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Die Kunst ersetzt den Aufstand

  • Terry Eagleton: Der Tod Gottes und die Krise der Kultur. München: Verlagsgruppe Droemer-Knaur Droemer-Knaur 2015. 288 S. Hardcover. EUR (D) 19,99.
    ISBN: 978-3-629-13076-1.
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Das Thema Religion ist in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend aus der gesellschaftlichen Debatte verdrängt worden. In der Auseinandersetzung mit religiösem Fanatismus gleich welcher Couleur kam es mit Macht wieder auf die Agenda zurück. Historisch wurde erst die Kultur zur Ersatzreligion, dann der Kapitalismus. Im Prinzip fand eine historische Gottesverdrängung statt, nicht immer linear, wie Eagleton zum Beispiel mit Verweis auf die Moderne hervorhebt. Der Diskussion um die Art und Weise, wie Menschen ›selig werden‹ wollen, gebührt ein bedeutender Platz in der Kulturdebatte, nicht nur, weil Kulturen immer auch von religiösen Wurzeln gespeist werden, sondern weil sich Kulturen teilweise als diametral zur Religion definieren oder auf der anderen Seite mit dieser in eins fallen. Zu dieser Diskussion trägt Der Tod Gottes und die Krise der Kultur des englischen Literaturwissenschaftlers Terry Eagleton bei, der als Marxist und Katholik seine grundsätzlich religiöse Disposition klar macht. Aus seiner Sicht erwies sich »zumindest bis zum Beginn der Postmoderne, […] jeder Versuch eines authentischen Atheismus als vollkommener Fehlschlag« (S.10). Mittlerweile aber sei es gelungen, atheistisches Gedankengut salonfähig zu machen. Durch die Entwicklung der westlichen Gesellschaft habe der Kapitalismus, so Eagletons Theorie, die Religiosität verdrängt und religiösen Fundamentalismus gezüchtet.

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Zur Unterstützung seiner Theorie wagt der Autor einen durchaus lesenswerten Parforceritt durch die Kultur- und Ideengeschichte Europas. Er beginnt bei der Aufklärung, diskutiert Idealismus und Romantik, um über die Moderne zur Diagnostik der Postmoderne zu gelangen. Wer könnte dies besser als ein Kulturwissenschaftler, der einen umfassenden aber aufgeklärten Kulturbegriff vertritt, wie in seiner Schrift Was ist Kultur? 1 nachzulesen ist. Kultur sei, so Eagleton nun, in der historischen Entwicklung, im Sinne Hegels zum »Stellvertreter der Religion in einem agnostischen Zeitalter« (S. 90) geworden. Die Kultur, besser gesagt: die Idee der Kultur, habe Gott abgelöst, schreibt Eagleton; später haben Kapitalismus und Utilitarismus diese Funktion übernommen und dieser Weg führe geradezu in die oben genannte Katastrophe des Fundamentalismus. Noch schlimmer ist es festzustellen, wenn der Neo-Nationalismus in Europa fußend auf diesem Kulturverständnis neue Mythologien konstruiert, um Identitäten zu konturieren:

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Der Idealismus war auch an der Entstehung der erfolgreichsten aller Ersatzreligionen beteiligt: dem Nationalismus. Die Romantik brachte diese Bewegung erst richtig zum Blühen. Im Nationalismus erlangt das Konzept der Kultur zum ersten Mal seine bis heute existierende Tiefe und Resonanz, lange vor dem Aufkommen der Anthropologie oder dem Aufstieg der Kulturindustrie. Die Idee der Kultur selbst stammt aus der Aufklärung, aber der Nationalismus verleiht ihr neue Bedeutung. (S. 109)
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Die Aufklärung, so Eagleton, war keineswegs religionslos, selbst wenn sie heutzutage in der Retrospektive gerne so dargestellt wird:

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Die Aufgabe [der Aufklärung, M.L.] bestand nicht so sehr darin, das Höchste Wesen vom Thron zu stürzen, als vielmehr darin, eine geistig umnachtete Version des religiösen Glaubens durch eine neue Form zu ersetzen, die auch bei Kaffeehausgesprächen eine gute Figur machte. Im Großen und Ganzen hatte die Bewegung nicht den Allmächtigen im Visier, sondern die Machenschaften der Priester. (S. 19)
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Blickte die Aufklärung auf Religion, so wollte sie deren politische Entflechtung, ihre Befreiung von Herrschaftsautorität, ein Relikt der Verbindung des Papsttums mit dem Römischen Reich und in der frühen Neuzeit des ›cuius regio, eius religio‹. Denn: »Die Vorstellung, die Aufklärung habe ein insgesamt positives Menschenbild vertreten, und dies im Gegensatz zur christlichen Lehre von der moralischen Verderbtheit, ist ebenso sehr ein Mythos wie die Annahme, die Aufklärung sei militant areligiös gewesen.« (S. 27) Gewiss, einige Aufklärer hingen der Idee an, eine intellektuelle Elite habe den Atavismus des Glaubens überwunden, nur den Ungebildeten solle man ihren (Aber)Glauben lassen. Erfüllt die ästhetische Erziehung – im Sinne Schillers – also eine staatstragende Funktion, oder hat sie nicht eher einen revolutionären, Kritik fördernden Charakter? Viele Aufklärer wollten das bestehende System keineswegs stürzen. Oder, wie Eagelton zugespitzt formuliert: »Die Kunst ersetzt den Aufstand« (S. 99), kanalisiere revolutionäre Gefühle. Auch so mag man die aufsehenerregende Erstaufführung von Schillers Die Räuber in Mannheim interpretieren: Nicht als Fanal zum Aufstand, sondern als Einhegung revolutionärer Ideen. Die Rolle der Ästhetik war es im Idealismus, so Eagleton, Vernunft und Affekt miteinander zu verbinden (S. 93).

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»Die Aufklärung hatte mit dem Tod Gottes nichts zu tun, aber sie war auch keine Sache der Kultur.« (S. 50) An dieser Stelle ist zumindest Eagletons Kulturbegriff kritisch zu befragen, reduziert er doch die Kultur auf Ästhetik und unterstellt aufgeklärtem Denken einen zu hohen Abstraktionsgrad. Das passt nicht ganz zur sonstigen Art und Weise, in der Eagleton über Kultur denkt und kann nur im historischen Kontext des zeitgenössischen Kulturbegriffs verstanden werden. Es besteht historisch, das ist eine Erkenntnis aus der Lektüre dieses Abschnitts, so Eagleton, entgegen der landläufigen Ansicht keine Dichotomie von Aufklärung und Religion (was denen Vorschub gibt, die argumentieren, man könne Glaube und Vernunft in eins bringen), wenn er auch konzediert, die Aufklärung habe zweifelsohne ihre Errungenschaften. »Es war« aber, so kann man auch in Anlehnung an Adorno sagen, »das Schicksal der Aufklärung, eine Zivilisation mit ins Leben zu rufen, die in ihrem Pragmatismus, Materialismus und Utilitarismus dazu neigte, die eignen hohen Gründungsideale in Misskredit zu bringen.« (S. 46) Dieser Satz ist für die Thesen von Eagletons Buch zentral, weil er auf dessen Schlussfolgerungen abzielt und diese vorbereitet. Die Idealisten haben die Kultur überhöht (und wir folgen ihnen darin immer noch unbeirrt), um höhere, transzendente und politische Ziele zu erreichen. »Vernunft, Natur, ›Geist‹, Kultur, Kunst, das Erhabene, die Nation, der Staat, die Menschheit, das Sein, die Gesellschaft, das Andere, das Verlangen, die Lebenskraft und alle nur denkbaren persönlichen Beziehungen – sie alle haben eine Zeitlang als Gottesersatz fungiert« (S. 63) – und viele tun dies, das muss der Rezensent hinzufügen, teils auch noch heute gerade dort, wo Kunst und Kultur als Ersatz für den Kapitalismus als sinnstiftende Instanz fungieren. »Kunst mag greifbarer sein als Philosophie, das Bild überzeugender als die Vorstellung, aber beides lässt die Menschen etwa gleich kalt. Es spricht so wenige von ihnen an, dass es den religiösen Charakter kaum ersetzen kann, der ja das alltägliche Verhalten unzähliger Menschen mit der erhabensten aller Wahrheiten verbindet.« (S. 76) Lesen wir hier ein Glaubensbekenntnis Eagletons, der ja in herausragender Weise Kultur reflektiert und doch in ihr nicht findet, was er sucht?

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Schon die

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Zeit Schillers, Schellings und ihrer Kollegen war geprägt vom Schwinden einer sozialen Ordnung, in der Gottes Gegenwart in der Frömmigkeit und Praxis des Alltags noch spürbar war. […] Hier war eine rationale Theologie aber ganz und gar unnütz. Stattdessen versuchen Mythos, Kunst und Kultur – die Kultur aber ist die Größte unter ihnen – zu Ersatzformen der Religion zu werden. […]. […]. Die Kultur half bei der Legitimation von Herrschaft, wurde aber auch zur Quelle des Protests gegen die Herrschenden. Damit erbte sie vom religiösen Glauben einen Teil seiner politischen Ambivalenz. (S. 104)
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Und »[ähnlich] sieht es Fichte, für den erst ein staatlich organisiertes Erziehungssystem dem Einzelnen den Übergang vom rohen Appetit der Zivilisation zur Süße und Helligkeit der Kultur ermöglichen wird.« (S 105) Ist unsere postmoderne Gesellschaft in der Folge nachgerade ein Opfer des Rationalismus geworden? Oder hat sich die Rationalität so weit vorgewagt, dass die Religion mythologisch entkernt wird? »Eine vernunftbegründete Religion ist lau – eine Religion ohne Begründung verdorrt. Erstere riskiert eine Schwächung ihrer Autorität, letztere kann gefährliche anarchische ›Begeisterungsstürme‹ bei den Massen auslösen.« (S. 54) Ziel muss eine Art eingehegte Religion sein, also Dogmatik und Institution. »Dafür bedarf es eines ausformulierten Glaubens, der zwischen dem Affektiven und Kognitiven vermittelt.« (S. 57) Der Idealismus, so sieht es Eagleton war »einer der letzten großen Versuche, die traditionelle Religion mit einer Vision der Welt als unabhängigem, spirituellem System zu konfrontieren.« (S. 120) Dadurch entstand, unbeabsichtigt, eine Leerstelle dort, wo früher Religion war, auf deren Spurensuche sich Eagleton begibt.

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Die Gegenbewegung spielte sich in der Romantik ab, gegen die Idee des Absoluten als säkularisierte Gottheit (S. 123). Kunst bekommt nun eine transzendente Funktion: »Wie ein Mensch, der den heiligen Geist empfängt, spürt der Künstler, der durch diese göttliche Kraft inspiriert wird, einen heiligen Drang, sich seinen Mitgeschöpfen mitzuteilen.« (S. 129) Dichter wie Hölderlin versuchen Transzendenz in Texten aufscheinen zu lassen, als Gegenstand an sich oder als Ausdruck derselben. Natürlich dachten die Romantiker in geistlichen Sphären, jenseits des aufgeklärten Rationalismus, Natur, Emotionen, Vorstellungen und Religion waren ihr Thema, ein Gegenpol gegen den Idealismus. An dieser Stelle treten jedoch, so Eagleton, Widersprüche auf: »Eine Kunst, die zur eigenen raison d’etre wird, ist ein beredtes Gegenmittel gegen eine Kultur von Waren- und Tauschwert, aber wie sie die Welt retten soll, ist nicht leicht einzusehen.« (S. 145) Die Auswirkungen dieser ›romantischen‹ Gegenbewegung spüren wir bis heute ebenso wie die starke Verknüpfung von Kultur und Nation. Sie führt zu einer gewissen Selbstreferentialität der Kultur (oder sagen wir besser: der kulturellen Infrastruktur?), der es oft schwerfällt, gesellschaftliche Entwicklungen konstruktiv aufzunehmen, um sie zu verändern, da sie sehr stark mit der Legitimation und dem Erhalt des eigenen Angebotes beschäftigt ist. »Von der Kunst bis hin zur Sexualität, von der Ökologie zum Subjektivismus ist [die Romantik, Anm. M.L.] heute ein wichtiger Teil des kulturellen Unbewussten«, sagt Eagleton (S.  147). Immerhin gelang es, die Romantik als Ersatzreligion zu implementierten, aus Priestern wurden Dichter, aus Sakramenten Symbole, aus dem Paradies eine Utopie, aus Gnade Inspiration und die Natur wurde vergöttlicht (S. 147). In der Romantik habe es, so Eagleton, eine Art Zweckehe von Religion und Kunst gegeben, die, aus dem Zentrum der Gesellschaft verbannt, nun eine innige Verbindung eingingen.

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Nach dieser historischen Reminiszenz kommt Eagleton auf das zu sprechen, was er die »Krise der Kultur« nennt. Weder der Idealismus, noch die Romantik entfaltete eine Massenbewegung:

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Erst mit dem Aufkommen der Kulturindustrie im 20. Jahrhundert wurden die Träume und Sehnsüchte der Menschen im großen Stil beherrschbar, auch wenn das einigen Widerstand hervorrief. Trotzdem: In Form von Film, Fernsehen, Werbung und populärer Presse setze sich die Massenmythologie, von der manche frühere Philosophen geträumt hatte, tatsächlich durch. (S. 151)
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Walter Benjamin hat dieses Phänomen schon früh und sehr präzise beschrieben 2 . Der Religion räumte diese Entwicklung indes kaum größeren Platz ein, im Gegenteil. Die Zeit war geprägt davon, sich dem Begriff Kultur zu nähern, ohne ihn eindeutig definieren zu können. Eagleton führt verschiedene Denker und ihre aus seiner Sicht gescheiterten Versuche an, des Wesens der Kultur habhaft zu werden. Hauptsächlich räsoniert er über das Denken Matthew Arnolds, erwähnt Nietzsche und Althusser, um aufzuzeigen, dass es gelungen sei, sowohl der Kultur als auch der Religion einen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen. Der Krise der Kultur stellt der Autor den Tod Gottes gegenüber. Auch hier setzt er sich mit den verschiedenen philosophischen Denkrichtungen auseinander (Schopenhauer, Nietzsche, Marx). Insbesondere die Lehren der letztgenannten hatten laut Eagleton einen großen Einfluss auf die moderne Gesellschaft, der er sich im letzten Kapitel zuwendet. Kultur, so wie sie jetzt gelebt wird, übernehme theologische Funktionen: »Tatsächlich sind die meistens ästhetischen Ideen (Schöpfung, Inspiration, Einheit, Autonomie, Zeichenhaftigkeit, Offenbarung und so weiter) übernommene Bruchstücke der Theologie.« (S. 214) Terry Eagleton hält fest: Der entscheidende Bruch mit der Theologie finde bei Nietzsche nicht statt, das Konzept des Übermenschen sei ebenfalls ein theologischer Versuch. Der Tod Gottes – nämlich in Gestalt von Jesus Christus am Kreuz – sei dezidiert christlich. Im Tode Gottes liege die wahre Epiphanie so existenziell, wie auch nur der christliche Gott – wie Chesterton schreibt – angesichts des Todes kurzzeitig zum Atheisten werden könne. 3 Die Moderne und die nachfolgenden Zeitalter aber rezipieren die Idee vom Tode Gottes und führen sie weiter. Die Tragik heute sei, so Eagleton, dass ›uns nichts fehle‹:

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Wo die Moderne den Tod Gottes als Trauma, als Kränkung, als Grund zum Kummer wie auch zum Jubel empfindet, spürt, ja erlebt die Postmoderne gar nichts. Es gibt kein gottförmiges Loch in der Mitte ihres Universums […]. Tatsächlich gibt es in ihrem Universum überhaupt kein Loch, keine Lücke. Genau aus diesem wie auch aus verschiedenen anderen Gründen ist die Postmoderne post-tragisch. Tragödie beinhaltet die Möglichkeit eines unwiederbringlichen Verlusts, aber der Postmoderne fehlt gar nichts. » (S. 228) Das ist nicht nur die Tragik der Religion, sondernd er Innerlichkeit allgemein. „Wenn es keinen Gott mehr gibt, dann zum Teil deshalb, weil es keinen geheimen Ort im Inneren mehr gibt, an dem er sich einrichten könnte. Tiefe und Innerlichkeit sind Teile einer maroden Metaphysik, und wer sie auslöscht, schafft dabei Gott ab, indem er die verborgenen Orte auslöscht, an denen er sich verbergen konnte. (S. 228)
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Die Postmoderne ist für Eagleton im Gegensatz zur Moderne postreligiös (S. 230). Während in der Moderne die Ästhetik die Funktion des Heiligen übernahm, verschwindet die Aura in der Postmoderne zusehends und wird, durch die fortschreitende Digitalisierung gefördert, weiterhin verschwinden. Der Glaube, die praktizierte Religion, ist unnütz, ein Spiel, wie es Romano Guardini treffend kennzeichnete. 4 Das ist ein Problem: »Der Kapitalismus in seiner postmodernen Form ist pragmatisch, auf Nützlichkeit angelegt und damit seinem Wesen nach eine Gesellschaftsordnung ohne Glauben. Zu viel Glaube ist für einen funktionierenden Kapitalismus weder notwendig noch wünschenswert. […] Außerdem ist er unter kommerziellen Gesichtspunkten überflüssig.« (S. 238) So hat es sich die säkulare Gesellschaft im Kapitalismus gemütlich gemacht, denn wenn Religion, wie Johann Baptist Metz sagt 5 , Unterbrechung ist, so kann sie nur als Wachstumshemmer gelten. Nun aber unterliegen säkulare Gesellschaften einer gewissen Asymmetrie, wenn sie mit Glauben in fundamentalistischer Ausprägung konfrontiert werden und die Institutionen kaum eine Antwort finden können, weil sie ihre Deutungskompetenz verloren haben. Eagleton spricht hier von einem metaphysischen Gegner, der feste Überzeugungen hat und diese militant vertritt und, insofern es sich um ein soziales Phänomen handelt, auch als eine Ausprägung des westlichen Kapitalismus betrachtet werden kann. Hier wird Eagletons Kapitalismuskritik evident. Vor einem ähnlichen Problem steht im Übrigen das Christentum, das zweitausend Jahre erfolgreich den Wert des Individuums gepredigt hat und nun vom Individualismus in die Wüste geschickt wird. Indem der Westen Identitätsdiskussionen betreibt, wird die Diskussion über die Konturierung einer religiösen Identität gefördert, die Stabilität angesichts einer fragilen Welt bietet. Allerdings verliert diese Kontur den Bezug zu einem vernunftgemäßen Glauben und wird, ähnlich der Forderung nach einer Leitkultur, zum allzu leichten Hilfsmittel für Parolen. Diese Entkoppelung von jeglicher Faktizität betrifft Religion und Politik gleichermaßen.

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Die eingangs erwähnte Verbindung von Kultur und Nation wirkt vor diesem Hintergrund merkwürdig aktuell; nationale Strömungen überall in Europa argumentieren mit einem diffusen Kulturbegriff, um Identität zu konturieren. Zur Verbindung Nation und Kultur konstatiert Eagleton rückblickend: »Die säkulare, fragmentierte Zeit der Moderne wird mit dem heiligen, ununterbrochenen Narrativ der Nation konfrontiert. Eine mächtigere Paarung von Kultur und Politik ist kaum vorstellbar. Die Kulturpolitik der Postmoderne kann dem nicht das Wasser reichen« (S. 111) – muss sie, so möchte man ergänzen, auch nicht. Viel eher zieht ja in der Post-Postmoderne genau dieses Problem wieder am Horizont auf, dass nämlich ein neuer Nationalismus Zugriff auf Regelung von Kultur und deren Inhalte nimmt. Der Kunst sei, ebenso wie der Sexualität, inhärent, dass sie privatisiert worden sei. Das gelte im Übrigen ebenso für die Religion, gerade in den aufgeklärten Ländern Westeuropas, selbst wenn der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse noch im Jahr 2000 mit einem Sammelband behauptet, 6 Religion sei keine Privatsache. Eine Gesellschaft ohne Religion ist genauso problematisch wie eine religiöse Gesellschaft. Und deswegen sind Zweifel daran angebracht, ob es richtig ist, Religion bloß als Privatsache zu behandeln und nicht als öffentliche Angelegenheit. Für sie gilt, was auch für die Digitalisierung gilt: Will man sich nicht mit ihr auseinandersetzen, tun es andere und die wiederum tun es unter Umständen in einer Art und Weise, die einer demokratischen Gesellschaft nicht dienlich ist.

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In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. April 2016 differenziert hier der Verfassungsrechtler Dieter Grimm treffend. 7 Welche Wahrheiten eine Religion glaubt, sei demnach grundgesetzlich irrelevant. Für das Zusammenleben sei nur wichtig, wie sie Wahrheit lebe, was dann an Grenzen stoßen könne, wenn das Leben und die Freiheit anderer, die nicht oder etwas anderes glauben, beeinträchtigt werde. Insofern gebiete es schon der Respekt vor unserer Verfassung als zivilisatorischer respektiver kultureller Errungenschaft, sich mit Religion und ihren Ausdrucksformen auseinanderzusetzen. Eagleton geht noch weiter und fragt nach deren substanziellen Beitrag in der und für die Gesellschaft: Dies erweist sich als ein Gegenmodell zur allgemein propagierten Privatisierung der Religion und als Aufruf zum gesellschaftlichen Engagement auf Grundlage religiöser Überzeugungen. Eagleton bezieht sich dabei primär auf die soziale Frage – Nächstenliebe und Solidarität als Destillat der Religion. Angesichts fundamentalistischer Tendenzen in der Religionsgemeinschaft muss sich Eagleton hier aber fragen lassen, ob er nicht Bereiche wie Moral, Gleichberechtigung, Pressefreiheit usw. fahrlässig außer Acht lässt.

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Trotz seiner akribischen Spurensuche wird Eagleton doch in der Conclusio herrlich unpräzise. Dabei wissen wir seit Novalis, dass dort, wo Götter Leerstellen hinterlassen, Gespenster walten. 8 Allein als Bollwerk gegen den Kapitalismus reicht die Religion nicht aus, ähnelt diese Idee doch der gleichen Zweckorientierung, die Eagleton als Ausdruck des Kapitalismus zu Recht kritisiert. Die Leerstelle angesichts der fehlenden Götter wird bleiben, wenn der caritative Einsatz nicht von einem spirituellen Fundament getragen wird. Der tschechische Soziologe und Religionsphilosoph Tomáš Halík spricht, kurz gesagt, von »Hoffnung«, als dem neuen Namen Gottes in einer säkularen Welt. 9 Und das wäre im Übrigen auch ein gutes Ende, zu dem die Eagleton-Lektüre führen könnte. Für Terry Eagleton ist der Bankrott des Kapitalismus und der mit ihm einhergehenden Ordnung unerlässlich. Diesen Prozess zu befördern, ist für ihn der eigentliche Auftrag der Religion: »Wenn der religiöse Glaube von der Last befreit würde, eine Existenzberechtigung für die soziale Ordnung zu liefern, dann wäre er möglicherweise freier, seinen wahren Zweck wiederzuentdecken: die Kritik an dieser Politik.« (S. 253) Damit verknüpft er seine Hoffnung: Ist der religiöse Glaube als gesellschaftlicher Kitt überflüssig geworden, könnte er seinen wahren Zweck wiederentdecken, nämlich die Kritik an einer Ordnung, die auf Ungerechtigkeit beruht. Allerdings würde dies ein transformierter Glauben sein, jenseits eines starren Dogmatismus im Christentum, eher ein volatiler Diskursprozess, wie ihn beispielweise Gianni Vattimo 10 propagiert. Insgesamt wäre das aber ein Diskurs, der der Gesellschaft durch kritische Sicht dienlich wäre.

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Ist der Ansatz Terry Eagletons nachvollziehbar? Er argumentiert in der Tradition seines Landsmanns Chesterton 11 – freilich liberaler –, sodass man ihn fast als Apologeten der Religion gegen ihre Verächter bezeichnen könnte. Und gewiss ist vieles allzu holzschnittartig formuliert. Aber im Kern geht es ihm um etwas anderes, nämlich um eine Zivilisation, die der Metaphysik entsagt hat. Die Kunst ersetzt die Religion, ersetzt den Aufstand. In diesem Sinne wäre die Renaissance einer vernunftbetonten Religion eine Bereicherung der Kultur und ein zivilisatorischer Beitrag im Sinne der Aufklärer. Wollten die Aufklärer die Religion entpolitisieren, so muss die Religion in der heutigen Zeit wieder politischer werden – ohne allerdings erneut eine Hochzeit mit der Obrigkeit einzugehen. Die spirituelle Leere würde so zum Ort der Geburt von etwas Neuem.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Terry Eagleton: Was ist Kultur? München: C. H. Beck 2001.   zurück
Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Herausgegeben von Burkhardt Lindner (= Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Henri Lonitz und Christoph Gödde. Band 16). Berlin: Suhrkamp 2012.   zurück
Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Frankfurt am Main: Eichborn 2001, S. 258–259.   zurück
Vgl. Romano Guardini: Vom Geist der Liturgie. Freiburg im Breisgau: Herder 1918.   zurück
Vgl. Johann Baptist Metz: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie. Mainz: Grünewald 1977.   zurück
Vgl. Wolfgang Thierse: Religion ist keine Privatsache. Düsseldorf: Patmos 2000.   zurück
Vgl. Dieter Grimm: Grundgesetzlich irrelevant, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.04.2016.   zurück
Vgl. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Band 3. Kohlhammer: Stuttgart 1968, S. 519.   zurück
Vgl. Tomáš Halík: Nicht ohne Hoffnung: Glaube im postoptimistischen Zeitalter. Freiburg im Breisgau: Herder 2014.   zurück
10 
Vgl. Gianni Vattimo: Glauben – Philosophieren. Stuttgart: Reclam 1997.   zurück
11 
Vgl. u.a. Gilbert Keith Chesterton: Ketzer – eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter. Frankfurt am Main: Eichborn 1998.   zurück