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Zwischen Handschriftenerschließung und Forschung: Ein neuer Katalog zu Bibliotheken mittelalterlicher Frauenklöster

  • Anja Freckmann / Juliane Trede / Elisabeth Wunderle: Die Handschriften aus den Klöstern Altenhohenau und Altomünster. Clm 2901-2966 sowie Streubestände gleicher Provenienz. (Katalog der lateinischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München III,4) Wiesbaden: Harrassowitz 2016. 669 S. EUR (D) 178,00.
    ISBN: 978-3-447-10499-9.
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1. Verbundprojekt ›Schriftlichkeit in süddeutschen Frauenklöstern‹

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In dem hier vorgestellten Handschriftenkatalog zu den Handschriften der Frauenklöster Altenhohenau und Altomünster werden 98 mittelalterliche Handschriften aus dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek München nach den Richtlinien der DFG von Dr. Anja Freckmann, Dr. Juliane Trede und Dr. Elisabeth Wunderle tiefenerschlossen. Die Beschreibungen liegen damit der Forschung nun auch in gedruckter Form vor.

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Es muss eingangs erwähnt werden, dass es sich hierbei nicht um einen ›normalen‹ Handschriftenkatalog handelt, da er aus dem DFG-Verbundprojekt Schriftlichkeit in süddeutschen Frauenklöstern 1 innerhalb der Aktionslinie ›Bibliotheken und Archive im Verbund mit der Forschung‹ 2 hervorging. Wie die Benennung der Aktionslinie bereits andeutet, sollte dabei einer Verbindung von Bibliothek und Archiv auf der einen und der Forschung auf der anderen Seite der Weg geebnet werden. Auch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass nur wenige Projekte innerhalb dieser von der DFG nur einmalig ausgeschriebenen Aktionslinie angenommen und gefördert wurden. Das Projekt zur Schriftlichkeit in süddeutschen Frauenklöstern konnte durch sein Konzept überzeugen, nach dem sowohl die handschriftliche als auch archivalische sowie gedruckte Überlieferung von fünf ausgewählten süddeutschen Frauenklöstern erschlossen, digitalisiert und wissenschaftlich erforscht werden sollte. Mit der durch die Aktionslinie möglich gewordenen Verbindung von diesen drei Bereichen, die bis dato zumeist nur getrennt beantragt werden konnten, wollte man Erkenntnisse zu Organisation und Leben der Klöster erlangen: Beispielsweise ob und in welcher Weise Klosterfrauen eine aktive Rolle in Kloster-, Bibliotheks- und Archivorganisation sowie -verwaltung einnahmen, über welche Sprachkompetenzen sie verfügten und vor welchem literarischen Horizont sie sich bewegten. 3 Bei den ausgewählten Klöstern handelte es sich um das Dominikanerinnenkloster Altenhohenau, das Pütrich-Regelhaus der Franziskanertertiarinnen in München, das Benediktinerinnen- bzw. Birgittenkloster Altomünster, das Klarissenkloster St. Jakob am Anger sowie das Benediktinerinnenkloster Neuburg an der Donau.

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In der Projektlaufzeit von drei Jahren haben die Projektpartner (BSB München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Prof. Dr. Eva Schlotheuber, ehemals Westfälische Wilhelms-Universität, jetzt Heinrich Heine-Universität Düsseldorf) einen beeindruckenden Fundus an Daten (Objektsignaturen, Metadaten, Beschreibungen, Digitalisate, etc.) zusammengetragen. Er ist auf der Homepage des Projekts gebündelt und nach den einzelnen Klöstern aufgeschlüsselt verzeichnet. Die Handschriften- und Urkundenüberlieferung ist hier nach inhaltlichen Schwerpunkten sowie nach Signaturen geordnet und durch Links auf Beschreibungen und Digitalisate ergänzt. Kontextualisiert und begleitet werden die Daten durch zahlreiche Texte, die erste Ansätze zur Deutung und Bewertung bieten.

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Neben diese umfangreiche Onlinepublikation treten als weitere Ergebnisse des Projekts die Dissertation von Melanie Hömberg 4 sowie der vorliegende Handschriftenkatalog zu den Klöstern Altenhohenau und Altomünster als eigenständige Publikationen. Der Katalog versteht sich dabei als »Zusatzangebot« 5 zu den online präsentierten Ergebnissen. Dennoch ist er keine bloße Auskopplung des bereits online Veröffentlichten, sondern enthält einiges an Zusatzmaterial. 6

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Dass die Wahl für einen solchen Handschriftenkatalog gerade auf die Bestände von Altenhohenau und Altomünster fiel, war durch die Erschließungssituation der Handschriften bedingt. Während für zahlreiche in der BSB München aufbewahrte mittelalterliche Handschriften, die aus den ›Projektklöstern‹ stammten, durch DFG geförderte Projekte bereits moderne Beschreibungen vorlagen, war dies bei den Frauenklöstern von Altenhohenau und Altomünster nicht der Fall. 7 Für sie wurden innerhalb der Projektlaufzeit Beschreibungen nach den modernen wissenschaftlichen Standards angefertigt, gemäß der Publikationspraxis der BSB in die Reihe der BSB-Handschriftenkataloge 8 integriert und dort veröffentlicht.

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2. Besonderheiten des Katalogs

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Die Entstehung des Katalogs innerhalb eines komplexen Projekts zu verschiedenen Klosterbeständen hat einige Besonderheiten zur Folge. Die im Katalog erschlossenen Klosterbestände umfassen sowohl lateinische als auch deutschsprachige Handschriften. Von den 98 neu beschriebenen bzw. aktualisierten Handschriften entfallen 53 Bände auf den lateinischen Bereich Clm 2901–2966 9 , 24 Bände auf das Segment Clm 23066–28812 10 und 21 Codices auf den deutschsprachigen Handschriftenbereich Cgm 36–7401. 11 Die Bearbeitung unterschiedlicher Signaturenbereiche führte dazu, dass je nach Handschriftengruppe auf unterschiedliche Grundlagen zurückgegriffen werden konnte. Im Bereich des Clm-Fonds existierten lediglich die Kurzinventare des 19. Jahrhunderts. 12 Im Bereich des Cgm-Fonds lagen vielfach Beschreibungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts vor, die für das Projekt aktualisiert wurden. Für vier Cgm-Handschriften lagen keinerlei Erschließungsdaten vor, so dass diese Handschriften gänzlich neu beschrieben wurden.

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Die Bearbeitung wurde dabei – je nach Sprache und Inhalt der Handschriften – auf die verschiedenen Bearbeiterinnen verteilt: Die lateinischen Handschriften aus Altenhohenau und die lateinischen liturgischen Handschriften aus Altomünster wurden von Anja Freckmann beschrieben. Juliane Trede übernahm die Bearbeitung der übrigen lateinischen Bände aus Altomünster, während die vier deutschen Codices von Elisabeth Wunderle neu beschrieben wurden.

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Aus dem Entstehungskontext der Handschriftenkatalogisate innerhalb eines Projekts zwischen Handschriftenerschließung und der Forschung ergibt sich, dass dem Katalog zusätzlich Übersichten und zusammenfassende Texte zur Geschichte der Klöster und zu deren Buchbestand beigegeben sind. Hier befinden sich auch Zusammenstellungen von Handschriften und Drucken, die ursprünglich im Besitz der Klöster Altenhohenau und Altomünster waren, aber nicht in der BSB München aufbewahrt werden. So wird ein umfassender Einblick in den historischen Bestand ermöglicht.

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3. Katalogaufbau

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Der Katalogaufbau entspricht grundsätzlich dem üblichen Aufbau von Handschriftenkatalogen. Dem Katalog vorangestellt ist ein Vorwort (S. XI-XVII) der Leiterin des Projekts an der BSB München, Dr. Bettina Wagner, das Auskunft über Projektumfang, Besonderheiten des Projekts, Bearbeitungszeit und Kooperationspartner gibt und Danksagungen formuliert. Es folgt ein Verzeichnis (S. XIX-XXXII) von abgekürzt zitierter Literatur, allgemeinen Abkürzungen und Standortbezeichnungen. Der anschließende Hauptteil des Katalogs spiegelt die provenienzgeschichtliche Zweiteilung des zu beschreibenden Bestands wider: Der erste Block ist dem Dominikanerinnenkloster Altenhohenau gewidmet (S. 1–299), der zweite dem Benediktiner- bzw. Birgittenkloster Altomünster (S. 301–563). In diesen Blöcken sind jeweils erläuternde Texte zur Kloster- und Bestandsgeschichte beigegeben, die auch die Handschriftenbeschreibungen mit den ergänzenden Anhängen verbinden. Am Ende stehen ausführliche Register (S. 565–669) mit dem Personen-, Orts- und Sachregister, dem Initienregister, den Repertoriumsnachweisen sowie eine Konkordanzliste zwischen dem Inkunabelkatalog der BSB München (BSB-Ink) 13 und den Signaturen der zitierten Inkunabeln.

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4. Handschriften aus dem Dominikanerinnenkloster Altenhohenau

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Der Altenhohenauer Abschnitt und insbesondere die erläuternden Metatexte stammen von Anja Freckmann. Eine Einleitung bietet Ausführungen zur Altenhohenauer Klostergeschichte und zur Rekonstruktion des Buchbestands, zur Genese und Funktion der Liturgica, zu bestandsspezifischen Merkmalen der Altenhohenauer Reformliturgica und zur Herkunft der Einbände liturgischer und nichtliturgischer Bücher. Da die meisten aus Altenhohenau erhaltenen Handschriften als Liturgica anzusprechen sind, liegt ein großer Schwerpunkt der Ausführungen von Freckmann auf der Liturgie, die im Kloster praktiziert wurde. 14 Freckmann arbeitet dabei die unterschiedlichen Buchtypen, die in der Überlieferung vorhanden sind, heraus und teilt sie in praeoberservante und obversante Stücke. Für die Unterteilung zieht sie kodikologische und paläographische, vor allem aber inhaltliche (d. h. liturgiewissenschaftliche) Kriterien heran. Die durch die Reform bedingten liturgischen Unterschiede innerhalb der Buchtypen versucht sie jeweils kurz zu umreißen. Überzeugend zeigt Freckmann die Abhängigkeit der frühen Reformliturgie von dem Dominikanerinnenkloster St. Katharina in Nürnberg, von dem aus Altenhohenau 1465 reformiert wurde.

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Äußerst interessant sind die Ergebnisse, die Freckmann zum Altenhohenauer Skriptorium der Reformzeit herausarbeiten kann. Neben der namentlich bekannten Schreiberin (und späteren Priorin) Anna Zienerin konnte Freckmann fünf Schreiber(innen)hände identifizieren, die in den Altenhohenauer Handschriften – entweder als Schreibhände des Haupttextes oder aber als Korrekturhände – stetig wiederkehren. Für eine Hand (Hand C, S. 35) ist sicher nachweisbar, dass es sich um eine Schreiberin und damit wohl aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Konventsangehörige gehandelt haben muss. Wenn Freckmann es auch nicht explizit formuliert, leitet sie aus diesem Befund ab, dass es sich bei diesen fünf Händen insgesamt um Nonnen des Altenhohenauer Klosters gehandelt haben muss. Interessant (und für eine Aussage über die Schreiborganisation innerhalb des Altenhohenauer Klosters bedeutend) wäre an dieser Stelle vielleicht ein direkter Vergleich zwischen den liturgischen und den (meist deutschsprachigen) nichtliturgischen Handschriften evtl. auch unter Bezugnahme des Erscheinungsbilds ihrer Schreibhände gewesen. Ein Abgleich hätte Aussagen darüber ermöglicht, ob neben der von Freckmann beschriebenen Schreibtätigkeit eines ›professionellen‹ Skriptoriums für die liturgische Schriftlichkeit eine wohl weniger straff organisierte Schriftlichkeit für den nichtliturgischen Bereich (Gebetbücher für den persönlichen Gebrauch oder moraltheologisch oder aszetische Handschriften für die Tischlesung) mit höherem volkssprachigen Anteil existiert hat.

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Zwischen der Einleitung und den Handschriftenkatalogisaten ist ein Abdruck liturgischer Basisformulare (B1-B17, S. 41–62) eingeschaltet, die die Gewohnheiten der Altenhohenauer Liturgie abbilden. Die Formulare dienen nicht nur als Referenz für die folgenden Handschriftenbeschreibungen, sie bieten für zukünftige Katalogisierungsvorhaben liturgischer Handschriften aus (dominikanischen) Frauenkonventen eine sinnvolle und solide Grundlage.

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5. Handschriften aus dem Benediktinerinnen- bzw. Birgittenkloster Altomünster

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Die erläuternden Texte zum Kloster Altomünster hat Juliane Trede verfasst. Ihr Fokus lag auf dem Bestandsaufbau und der Bestandsentwicklung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bibliothek. Diese Ausrichtung folgt der bewegten Klostergeschichte von Altomünster: Seinen Ursprung nahm das Kloster wohl noch vor dem 10. Jahrhundert als Benediktinerkloster, bis es 1056 von Benediktinerinnen besiedelt wurde. Nach der Aufhebung 1488 wurde am selben Ort ein birgittinisches Doppelkloster eingerichtet (vgl. S. 303). Trede arbeitet überzeugend heraus, wie der Bestand sich während der verschiedenen Phasen entwickelt hat. Durch zahlreiche Schenkungen und anhand der Einbände (S. 314–316), die aus vielen verschiedenen Werkstätten stammen, kann sie darlegen, dass in Altomünster nicht wie im Fall von Altenhohenau von einer umfangreichen eigenen Handschriftenproduktion ausgegangen werden kann, sondern dass nur selten Bände aus klostereigener Produktion belegt sind (vgl. S. 317). Überzeugend sind ebenfalls die Ausführungen zur Buchaufstellung innerhalb des Doppelklosters, die für den Männer- und Frauenkonvent in jeweils getrennten Räumlichkeiten erfolgte. Die Brüder unterhielten eine große und organisierte Bibliothek mit eigenem Signaturensystem. Der Buchbesitz der Schwestern war wohl weniger zahlreich, hier lassen sich daher auch keine Signaturen in den Bänden nachweisen (S. 321–325). Leider fehlen detailliertere und systematisierende Ausführungen zur sprachlichen und inhaltlichen Bestandsausrichtung, die auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Bruder- und Schwesternkonvent auf inhaltlicher Ebene klären könnten. Hier ist die Leserin/der Leser darauf angewiesen, durch die eigene aufmerksame Lektüre der Handschriftenbeschreibungen Rückschlüsse zu ziehen.

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6. Katalogisierungsarbeit

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Um die Katalogisierungsarbeiten angemessen beurteilen zu können, habe ich neben der einfachen Lektüre der Katalogisate je zehn Beschreibungen aus dem Altenhohenau- und Altomünsterblock unter Hinzuziehung des Digitalisats gelesen.

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Durchgehend zeugen die Katalogisate von einer hohen Qualität. Die einzelnen Informationen sind auf die Abschnitte Kodikologie, Einband, Geschichte, Literatur und Inhalt verteilt, so dass in sich geschlossene und komprimierte Beschreibungen entstanden sind, die das geschichtliche und inhaltliche Profil der einzelnen Bände gut sichtbar machen.

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Als vorbildlich muss die inhaltliche Aufarbeitung der in den Handschriften überlieferten Texte bezeichnet werden. Nachweise zu Editionen und Abdrucken werden verzeichnet; Literaturangaben und Erläuterungen zu den Texten werden in umfänglicher Weise, aber vor allem sinnvoll gegeben. Parallelüberlieferung bzw. Parallelhandschriften 15 sind ebenso verzeichnet. In diesem Zusammenhang kommen die Basisformulare zur Altenhohenauer Liturgie zu ihrem Recht und zu ihrer vollen Wirkung.

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Individuelle Stärken und Schwächen der drei Bearbeiterinnen bedingen es, dass ihre Beschreibungen strukturell nicht deckungsgleich sind. Durch eine große Portion Eleganz und Genauigkeit bei aller erforderlichen Kürze zeichnen sich die Beschreibungen von Elisabeth Wunderle aus. Zu Beginn jedes Abschnitts zur Geschichte eines Codex gibt sie eine konzise und passgenaue Argumentation zur Lokalisierung und Datierung der Handschriften unter Hinzuziehung aller Hinweise, welche die Bände enthalten. Das hat zur Folge, dass der Leser dem ›Handlungsgeschehen‹ wunderbar folgen kann und nicht mit offenen Fragen zurückgelassen wird. Als Beispiel sei genannt, wie exakt Wunderle die vorkommenden Hände und deren Charakteristika beschreibt, datiert und darüber hinaus noch Vergleichsbeispiele anführt.

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Die Beschreibungen der anderen beiden Bearbeiterinnen, Anja Freckmann und Juliane Trede sind von ähnlicher Tiefe. In einigen Details allerdings fehlt es – vor allem bei den Beschreibungen von Freckmann – an der letzten Präzision, die aus der Beschreibung eine ›runde‹ Sache macht. Dies sei an folgenden Beispielen verdeutlicht:
1. Im ersten Beschreibungssegment (Altenhohenau) fehlt häufig eine systematisierende Zusammenfassung, welche die Argumente für Entstehungsort und -zeit bündelt. Das hat zur Folge, dass der Leser/die Leserin vereinzelt nicht genau weiß, woher die Angaben in der Schlagzeile resultieren. Problematisch ist es, wenn Angaben aus der Forschungsliteratur referiert, aber nicht gezielt für die eigene Argumentation ausgewertet werden. In der Beschreibung von Clm 2902 beispielsweise wird die von Ehrenschwendtner 16 bereits vorgenommene Datierung des Codex auf Ende des 13. Jahrhunderts vorgestellt (S. 71). In der Schlagzeile der Handschriftenbeschreibung hingegen wird die Datierung des Bandes vom Ende des 13. Jahrhunderts auf das erste Drittel des 14. Jahrhunderts ausgeweitet.

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2. Im Bereich der Paläographie wäre ein Hinweis darauf, auf welche Referenzwerke sich einzelnen Schriftartbezeichnungen beziehen, hilfreich. Es seien zwei Beispiele angeführt. Für die beiden Hände aus dem in das zweite Drittel des 13. Jahrhunderts datierten Clm 2903 wird die Bezeichnung ›Textura‹ verwendet, die nach Karin Schneider erst ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, vor allem aber im 15. Jahrhundert begegnet. 17 Schneider beschreibt die im Clm 2903 verwendete Schrift mit den Begriffen ›gotische Minuskel‹ oder ›Textualis‹. 18 Damit zusammenhängen mag die Wendung ›Textura formata‹ (Clm 2905, 2906, 2908, 2909 u. ö.). 19

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Ein ähnliches terminologisches Problem begegnet bei den Handschriften Clm 2938 und Clm 2939. Die dort verwendete Schrift ist als ›frühgotische Minuskel‹ ausgewiesen. Nach Schneider setzt die frühkarolingische Minuskel allerdings erst im 13. Jahrhundert ein. Sie weist zudem bereits erste Gotisierungsmerkmale auf, wie beispielsweise Engerstellung der Schäfte und Betonung der Vertikalen, die einfache Brechung der Schäfte, auf der Grundlinie stehendes s, r und f oder der unter das Mittelband heruntergezogene h-Bogen. 20 All diese Merkmale fehlen den beiden Münchner Handschriften. Nach der Terminologie von Schneider dürfte die Schrift in Clm 2938 und Clm 2939 eher als ›spätkarolingische Minuskel‹ anzusprechen sein, was auch sehr gut zu der in den Beschreibungen vorgenommenen Datierung der Codices um 1130 bzw. in das erste Drittel des 12. Jahrhunderts passen würde.

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3. Vereinzelt vermisst man eine gewisse (explizit formulierte) Problematisierung der kodikologischen und paläographischen Analysen. Dieser Aspekt mag der enormen Verknappung geschuldet sein, die der Textsorte Handschriftenbeschreibung zu eigen ist. An einigen Stellen verdeckt sie allerdings Erkenntnispotential. Beispielsweise wird in der Beschreibung zum Clm 2903 zwar darauf hingewiesen, dass es sich bei fol. Ir/v um ein »Calendarfragment« (S. 79) handelt. In der folgenden Argumentation scheint dieser Tatsache jedoch nicht im erforderlichen Maße Rechnung getragen zu werden: Trotz des Fragmentstatus wird die dort schreibende Hand als »Haupthand« bezeichnet. Damit wird sie von der Datierung mit dem folgenden Psalter gleichgesetzt und ins zweite Drittel des 13. Jahrhunderts verortet. Mir scheint allerdings die zeitliche Gleichsetzung von Schreibhand des (Einband)-Fragments und des Buchblocks nicht zwingend. Die Schrift des Fragments könnte einige Jahrzehnte jünger sein als die des Buchblocks, da sie bereits einige kursive Elemente aufweist 21 . Dies hätte zur Folge, dass das Fragment nur sehr bedingt für eine Lokalisierung des Bandes herangezogen werden könnte, wie es in der Beschreibung geschehen ist.

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4. In eine ähnliche Richtung denke ich, wenn bei der Beschreibung des Clm 2934 angegeben wird, dass die Handschrift aufgrund des paläographischen Befunds in Südfrankreich entstanden sei (S. 330). Die Schriftart wird – ganz treffend – als Rotunda bezeichnet (S. 329). Diese Zuweisung ist meines Erachtens allerdings erklärungsbedürftig, da die Rotunda doch als typisch italienische Schriftart gelten dürfte. Hilfreich wäre es, hier die umfassendere Argumentation mitgeteilt zu bekommen, die der Handschriftenbeschreibung ganz sicher zugrunde gelegen hat. So sprechen neben paläographischen Vergleichsbelegen auch die Parallelüberlieferung sowie die Nennung von Tholose innerhalb der Widmungsrede für eine Lokalisierung nach Toulouse. 22 Auch der Buchschmuck hätte mit seinen zahlreichen violetten Fadenausläufern des Fleuronnés für eine Lokalisierung nach Südfrankreich herangezogen werden können. 23

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7. Zusammenfassung: Ein Katalog in Zusammenspiel mit der Forschung

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Mit dem vorgestellten Katalog der BSB München sind die Handschriftenbestände des Dominikanerinnenklosters Altenhohenau und des Benediktinerinnen- bzw. Birgittenklosters Altomünster aufgearbeitet und beschrieben worden. Die Erschließung dieses Bestandssegments erfolgte innerhalb des Verbundprojekts ›Schriftlichkeit in süddeutschen Frauenklöstern‹. Dem Projektziel, über die Buchüberlieferung und die archivalische Überlieferung Erkenntnisse über Funktionsweise und Organisation der Frauenklöster zu gewinnen, wird der Katalog mehr als gerecht. Hierzu tragen qualitätvolle Handschriftenkatalogisate bei, auf die zudem unkompliziert und schnell über das Internet zugegriffen werden kann: Die Beschreibungen sind vollständig in die Handschriftendatenbank von Manuscripta Mediaevalia eingegeben und dort recherchierbar. 24 Bis auf zwei Ausnahmen sind zudem alle Katalog-Handschriften digitalisiert und über das Präsentationssystem der BSB einsehbar. 25 Die ergänzenden Texte und Übersichten leisten zudem wichtige Forschungsarbeit, die über das Spektrum eines üblichen Handschriftenkatalogs hinausreichen.

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Wenn ich mir auch an manchen Stellen bei der Lektüre eine detailliertere Darstellung oder auch einen Vergleich mit anderen Frauenklöstern gewünscht hätte, so zeigt dies, was durch diesen Katalog bereits geleistet wurde: Die Aufbereitung des überlieferten Materials durch die Handschriftenkatalogisate sowie eine erste Bewertung und Interpretation des Bestands laden dazu ein, neue Fragen zu stellen und das vorhandene Datenmaterial als Ausgangspunkt hierfür zu verwenden.

 
 

Anmerkungen

Vgl. detailliert: https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/forschung/schriftlichkeit-in-sueddeutschen-frauenkloestern (26.09.2016); https://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/sueddeutsche-frauenkloester (01.11.2016).   zurück
Vgl. http://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/lis/sitzung_lis_ausschuss_090114.pdf (01.11.2016).   zurück
Zu den Zielen im Allgemeinen vgl. S. XII-XIII des Katalogs (Vorwort von Bettina Wagner, s. u.); zum Aspekt des besonderen literarischen Horizonts vgl. beispielsweise Eva Schlotheuber mit ihrem Vortrag ›Doctrina privata und doctrina publica. Autorität und Legitimationsstrategien geistlicher Frauen im öffentlichen und semiöffentlichen Raum‹ auf der Tagung in Grimma 2016, vgl. den Tagungsbericht: Die Wirkmacht klösterlichen Lebens im Mittelalter. Modelle – Ordnungen – Kompetenzen – Konzepte, 06.04.2016 – 08.04.2016 Grimma, in: H-Soz-Kult, 10.10.2016, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6735 (01.11.2016).   zurück
Vgl. Melanie Hömberg: Wirtschafts(Buch)führung im Kontext: der Umgang mit Schriftlichkeit in reformierten Frauenklöstern in Süddeutschland. Dissertation, LMU München: Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften 2013; URL: https://edoc.ub.uni-muenchen.de/19134 (01.11.2016).    zurück
Bettina Wagner unter: http://dlist.server.uni-frankfurt.de/pipermail/provenienz/2013-November/000819.html (01.11.2016).   zurück
Siehe unten die Ausführungen bei Punkt 2 und 3.   zurück
Clm 2901–2966 sowie Clm 8301 ff., dazu die verstreut als Handschriften unbekannter Herkunft im sogenannten ›Supplement‹ verzeichneten Handschriften (z. B. Clm 23001 ff.).    zurück
Vgl. https://www.bsb-muenchen.de/kompetenzzentren-und-landesweite-dienste/kompetenzzentren/handschriftenerschliessung/erarbeitete-kataloge (01.11.2016).   zurück
Clm 2901–2919: Altenhohenau; Clm 2931–2966: Altomünster.    zurück
10 
Clm 23107–28268: Altenhohenau; Clm 23066–28812: Altomünster.   zurück
11 
Der Münchener Fonds der Cgm ist, anders als die Clm, nicht nach Klosterprovenienzen aufgestellt. Daher finden sich in Cgm 78–5516 Handschriften aus Altenhohenau und in Cgm 36–7401 Handschriften aus Altomünster.   zurück
12 
Vgl. Karl Halm / Georg von Laubmann / Wilhelm Meyer: Catalogus codicum latinorum Bibliothecae Regiae Monacensis, Bd.: 1,2, Codices num. 2501 – 5250 compl., Monachii, 1894; Karl Halm / Georg von Laubmann / Wilhelm Meyer: Catalogus codicum latinorum Bibliothecae Regiae Monacensis, Bd.: 2,4, Codices num. 21406 – 27268 complectens, secundum Andreae Schmelleri indices composuerunt Carolus Halm et Gulielmus Meyer, Monachii, 1881; Halm, Karl / Laubmann, Georg von / Meyer, Wilhelm: Catalogus codicum latinorum Bibliothecae Regiae Monacensis, Bd.: 1,3, Codices num. 5251 – 8100 complectens, secundum Andreae Schmelleri indices composuerunt Carolus Halm, Georgius Thomas, Gulielmus Meyer, Monachii, 1873.   zurück
13 
Vgl. Elmar Hertrich / Bettina Wagner / Günter Mayer (Hg.): Inkunabelkatalog der Bayerischen Staatsbibliothek München. 7 Bde. Wiesbaden: Reichert 1988–2009; URL: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de (01.11.2016).    zurück
14 
Dementsprechend lautet der Titel der Einleitung auch: Altenhohenau als Beispiel liturgischer Schriftlichkeit.   zurück
15 
Vereinzelt scheint mir der Begriff ›Parallelhandschrift‹ nicht ganz zielsicher gewählt zu sein: Bei Clm 2901 und 2902 beispielsweise ist der Begriff für eine Parallelüberlieferung eines einzelnen Textes (Clm 2901: Sequentiae, fol. 133v-158v) verwendet. Meines Erachtens meint ›Parallelhandschrift‹ eine ähnliche bzw. identische Zusammensetzung von mehreren Texten im Bezug auf eine Referenzhandschrift; für einzelne Texte wird eher der Begriff ›Parallelüberlieferung‹ verwendet.    zurück
16 
Vgl. Marie-Luise Ehrenschwendtner: Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddeutschland vom 13. bis 15. Jahrhundert (Contubernium 60). Stuttgart: Steiner 2004, S. 158, Anm. 467, S. 277f. und Anm. 10.   zurück
17 
Vgl. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, 3. durchgesehene Auflage (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte / B; 8). Berlin u. a.: De Gruyter 2014, S. 38.   zurück
18 
Vgl. ebd., S. 38.   zurück
19 
Grundsätzlich ist die Verwendung der Bezeichnung ›Textura formata‹ in der Forschung generell nicht ganz klar gezeichnet. Der Zusatz ›formata‹ kann nach dem von Lieftinck entwickelten System als Bezeichnung für die höchste kalligraphische Stilebene einer Schriftart verwendet werden, zum System vgl. Martin Steinmann, Aus der Forschung zur gotischen Schrift in den letzten fünfzig Jahren. Ergebnisse und offene Fragen, in: Archiv für Diplomatik 50 (2004), S. 399–415; in kurzer Darstellung vgl. auch Karin Schneider (Anm. 17), S. 16 f. Die Wendung ›Textura formata‹ scheint allerdings wie eine Doppelung, da der Begriff ›Textura‹ ja bereits die höchste Stilebene der Textualis bezeichnet. Innerhalb der Textura selbst noch eine Gliederung in Stilebenen zu vollziehen, ist eigentlich ungewöhnlich, da die Textura als erstarrte Schriftart gilt ohne vielfältige Erscheinungsformen und Ausprägungen. Karin Schneider verwendet ausschließlich den Begriff ›Textualis formata‹.   zurück
20 
Vgl. Karin Schneider (Anm. 17), S. 33–34.   zurück
21 
Etwa bei s und f, die bereits unter die Zeile reichen (beispielsweise auf Ir bei Ualentini confessor, Johannis Chrisostomi, Agnetis).   zurück
22 
Dies wird in der Handschriftenbeschreibung herausgearbeitet, nicht aber für die Lokalisierung ausgewertet.   zurück
23 
Freundliche Mitteilung von Dr. Karl-Georg Pfändtner (München).   zurück
24 
Vgl. http://www.manuscripta-mediaevalia.de (01.11.2016). Die Manuscripta-Mediaevalia-Handschriftendokumente sind ebenfalls über die Projektseiten (siehe Anm. 1) erreichbar.   zurück
25 
Vgl. http://www.digitale-sammlungen.de (01.11.2016).   zurück