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Entautomatisierung im 21. Jahrhundert?

  • Annette Brauerhoch / Norbert Otto Eke / Renate Wieser (Hg.): Entautomatisierung. Wilhelm Fink 2014. 337 S. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-7705-5627-4.

[1] 

I.

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Die theoretischen Grundlagen für das Konzept der ›Entautomatisierung‹ wurden vor nunmehr einem Jahrhundert von Viktor Šklovskij, einem Vertreter der sogenannten Formalen Schule Russlands, gelegt. In seinem Aufsatz Die Kunst als Verfahren (1916) geht er der Frage nach, was alle Formen der Kunst verbinde. Als »künstlerisch« bezeichnet er dabei »Dinge, […] die in besonderen Verfahren hergestellt wurden, deren Zweck darin bestand, daß diese Werke mit größtmöglicher Sicherheit als künstlerisch wahrgenommen wurden«. 1 Die entscheidende Leistung von Kunstwerken sei es, die »Gesetze von der Ökonomie der schöpferischen Kräfte«, welche eine Korrelation zwischen dem kreativen Kraftaufwand, der Aufmerksamkeit des Rezipienten und der Erkenntnis des Gegenstandes postulieren, zugunsten eines Gesetzes der »Verschwendung« auszuspielen. 2 Während das Gesetz der Ökonomie, das etwa für die »praktische« Sprache gelte, 3 zum Automatismus führe, denn es finde eine Komplexitätsreduktion statt, deren Folge eine stark eingeschränkte, selektive Wahrnehmung des Gegenstandes und letztlich sein Verschwinden im Bewusstsein sei, lasse die Kunst (bspw. in Form der dichterischen Sprache) dem Gegenstand Gerechtigkeit widerfahren. Es sei ihre Aufgabe, die Sichtbarkeit und das Empfinden für letzteren wiederherzustellen:

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das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, […] das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck […]; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig. 4
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Die Verfremdung ist somit das ›Gegenverfahren‹ zum Automatismus, sie setzt auf gezielte Bewusst- bzw. Wiederbewusstmachung, bei der inhaltliche Aspekte in den Hintergrund geraten, und sie nutzt dazu zahlreiche Mittel, die Šklovskij anhand von Beispielen aus narrativen und volkstümlichen Werken aufzeigt. Als solche werden genannt: (auf narrativer Ebene) die Beschreibung eines Gegenstands oder Vorfalls, als ob man ihn zum allerersten Mal sehe oder anhand von dafür ungewöhnlichen Begriffen; der Einsatz einer neuartigen Sprech- bzw. Erzählinstanz; die Aufgliederung eines komplexen Vorgangs in viele Einzelteile, sodass deren übergeordnete Syntagmatik abhanden kommt; die Enthebung eines Gegenstandes aus dem eigenen Kontext; (auf der semantischen Ebene) die semantische Substitution; die Verrätselung; (auf sprachlicher Ebene) eine ›dunkle‹ Stilistik, aber auch ein zu vulgäres Sprachregister und schließlich die Vermischung unterschiedlicher Rhythmen. 5

[5] 

Die Texte der russischen Formalisten zählen im deutschsprachigen Raum seit der Monographie von Victor Erlich, der zweisprachigen Herausgabe der wichtigsten Untersuchungen durch Jurij Striedter und Wolf-Dieter Stempel sowie der umfassenden Studie von Aage Hansen-Löve (um nur die Wesentlichen zu nennen) zu den festen Bestandteilen literaturwissenschaftlicher Theoriebildung. 6 Insbesondere der letztgenannte Forscher hat das Prinzip der ›Verfremdung‹ zum Kennzeichen der formalistischen Methodenimmanenz erhoben, der konsequenten Entwicklung einer Theoriebildung aus innerliterarischen und methodenspezifischen Kriterien heraus, die – zumindest in der Anfangsphase – von einer Bezugnahme auf sozio- und kulturpolitische Hintergründe absieht und die in ihrem Fortgang, durch die Aufmerksamkeit für die wahrnehmungsästhetische Dimension, einer Verortung des Kunstwerks im Rahmen der strukturalistischen Kommunikationstheorie und von rezeptionsästhetischen Ansätzen Vorschub geleistet hat.

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II.

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Der oben dargelegte Aufsatz von Šklovskij dient dem von Brauerhoch, Eke, Wieser und Zechner herausgegebenen Sammelband Entautomatisierung als theoretische Fundierung, als historisches Modell für eine neuerliche, kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem titelgebenden Verfahren. Indessen werden konzeptuell deutlich andere Akzente gesetzt.

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Der Band geht aus dem Forschungsumfeld des Paderborner Graduiertenkollegs »Automatismen – Kulturtechniken zur Reduzierung von Komplexität« hervor. Darin wurden Automatismen auf der Basis eines interdisziplinären Ansatzes als »Mechanismen der Strukturentstehung« analysiert, die sich zwar einer »bewussten Kontrolle« entziehen, denen jedoch eine ökonomische Funktion sowie – und dies ist ein wesentliches Forschungsergebnis des Graduiertenkollegs – ein produktives Moment in der Hervorbringung neuer Strukturen eignet. Zusätzlich dazu lassen sich Automatismen als Kulturtechniken beschreiben, die sich unbewusst vollziehen und die nicht zielgerichtet sind. 7

[9] 

Im Band Entautomatisierung sollen nun die Grenzen des zum Automatismus als komplementär verstandenen Konzepts, das zugleich einen neubegründenden Mechanismus desselben darstelle, auf dem Prüfstand stehen. Da die Entautomatisierung als »Begriff […] vor allem im Kontext von Kino, Theater und Kunst geläufig« sei, werden diese in der Einleitung (S. 9-16) als Felder für die kultur- und medienwissenschaftliche Analyse von Filmen, künstlerischen Installationen, literaturkritischen Texten, aber auch von Theaterstücken und politischem Aktivismus genannt. Jede weitere (bibliographische oder methodische) Angabe zu den Implikationen des Begriffes ›Entautomatisierung‹ in den genannten Teilbereichen bleibt indessen aus.

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Jenseits der tradierten Bestimmung des Verfahrens durch Šklovskij (und später auch durch Bertolt Brecht) zielen die Studien darauf ab, das transgressive Potential des Entautomatisierungsverfahrens zu beschreiben. Damit sind Fragen nach der Bildung von Begrifflichkeiten angesichts der Unterbrechung und/oder Überschreitung von Strukturen auf Produktions- sowie Rezeptionsebene in unterschiedlichen Fächern verbunden, etwa der politischen Philosophie oder der Psychologie, aber auch Fragen nach der Möglichkeit des Eingriffs, und dem damit eventuell einhergehenden Bewusstseinsgrad, in Phänomene an der Grenze von Kunst, Politik und Lebenswelt.

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Zu diesem Zwecke versammelt der Band insgesamt 17, zum Teil sehr heterogene deutsche und englischsprachige Artikel, die in drei Schwerpunktbereiche gruppiert sind: 1. Algorithmen: Zufall und Regel; 2. Vorstellungsräume: Paradoxien kinematographischer Automatismen und 3. Politiken der Intervention: Theorie, Theater, Öffentlichkeit. Anhand ausgewählter Beiträge aus jedem der drei Bereiche soll es im Folgenden darum gehen, die im Werk aufgezeigten zeitgenössischen Verfahren der Entautomatisierung sowie mögliche Änderungen am ›klassischen‹ Konzept in unterschiedlichen Feldern nachzuverfolgen.

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III.

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Als ein sehr gelungener Beitrag zur zentralen Thematik des Sammelbandes sind im ersten Teil (Algorithmen: Zufall und Regel) zweifelsohne die Installationen von Amy Alexander und Carmin Karasic zu erachten, von welchen im Folgenden nur die erste besprochen wird, und die von Renate Wieser eingeleitet werden (S. 59-87). In je eigener Weise setzen die beiden Künstlerinnen das Produktionsmittel der Software ein, um Aufmerksamkeit für deren Beziehung zu sozio-politischen Kontexten zu schaffen.

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Wie Wieser erklärt, sei Software in der aktuellen Gesellschaft allgegenwärtig, bestimme sie doch sämtliche Alltagsfunktionen von der Kommunikation via E-Mail bis hin zu Überweisungen. Indessen sei der Prozess, der sich bei der Programmierung einer Software entwickelt, keinesfalls transparent; deren Eigenschaften lassen sich weder durch die im Code enthaltenen Befehle noch durch eventuelle Absichten des Programmierers offenlegen. Produktion und Konsumption von Software werden somit zu automatisierten Verhaltensweisen, die ihrerseits durch die in der Technologie hervorgebrachte Automatisierung bestimmt werden. Doch es gebe auch dazu gegensätzliche kreative Verfahren, wie z.B. die sogenannten codeworks, künstlerische Texte, die mit verschiedenen Programmiersprachen durchsetzt sind, sowie das live coding, eine Form darstellender Kunst, in welcher das Programmieren sich in Echtzeit auf interaktive und zumeist improvisierte Weise vollzieht. In beiden Fällen werden der Code und die mit ihm eingehende Funktionalität in einen neuen Kontext gestellt und damit verfremdet, sodass eine neue Wahrnehmung dafür entsteht. Gleichzeitig bewirken codeworks ein neues Verständnis von Literatur.

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Diesen allgemeinen Formen der Einflussnahme von Computer-Technologien in den Bereich der Kunst stellt Wieser die Arbeiten von Alexander und Karasic gegenüber, die den herkömmlichen Einsatz des Programmierens, seinen selbstverständlichen Anteil am Alltagsleben und die daraus generierten Wahrnehmungsautomatismen entscheidend berühren und verfremden.

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Alexanders Beitrag stellt die 2006 entstandene Installation SVEN (Surveillance video entertainment network) vor, deren Name bereits einen Hinweis auf die Funktionen gibt, die hier gegeneinander ausgespielt werden, nämlich Überwachung und Unterhaltung. Die Ausgangsfrage hinter SVEN ist ebenso simpel wie originell: »If computer vision technology can be used to detect when you look like a ›terrorist‹, ›criminal‹, or other ›undesirable‹ – why not when you look like a ›rock star‹?« (S. 67). Die Installation bedient sich einer Überwachungskamera und dreier Bildschirme. Zufällig vorbeieilende Passanten werden dabei von der Kamera aufgenommen und auf den ersten Bildschirm projiziert – wie in einem normalen Überwachungsvideo. Daraufhin beginnt das System den unwissenden Passanten nach seinen Rockstar-eigenschaften abzusuchen und sobald es fündig geworden ist, projiziert es auf einem zweiten Bildschirm das Bild und auf einem dritten Bildschirm das Musikvideo des vermeintlich berühmten Doubles. 8

[17] 

Die Eingebung zu dieser Kreation kam den beteiligten Künstlern im Zuge der Reaktionen auf die Attentate des 11. September 2001 und des sich zunehmend ausbreitenden ›Panoptizismus‹ von Seiten der Regierung, dem Zustand andauernder Überwachung. Angesichts dessen, sei nicht nur der Zeitpunkt der Überwachung relevant, sondern auch ihre Modalität. Diese Frage ist umso brisanter als der Überwachungsprozess selbst von einer Software angetrieben wird, die ohne Unterbrechungen eine Selektion zwischen normativen und devianten Elementen trifft, eine Entscheidung mit sozio-politischem Gehalt. SVEN zielt darauf ab, das Verfahren zur Schaffung der Überwachungssoftware offenzulegen:

[18] 
detecting potential rock stars algorithmically has something in common with detecting potential terrorists algorithmically. […] Although it’s convenient to think of software and algorithms as neutral and mechanical, creating software is human endeavor, and consequently, […] subjective. (S. 70)
[19] 

Der ideologiekritischen Absicht gesellt sich eine zweite, ironischer Natur hinzu: Kein Mensch würde den computergenerierten Vergleich zwischen dem Passanten und seinem Rockstar-alter ego so annehmen, denn die verglichenen Entitäten verfügen zwar über gewisse Ähnlichkeiten, die jedoch nicht so prägnant sind, dass man die eine mit der anderen gleichsetzen würde. Die ›Lust‹ am Verfahren entsteht so aus dem offensichtlichen Versagen des Algorithmus. Die abschließenden Bemerkungen der Künstlerin öffnen die Reflexion von der Installation hin zum Erfolg von Gesichtserkennungssoftware, bspw. auf Facebook. Dabei fragt sie, ob es wirklich reiche, ein »read only«-Verständnis der digitalen Prozesse zu haben oder ob nicht vielmehr informatische Kenntnisse die Voraussetzung seien, um sich bewusst und kritisch in der gegenwärtigen Gesellschaft bewegen zu können.

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IV.

[21] 

Der homogene zweite Schwerpunktbereich des Sammelbandes (Vorstellungsräume: Paradoxien kinematographischer Automatismen) vereint Artikel mit einem Fokus auf Aspekte des Kinos. Die fünf Beiträge von Brauerhoch, Ott, Zechner, Tedjasukama und Holl untersuchen die Relation zwischen dem Kinoapparat und der Illusionsbildung bzw. Wahrnehmung und rekurrieren dabei unter anderem auf film- und diskurstheoretische, psychologische sowie philosophische Ansätze.

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Gemeinsam ist den Beiträgen von Brauerhoch und Tedjasukama die Vorstellung des Kinos als eines Apparates zwischen Automatisierung und Entautomatisierung.

[23] 

Diese Dualität wird von Brauerhoch anhand des Illusionsbegriffs dargelegt (Projektion und Illusion – Wahrnehmung im Kino). Sie argumentiert, dass dem Film, unabhängig davon, ob es sich um Unterhaltungskino oder um Experimentalfilm handle, bzw. gerade auch dem Unterhaltungskino eine »Dichotomie von Automatisierung im Rahmen der ›automatischen‹ Illusionsbildung und Entautomatisierung in Form einer Illusionsdekonstruktion inne[wohne]« (S. 94). Das Verfahren der Entautomatisierung beziehe sich dabei nicht auf das Werk, wie in der künstlerischen Theorie, sondern auf den Wahrnehmungsvorgang der Zuschauer. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich hierfür zunächst auf den Nexus von Projektion – eines in der Wissenschaftsgeschichte kaum zureichend gewürdigten Begriffs – und Illusion, in Anlehnung an das Musil’sche Verständnis der letzteren: Illusion sei eine Kompensationsleistung der Fantasie, ein Automatismus, der das Geschehen auf der Leinwand »projektiv« ergänze (S. 96). In der Projektion fielen technischer und ästhetischer Vorgang zusammen. Dieser Nexus wird ferner von der Bewegung vervollständigt, die ein grundsätzliches Mittel der Illusionsbildung sei und den Film in ein »Medium der Verlebendigung« verwandle, »das auf der Grundlage eines apparativen, automatischen Mechanismus funktionier[e]« (S. 98). Brauerhoch exemplifiziert ihre Theorie zunächst anhand des Experimentalfilms Capitalism: Child Labor von Ken Jacobs. Dessen Kapitalismuskritik wird anhand einer wiederholenden und ›rhythmisierten‹, strukturellen Aufbereitung des historischen Materials ausgedrückt, das neu wahrgenommen werden soll und eine Illusionsbildung verweigert. Demgegenüber werde im Unterhaltungskino die ›Immersion‹ in den Film angestrebt. Ausgehend vom Modell des Leihkörpers von Christiane Voss, das eine körperliche Fundierung sowie Theoretisierung der cineastischen Illusionsbildung vorsieht und nach welcher eine automatisch produzierte Affizierung sowohl mit einem Nachempfinden als auch mit der Erzeugung subjektiver Vorstellung einhergeht, schlägt Brauerhoch die Brücke zur Projektion. Diese führe die Empfindungen der Zuschauer ins das Innere zurück:

[24] 
Diese Form des Verlassens des ästhetischen Szenarios des Films, um in die eigene ›Welt‹ abzuwandern, lässt sich als entautomatisierende Migration beschreiben, die durch die automatisch einsetzenden Wahrnehmungsvorgänge im Kino ermöglich [sic] wird. (S. 103)
[25] 

Vor diesem Hintergrund bespricht die Autorin das Werk Pièce Touchée des österreichischen Künstlers Martin Arnold, in welchem die 18 Sekunden lange Sequenz eines Hollywoodfilms durch Montage zu 16 Minuten ausgedehnt wird. 9 Bilder, die nach oberflächlicher Betrachtung belanglos scheinen, könnten dabei scheinbar in einen neuen narrativen Bezug zueinander gebracht werden und damit einen Übergang vom Experimental- zum Unterhaltungsfilm andeuten. Indessen werden ästhetische Parameter des klassischen Erzählkinos (geschlossene Handlungsabschnitte und die Evozierung fließender Bewegung) an den für die Bewegungsillusion zuständigen Stellen durchbrochen. Arnolds Experiment legt den Automatismus bei der Erzeugung eines latenten Bedeutungszusammenhangs durch den Rezipienten offen und erteilt jeglicher Projektionsleistung des Zuschauers eine Absage: »Für Projektion ist dann kein Raum mehr, sie wird ausbuchstabiert« (S. 110). In diesem Sinne spricht Brauerhoch vom Kino als einem »Grenzbereich für eine Migration zwischen Automatisierung und Entautomatisierung«, deren Bindeglied die »Illusion der Zuschauer« (S. 112) sei.

[26] 

Auch Zechner thematisiert einen Prozess der Entautomatisierung, der in den Filmen des italienischen Regisseurs Michelangelo Antonioni aus einer Verweigerung zur Illusionsbildung entsteht, die die Handlung zugunsten einer entautomatisierten Wahrnehmung der Dinge zurücktreten lässt (Stillstand der Narration und Wahrnehmung der Dinge – Entautomatisierung im Kino). Leicht irritierend ist an ihrem Beitrag die inkonsequente Verwendung der femininen Bezeichnung für das Subjekt, das diese Entautomatisierung wahrnimmt. Über weite Teile ist in dem Beitrag die Rede von der »Zuschauerin«, 10 bis die Präsenz des Begriffs »Zuschauer« (S. 129) eine gewisse Prekarität des Unterfangens vor Augen führt. Auch wenn man der Verfasserin konzedieren möchte, durch das Femininum eine entautomatisierende Wahrnehmung bei den Lesern ihres Artikels auszulösen, die die Aufmerksamkeit auf die Genderdebatte im Wissenschaftsdiskurs lenkt, ist das Procedere mit Hinblick auf das Forschungsergebnis diffizil. Es impliziert nämlich Unterschiede bei der Wahrnehmung durch Männer und Frauen, die es zwar geben mag, die allerdings an keiner Stelle des Beitrags thematisiert sind, noch irgendeine Relevanz dafür zu haben scheinen. Im Zusammenhang dieses Aufsatzes stellt sich ferner die Frage nach einer eventuellen funktionalen Relation von Entautomatisierung und effet de réel, insbesondere aufgrund der von Zechner besprochenen Fixierung auf die Objekte durch Antonioni, seine »Detailaufnahmen«, die »Bedeutung der Details, welche für die Handlung keine Rolle spielt« (S. 132).

[27] 

Beachtenswert ist schließlich der Beitrag von Tedjasukama (Mechanische Verlebendigung – Eine Genealogie des Kinos), der einen Einblick in drei Diskurse der Moderne bietet (Kulturkritik; Biologie bzw. Physiologie; Ästhetik), um die »Spezifik filmischer Lebendigkeit« zu ermitteln. Das Kino markiere sowohl eine Kontinuität als auch eine Zäsur zu diesen Diskursen: es entstehe als Alternative zu der sie als Massenmedium ablehnenden bürgerlichen Kulturkritik, für die es jedoch gleichzeitig ein »Residuum des Lebendigen« (S. 166) darstelle; es halte analog zur Lebensphilosophie am Irrationalen fest, erfülle jedoch nicht ihren Anspruch wissenschaftlicher Objektivität; durch die »verkörperte Erfahrung gesteigerter Lebendigkeit« (ebd.) finde es seinen Weg in die Ästhetik, in welcher es die innovative Öffnung hin zur Maschine vollziehe. Tedjasukama versteht das Kino damit dezidiert entgegen den diskursiven Dualismen und plädiert in Anlehnung an Benjamin und Kracauer für das Konzept einer »mechanischen Verlebendigung«, für welche dem Kino sowohl die Emblematik als massenkulturelle Maschine als auch das Potential eines lebendigen Raumes der Wahrnehmung innewohnen. 11 Dieses Konzept erlaube es, eine neue Perspektive auf die Debatte zwischen dem französischen Filmkritiker André Bazin und den sowjetischen Regisseuren Sergej Ėjzenštejn und Dziga Vertov einzunehmen. Die (neo-)realistische Konzentration auf die psychologische Komponente mit konsequenter Reduktion der Stilmittel zum einen und die gesteigerte Aufmerksamkeit für Montagetechniken zum anderen ließen sich letztlich als »ästhetische Steigerung der Lebendigkeit« (S. 167) fassen. Die ›Lebendigkeit des Kinos‹ könne schließlich auch vor dem Hintergrund einer Instrumentalisierung des Lebensbegriffs im Kapitalismus ihre Aktualität behaupten, die dessen kulturkritischen Ursprung zugunsten seiner Konsumierbarkeit als Ware ausspielt.

[28] 

V.

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Im umfangreichsten dritten Themenbereich des Sammelbandes (Politiken der Intervention: Theorie, Theater, Öffentlichkeit) sind insgesamt sieben Aufsätze versammelt, die sich mit Filmästhetik und Diskurstheorie, Dramentheorie, Bewegungswahrnehmung, Street Art und ›politischem Hacking‹ befassen.

[30] 

Von besonderem Interesse ist dabei der Beitrag von Doll (Kritik als ›Befreiung des Denkens‹: Foucaults Politik der Entautomatisierung), der das Konzept der Entautomatisierung auf die Foucault’sche Diskurstheorie anwendet. Die Kritik erwächst hier zur »Agentin eines entautomatisierenden Verstehens und politischen Handelns« (S. 229), die sich als permanente Infragestellung der Gegebenheiten versteht und deren Voraussetzung ein emphatisches Verständnis des Denkens ist.

[31] 

Der Verfasser ist um den Nachweis einer »Politik der Entautomatisierung« (S. 230) im Werk Foucaults bemüht, die sich in drei aufeinander aufbauenden Etappen vollziehe: durch die Absage an eine bestimmte Form von Denken, welche die Sichtbarkeit von Machtmechanismen, Automatismen und Gesetzlichkeiten bedinge und das anschließende Bestreben, ebendiese Mechanismen zugunsten einer anderen »politischen Praxis« (ebd.) zu durchbrechen, um einen Raum neuer (Denk-) Möglichkeiten zu eröffnen. Doll belegt diese Annahme auf der Basis der Archäologie des Wissens und verfolgt sie einerseits anhand von entautomatisierendem Wortlaut, etwa dem der »quasi-évidence« gegebener Einheiten (S. 231) oder dem der Entwirrung (»dénouer; débrouiller«; S. 235), andererseits anhand von Foucaults zuweilen paradox erscheinender Verfahrensweise aus historischer Perspektive, die »die performative Dimension der Etablierung von Wahrheitsordnungen« (S. 237) in den Vordergrund rückt und deren selbstverständliche Akzeptanz einer differenzierten Untersuchung unterzieht. So definiert sich die Kritik bei Foucault als »Grenzhaltung« (S. 241), als Analyse von Phänomenen, die sich dezidiert nicht zwischen Innen und Außen festlegen lassen sowie der Reflexion über dieselbe Kritik. Der Rekurs auf die Geschichte erfüllt dann die politische Funktion, die Wahrnehmung für überkommene Handlungsweisen in ihrer Komplexität zu schärfen und eine Veränderung herbeizuführen. Die Kritik konstituiert sich bei Foucault letztlich als Element des Widerstands und der permanenten produktiven Herausforderung eines durchaus politisch gedachten Status quo, deren größter Verbündeter der Automatismus und die Ablehnung eigenständigen Denkens sind.

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Ein letzter Beitrag, der hier besprochen werden soll, ist derjenige von Eke (›Was ist. Spielen wir weiter?‹ Praktiken der Entautomatisierung im Theater Heiner Müllers).

[33] 

Darin wird die Unterbrechung des Stücks Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark aus Heiner Müllers Shakespeare Factory durch ein weiteres Stück desselben Dramaturgen, die Hamletmaschine, zum Ausgangspunkt der neuerlichen Betrachtung des für den Band zentralen Verfahrens.

[34] 

Müller fügt die Hamletmaschine in die Mitte des 4. Aktes der Tragödie ein, nach einer bereits fast drei Stunden anhaltenden Spielzeit. Der Kontrast zwischen den beiden Werken wird umso deutlicher als sie sich ideologisch und darstellungstechnisch stark voneinander unterscheiden. Der Einsatz der Hamletmaschine lasse sich dabei nicht lediglich als eine Unterbrechung, eine Adaption oder ein Kommentar des Stoffes um den dänischen Prinzen verstehen. Vielmehr errichte Müller auf den »Trümmern« (S. 265) von Shakespeares Werk einen Spiegel für die »spezifisch deutsche Geschichts- und Zeiterfahrung« (S. 266) und rechne mit den gescheiterten sozialistischen Zukunftsentwürfen ab. Der Regisseur und Autor kreuze hierbei die Brechtsche Traditionslinie, welche Hamlet als einen zum Zyniker gewordenen Idealisten betrachtet, mit der auf Nietzsche zurückgehenden Traditionslinie, die Hamlet als dionysischen Menschen versteht, der das innere Wesen der Dinge erblickt hat und davon abgestoßen ist. Das eingefügte Stück stellt dabei die »Performativität der Sprache« (S. 267) in ihren Mittelpunkt und führt zu einer Änderung der Referenzebenen, bei der die Tragödie in den Hintergrund rückt.

[35] 

Musikalisch untermalt durch den Song No more Heroes der Band The Stranglers bewegen sich die zu »austauschbare[n] Personen-Signifikanten« (S. 268) reduzierten Figuren, in Anlehnung an Praktiken der Installations- und Performancekünste, in einem Raum-Zeit-Kontinuum zweiter Ordnung. Die antimimetische und die Illusion verweigernde Darstellungsweise, die Durchbrechung und die Interferenzen sowie die Befreiung der Sprache von ihrer Semantik, »entstellen die Simulationsmaschinerie des Theaters zur Kenntlichkeit« (S. 269). Eke weist dann auf das besondere Kunstverständnis Müllers hin – Kunst sei eine »Aufsprengung von Kognitionsroutinen« (S. 271) – um sie im Sinne von Šklovskijs Modell der Ostranenie zu beschreiben. Müllers Theaterästhetik ziele schlussendlich auf das »Sehen«, und dieses beginne mit einer »Störung der Wahrnehmungsgewohnheiten« (S. 275), die den Raum des Dramas medial neu definiere – der selbst zum »Laborraum der Perzeptionsschulung« (S. 276) werde.

[36] 

VI.

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Der Sammelband Entautomatisierung hat den Vorzug, ein durchaus anschlussfähiges Konzept für die Kultur- und Geisteswissenschaften wieder in den Vordergrund gerückt zu haben. Die Vielzahl an Fallbeispielen, die das Werk aufweist, zeugen, wenn auch in einigen Fällen unter Vorbehalt, 12 von der Produktivität des ursprünglich von Šklovskij theoretisierten Verfahrens. Gleichzeitig wäre es sinnvoll gewesen, dieses vor dem Hintergrund der im Band intensiv rezipierten Werke von Deleuze, mit besonderer Berücksichtigung von dessen Kunstbegriff, zu problematisieren und davon abzugrenzen. 13 Ein solches Vorgehen hätte auch den Vorteil gehabt, die beschriebenen Prozesse der Veränderung und Verschiebung auf den unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung, des Denkens und der Darstellung in den jeweils relevanten Disziplinen und künstlerischen Bereichen systematisch schärfer konturieren zu können – wobei sich dies als eine mögliche Aufgabe zukünftiger Forschung betrachten lässt.

[38] 

Angesichts von Šklovskijs ursprünglichem Untersuchungsbereich sowie der späteren Entwicklung seiner Theoreme wäre es ferner nicht irrelevant gewesen, einen literatur- und einen sprachwissenschaftlichen Beitrag aufzunehmen. Tradierte literaturwissenschaftliche Theorien des Poststrukturalismus (bspw. die Intertextualität) hätten aus einer neuen Perspektive beleuchtet werden können; man denke hier etwa an Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979), in welchem eine Form der ›Du-Erzählung‹ gegenüber dem klassischen Erzählen in der Ich-Form ausgespielt wird (der Erzähler spricht die Figur des Lesers ostentativ in der zweiten Person Singular an) und die Handlung zehnmal durch intertextuelle Verfahren unterbrochen wird. Sehr anregend sind im Sammelband schließlich die theaterwissenschaftlichen Beiträge.

 
 

Anmerkungen

Viktor Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. In: Jurij Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste Bd. 6,1) München: Wilhelm Fink Verlag 1969, S. 3-35, hier S. 7. Nebenbei bemerkt, gibt es einen Fehler in der bibliographischen Angabe der allerersten Fußnote der »Einleitung« zu Brauerhochs (et.al.) Band, wo »Juri Triedter« (S. 9; ebenso S. 16) als Herausgeber des Werkes ›Russischer Formalismus‹ genannt wird; dies sollte in künftigen Auflagen verbessert werden.    zurück
Viktor Šklovskij (Anm. 1), S. 11.   zurück
Viktor Šklovskij (Anm. 1), S. 15.   zurück
Vgl. Viktor Šklovskij (Anm. 1), S. 17-35.   zurück
Victor Erlich: Russischer Formalismus, aus dem Englischen von Marlene Lohner. (Literatur als Kunst) München: Hanser Verlag 1964 (11955); Jurij Striedter (Anm. 1); Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. II: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste Bd. 6,2) München: Wilhelm Fink Verlag 1972; Aage Ansgar Hansen-Löve: Der russische Formalismus: methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. (Sitzungsberichte Bd. 336) Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978.    zurück
Vgl. Norbert Otto Eke, Lioba Fott, Timo Kaerlein, Jörn Künsemöller: Logiken strukturbildender Prozesse. In: dies. (Hg.): Logiken strukturbildender Prozesse: Automatismen. (Schriftenreihe des Graduiertenkollegs »Automatismen«) Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, S. 9-15, hier S. 9-10.   zurück
Das Video zur Installation findet sich auf der Website von Amy Alexander, URL: http://amy-alexander.com/live-performance/sven.html (zuletzt 22.02.2018).   zurück
Das Werk ist zu sehen unter: URL: https://www.youtube.com/watch?v=AnDagpv4kUk (zuletzt abgerufen am 27.02.2018).    zurück
10 
Vgl. bspw. S. 127: »Obwohl die filmische Erzählung natürlich nicht gleichzusetzen ist mit Hollywoodrealismus, gelten dessen Mechanismen der Einbindung der Zuschauerin…«; ebenso Fußnote 5, S. 127; S. 130; S. 133-134.   zurück
11 
Siehe Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Dritte Fassung. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2., hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 471-508; Siegfried Kracauer: Die Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. In: ders.: Schriften, hg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973.    zurück
12 
Zu erwähnen ist in dieser Hinsicht der Beitrag von Foit und Kaerlein Hacking Politics: ›Bending the flows of power, but keeping the current on‹?, bei dem sich die Frage stellt, ob nicht statt des Begriffs ›Hacking‹ etwa die zugegebenermaßen etwas traditionelleren Konzepte um Satire oder Persiflage den Zustand politischer Destabilisierung durch establishment-ferne Aktanten hätten bezeichnen können. Fraglich erscheint uns hingegen die Interpretation der Szene um die Milchzentrifuge aus Ėjzenštejns Film Die Generallinie in Robniks Aufsatz Im Streit mit Rancière: Politiktheoretische Spiel- und Arbeitseinsätze – und Abbrüche – in der Filmästhetik (von Eisenstein bis Superbad). Angesichts der von Robnik gelieferten Erklärung für die Szene im Sinne einer gewissen Erotisierung der Produktionsmaschinerie zur Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge des Kommunismus stellt sich die Frage nach der Pertinenz seiner Engführung von Ėjzenštejns Montagetechnik mit einem »comeshot oder cum shot« (S. 202-203). Auffällig ist im Zusammenhang dieses Beitrags ferner die Abwesenheit von Šklovskijs Werk zum sowjetischen Regisseur (Viktor Šklovskij: Eisenstein: Romanbiographie, aus dem Russischen von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth. Berlin: Verlag Volk und Welt 1986).    zurück
13 
Siehe diesbezüglich den Beitrag von Ott »Entautomatisierende Affizierungen«; S. 121.    zurück