hofmannsthals gigantischem Konvolut der Aufzeichnungen und damit eine der größten editorischen Leistungen in der Germanistik der letzten Jahre abgeschlossen.

 
 

Anmerkungen

Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, Text. Sämtliche Werke, Bd. XXXVIII, Frankfurt a. M. 2013, S. 95.   zurück
Vgl. auch den Nachtrag zum ersten Kapitel des Apparatbands: Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke XXXIX. Aufzeichnungen. Corrigendum. Frankfurt a. M. 2014.   zurück
Vgl. die Edition der Nachlaßhefte zum Fibel von Alexander Kluger im Rahmen der Historisch-kritischen Ausgabe »Werke«, Bd. VII.2, Berlin, Boston 2017.   zurück
Dazu Heinz Hiebler: Im Steinbruch der Dichtung. Hugo von Hofmannsthals Bibliothek. Rezension von Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bibliothek. Hrsg. von Ellen Ritter in Zusammenarbeit mit Dalia Bukauskaite und Konrad Heumann. Frankfurt a. M. 2011. In: IASLonline, 28. 09. 2014.   zurück
So die Auskunft des Leiters der Handschriftenabteilung des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt, Konrad Heumann; vgl. »Meine Gedanken gehören alle zusammen« – Hofmannsthals »Aufzeichnungen« in kritischer Ausgabe. In: Hundertvierzehn. Das literarische Online-Magazin des S. Fischer Verlags.www.hundertvierzehn.de/artikel/%C2%BBmeine-gedanken-geh%C3%B6ren-alle-zusammen%C2%AB_168.html.    zurück
Vgl. Heumann, ebd.   zurück
Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze III. Frankfurt a. M. 1980, S. 311–595. Die Edition stammt von Ingeborg Beyer-Ahlert.   zurück
SW XXXIX: Hinweise für die Benutzung, S. VI.   zurück
Vgl. ebd., S. V f.   zurück
10 
SW XXXVIII, S. 133.   zurück
11 
Dazu: Hofmannsthal. Orte. 20 biographische Erkundungen. Hrsg. von Wilhelm Hemecker und Konrad Heumann. Wien 2014. Speziell zu Bad Fusch den Beitrag von Joachim Seng. Ebd., S. 49–68.   zurück
12 
SW. XXXVIII, S. 19.   zurück
13 
Hofmannsthal. Orte. S. 49.   zurück
14 
Aufzeichnungen, SW XXXVIII, S. 172.   zurück
15 
S. 28.   zurück
16 
S. 98, S. 106.   zurück
17 
Vgl. den Eintrag zum 2. 12. 1889 über das »krankhaft-krampfhaft überreizte nervöse Element in der Prod[uktion] unsrer Tage«, S. 39.   zurück
18 
S. 31.   zurück
19 
Vgl. Helmut Pfotenhauer, Sabine Schneider: Nicht völlig Wachen und nicht ganz ein Traum. Die Halbschlafbilder in der Literatur, Würzburg 2006. Zu Hofmannsthal: S. 7 ff., S. 87 ff., S105 ff.   zurück
20 
SW XXXVIII, S. 119 f.   zurück
21 
SW XXXVIII, S. 117.   zurück
22 
SW XXXIX, S. 311 ff.   zurück
23 
SW XXXIX, S. 312.   zurück
24 
SW XXXVIII, S. 117.   zurück
25 
SW XXXIX, S. 312.   zurück
26 
Vgl. SW II, S. 40.   zurück
27 
SW XXXVIII, S. 139.    zurück
28 
Vgl. den Kommentar, SW XXXIX, S. 351. Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 326.   zurück
29 
SW III, S. 46 f.   zurück
30 
SW XXXVIII, S. 139, vgl. SW II, S. 59.   zurück
31 
Vgl. etwa SW XXXIX, S. 634 f. (1915).   zurück
32 
SW XXXIX, S. 726 f.   zurück
33 
SW XXXIX, S. 755.   zurück
34 
Vgl. SW XXXVII, S. 9 ff. und S. 168 ff.   zurück
35 
XXXVII, S. 727.   zurück
36 
SW XXXVIII, S. 594.   zurück
37 
Vgl. den Hinweis des Herausgebers Konrad Heumann (»Meine Gedanken gehören alle zusammen«), S. 2.   zurück
38 
Vgl. SW XXXIX, S. V f.: Hinweise für die Benutzung.   zurück
39 
SW XXXIX, S. 1 ff., S. 29 ff.   zurück
40 
Vgl. »Meine Gedanken gehören alle zusammen«, ebd.   zurück
41 
SW XXXIX, S. 145 ff., S. 1571 ff.   zurück