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Tendresse statt Jammer und Schaudern: eine komparatistische Theatergeschichte der Zärtlichkeit

  • Burkhard Meyer-Sickendieck: Zärtlichkeit. Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit. Paderborn: Wilhelm Fink 2016. 481 S. 2 Abb. Kartoniert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-7705-5942-8.
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Ein Vergleich der August-Ausgabe 2017 von literaturkritik.de (Schwerpunkt: ›Emotionen‹) mit einer der letzten ähnlich orientierten, der September-Ausgabe 2012 (›Stimmungen und Gefühle‹), zeugt von der fortschreitenden Institutionalisierung der literatur-, kultur- und geschichtswissenschaftlichen Emotionsforschung. Dominierten vor fünf Jahren noch Besprechungen von Monographien und Sammelbänden, kann Thomas Anz in seiner Einleitung zum Schwerpunkt 2017 bereits auf verschiedene Hand- bzw. Lehrbücher verweisen, wie etwa das Studienbuch Emotionsforschung von Gesine Lenore Schiewer, die bereits 2012 erschienene Einführung Grundlagen der Emotionsgeschichte von Jan Plamper sowie – publikationspolitische Adelung eines Forschungsgebiets – das durch Martin von Koppenfels und Cornelia Zumbusch herausgegebene Handbuch Literatur & Emotionen. 1

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Erfreulicherweise hat sich die (historische) Emotionsforschung nicht nur in Nachschlage- und Grundlagenwerken sedimentiert, sondern bringt auch weiterhin umfassende monographische Arbeiten hervor, die auf breiter Materialbasis und mit dem Willen zu historischer Tiefe epochenübergreifende Zusammenhänge aus unerwarteten Perspektiven herstellen oder gar Neubewertungen ganzer Epochen vornehmen. So zeigt sich zwischen den oben erwähnten thematischen Schwerpunkten durchaus Kontinuität: War Friederike Reents 2012 mit einem programmatischen »Plädoyer für Stimmungsphilologie« vertreten, das auf ihrer Habilitationsschrift basierte, findet sich 2017 eine Besprechung des mittlerweile publizierten Bandes zur Stimmungsästhetik vom 17. bis 21. Jahrhundert. 2 Burkhard Meyer-Sickendiek, dessen Arbeit über moderne Stimmungslyrik 2012 besprochen wurde 3 , hat mit Zärtlichkeit nun eine weitere Monographie vorgelegt, die seine Untersuchungen einzelner Gefühlsphänomene bzw. Affektkomplexe fortschreibt, wie er sie bereits mit seiner breit angelegten kulturgeschichtlichen Arbeit zur Affektpoetik 2005 4 begonnen hatte.

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Der Mehrwert des komparatistischen Zugangs

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Mit der vorliegenden Theatergeschichte der Zärtlichkeit des 17. und 18. Jahrhunderts wendet sich Meyer-Sickendiek nun einer einzelnen Gattung sowie einem Zeitraum zu, der in den letzten Jahren auch aus der Romanistik heraus vermehrt Aufmerksamkeit im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Affektregulierung, Politik und Literatur erfahren hat. Genannt seien etwa Stephan Leopolds Studie zur politischen Funktion allegorischer Eros-Konstellationen Liebe im Ancien Régime 5 oder Jörn Steigerwalds Untersuchung der Galanterie als natürliche Ethik mit dem Zweck der Affektregulierung von Geschlechterbeziehungen 6 . Aus der Germanistik kommend knüpft Burkhard Meyer-Sickendiek explizit an Steigerwalds bereits komparatistisch angelegtes Galanterie-Buch an (vgl. v.a. S. 28–30), worauf der Untertitel seiner Theatergeschichte hinweist: Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit.

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Die Spezifik des Bandes liegt weniger in der Konzentration auf ein Medium bzw. eine Gattung (das Theater) oder einen Gegenstand (die Zärtlichkeit), sondern im vergleichenden Ansatz, der ausgehend vom französischen théâtre classique auch die Vermittlungsrolle des englischen Theaters einbezieht und somit die tieferen Wurzeln des bürgerlich-empfindsamen Dramas deutscher Sprache freilegt. Erst durch diesen Blick über einzelne Sprachen und Nationalliteraturen hinaus kann der Verfasser zu seiner Neueinschätzung der Zusammenhänge kommen, die einige gängige Forschungsmeinungen der Germanistik in Frage stellt. Die Ausgangsfrage ist dabei folgende:

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Grenzte sich das Bürgertum der Aufklärung durch seine Empfindsamkeit von den adligen Oberschichten ab? Oder müssen wir die ›bürgerliche Empfindsamkeit‹ vielmehr als Resultat einer Mimesis begreifen, die eine schon von der Aristokratie des 17. Jahrhunderts entwickelte galante Empfindsamkeit importierte? (S. 18)
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Ergebnis der Untersuchung ist, soviel sei vorweggenommen, dass es sich bei der Empfindsamkeit, die prominent im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts verhandelt wird, keineswegs um eine genuin bürgerliche ›Erfindung‹ handelt. Vielmehr ist sie, wie Meyer-Sickendiek nachweist, über viele Etappen hinweg mit einem Zärtlichkeitsideal verbunden, das bereits die tragédie tendre der französischen Klassik prägte und seinen Ursprung in der Pariser Salonkultur hat, sodass Beginn und Herkunft der Empfindsamkeit auf die Galanterie des 17. Jahrhunderts vordatiert werden müssen. Dass es sich bei dieser »Rückdatierung der Empfindsamkeit auf die Epoche der Galanterie […] in der Romanistik [um] eine Selbstverständlichkeit« (S. 13) handelt, schmälert nicht das Verdienst des Verfassers, bisher kaum hinterfragte Forschungspositionen der Germanistik überzeugend zu revidieren.

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Dass das empfindsame Theater in Deutschland mit dem Bürgerlichen Trauerspiel begann, sieht Meyer-Sickendiek trotz der Ende der 1960er Jahre geführten Debatte um Lothar Pikuliks Studie Bürgerliches Trauerspiel und Empfindsamkeit 7 , die genau dies bezweifelte, als weitgehend unwidersprochene Lehrmeinung an (vgl. S. 19–23). Auch wenn diese in Gerhard Sauders Standardwerk Empfindsamkeit 8 1974 paradigmatisch formulierte Position seit der Jahrtausendwende von einzelnen Arbeiten in Frage gestellt wird, wie Meyer-Sickendiek überblicksartig darlegt (vgl. S. 23–25), bleibt sie weiterhin dominant – nicht zuletzt wenn bzw. weil die Perspektive auf die deutschsprachige Literatur beschränkt wird.

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Ihren Ausgangspunkt hat diese dominierende Deutung bereits in den Schriften der Schlüsselfigur des Bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, nämlich Gotthold Ephraim Lessings. In dem zentralen, Lessing gewidmeten Kapitel (S. 271–340), auf das der gesamte erste Teil des Buches, »Die Entstehung des zärtlichen Theaters (1650–1740)«, zusteuert, und das den zweiten Teil über »Das Enden des zärtlichen Theaters (1740–1780)« eröffnet, wird deutlich, wie in programmatischen Texten Lessings die Einflusslinien französisch-aristokratischer Zärtlichkeitsideale bewusst verwischt werden:

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Wir haben es also offenkundig auch bei Lessing mit einer systematischen Ausblendung der tragédie tendre als Ursprung des empfindsamen Theaters zu tun. Und erst durch dieses Vergessen der noch von Voltaire und Gottsched gewussten Tradition der tragédie tendre konnte sich im Deutschland der 1740er Jahre der einflussreiche Glaube entfalten, das Bürgerliche Trauerspiel sei die historisch erste Form der rührenden Tragödie. (S. 267)
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Meyer-Sickendiek geht nicht davon aus, dass Lessing seine Theorie des empfindsamen Theaters erst durch die explizite Abkehr von Gottscheds an den französischen Klassikern geschulter Regelpoetik entwarf. In seiner Neudeutung des 17. Literaturbriefs zeigt er nämlich, inwiefern Lessing ein Paradoxon vollzieht, wenn er Gottsched und den Franzosen eine Empfindsamkeit zum Vorwurf macht, die er vordergründig zwar durch ostentative Anlehnung an Shakespeare und das englische Theater kategorisch von sich weist, die aber gleichzeitig in seinen eigenen Stücken umso präsenter ist (vgl. S. 275–281). Lessings 17. Literaturbrief verschleiert in dieser Lesart diskursiv eine Genealogie, die noch in seinen eigenen Stücken, Miss Sara Sampson und Emilia Galotti, wirksam ist.

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Burkhard Meyer-Sickendieks Zärtlichkeits-Studie kann also in weiten Zügen als Rekonstruktion dieser seit Lessing vom Großteil der Germanistik nicht erkannten Genealogie verstanden werden. Seine Argumentation ist nicht zuletzt durchgehend nachvollziehbar, weil er sie eng an ausführlichen Einzelanalysen einer Vielzahl von Dramentexten entwickelt, die perlengleich aufgereiht die Leitschnur der Studie bilden.

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Eine Genealogie des Theaters der Zärtlichkeit

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Ergänzt wird das Korpus der Theatertexte im engeren Sinne – deren Analyse sich dankenswerterweise immer, selbst bei bekannteren Stücken, auf Inhaltsübersichten stützt – durch das Hinzuziehen von Paratexten wie Vorworten oder Kritiken bzw. von Ego-Dokumenten wie Briefen der Verfasser etc. Ihren Ausgangspunkt nimmt die Studie jedoch in einem anderen Genre, nämlich dem barocken Roman, insbesondere Madeleine de Scudérys Clélie (ab 1654) sowie einem Bilddokument: der Carte de Tendre, die den ersten Clélie-Roman illustrierte und auch das Cover des vorliegenden Bandes ziert. Die Carte de Tendre ist als allegorische Landkarte eine topographische Transposition der amitié tendre, jener ›Liebesfreundschaft‹, die im Rahmen der galanten Salonkultur konzeptualisiert wurde und auch in den Clélie-Romanen verhandelt wird. Als Instrument der Affektzivilisierung im Sinne von Norbert Elias 9 handelt es sich hierbei, kurz gesagt, um ein Ideal des Preziösentums, das die Geschlechterbeziehungen durch die Ausrichtung auf einen Mittelweg ordnet, der durchaus an den aristotelischen Pragmatismus gemahnt. Auf der Carte de Tendre steht dafür der Fluss »Inclination«, der langsam fließend vom Städtchen »Nouvelle amitié« in die Hauptstadt »Tendre sur Inclination« führt, also die ideale Entwicklung von der freundschaftlichen Bekanntschaft zur zärtlichen Zuneigung vorzeichnet, während bei Fehlverhalten am Horizont das gefährliche Meer der Leidenschaften und am Kartenrand der öde See »Lac d’Indifférence« drohen.

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Mit dem Regierungsantritt Ludwigs XIV. und der Machtzunahme der noblesse de robe findet ab 1660 eine immer engere Verbindung von städtischer Salon- und Versailler Hofkultur statt: la cour et la ville bilden mehr und mehr eine »geistige Einheit« (Auerbach), die sich auch in Gegnerschaft zu bestimmten Auswüchsen des Preziösentums konstituiert, wie sie z.B. rund um Molières Komödien, nicht zuletzt Les précieuses ridicules (1659) debattiert werden. Die tendresse prägt gleichzeitig jedoch ihrerseits die als zutiefst klassisch empfundene Tragödienproduktion eines Racine, wie Meyer-Sickendiek insbesondere an Bérénice aufzeigt. Die Zärtlichkeit findet Eingang in die Tragödie, indem sie zur Lösung des Antagonismus von privater Liebe und Staatsräson herangezogen wird: Titus, der, um römischer Kaiser zu werden, seiner Geliebten Bérénice entsagen muss, weil das Volk die Nicht-Römerin ablehnt, zaudert vor dieser Entscheidung und zeigt sich damit als empfindsamer Staatsmann. Erst die gegenseitige Versicherung ihrer exklusiven Liebe ebnet den Weg zur Entsagung von Titus und Bérénice, womit die unblutige Auflösung des Antagonismus und die Bewahrung der zärtlichen Liebe um den Preis ihrer Nichterfüllung ermöglicht werden.

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So erfüllt diese Tragödie die Idee der tendresse im Sinne einer exklusiven, von den passions geläuterten amour, insofern die Vollendung der amour im Zeichen der gloire nur in Form einer – an die Carte de Tendre erinnernden – Fernliebe denkbar ist: Der für die Tragödie konstitutive Gegensatz von amour und honneur wird in der Idee der Zärtlichkeit aufgehoben. (S. 127)
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Die in der Nachfolge Racines in England (z.B. John Dryden), Frankreich (Voltaires Zaïre) und Deutschland (etwa Ephraim Benjamin Krüger, Johann Elias Schlegel) sich herausbildende empfindsame Herrschertragödie zieht ihre Gattungslegitimation nun nicht mehr aus der primären Wirkungsabsicht, beim Publikum durch heroische Handlungen eleos und phobos, also Jammer und Schaudern, hervorzurufen, sondern aus der Rührung ihrer Zuschauer:

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Die empfindsame Herrschertragödie ist demnach die erste theatrale Ausprägung der in dieser Studie untersuchten europäischen Empfindsamkeit, also ein Vorläufer der rührenden Komödie, aber auch des bürgerlichen Trauerspiels. (S. 184)
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Neben der Tragödie verfolgt der Verfasser dann auch die »Komödie der Zärtlichkeit« (S. 185–214). Von der englischen sentimental comedy bis zu Schlegels Triumph der guten Frauen zeigt Meyer-Sickendiek, wie die Zärtlichkeit zu einer Didaktik der Beschämung entwickelt wird, deren Zweck die Läuterung und gesellschaftliche Reintegration von auf den falschen Pfad gelangten Figuren – und damit auch die moralische Belehrung des Publikums – ist. Die englischen Titel sprechen hier für sich, etwa Richard Steeles The Lying Lover (1703) oder Colley Cibbers The Careless Husband (1704).

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Mit der »Tragikomödie der Zärtlichkeit« (S. 215–267), also auf Grundlage der Gattungsvermischung, verstärkt sich die Verbürgerlichung des zärtlichen Liebesdiskurses, womit eine zunehmende Orientierung an der Liebesehe, der Kleinfamilie und schließlich am innerfamiliären Konflikt einhergeht. Über die französischen Autoren Regnard, Destouches, Marivaux und La Chaussée kommt Meyer-Sickendiek schließlich zu Gellerts rührendem Lustspiel Die zärtlichen Schwestern (1747) sowie seiner poetologischen Begründung und theoretischen Durchdringung des weinerlichen Lustspiels in der Schrift Pro comoedia commovente (1751). Die Abhandlung, die vor allem eine Reaktion auf die Kritik Chassirons an der Vermischung von Komödie und Tragödie darstellt, ist der entscheidende Zwischenschritt auf dem Weg zu Lessings Position. Sein Hauptargument entlehnt Gellert der Vorrede Voltaires zu dessen Rührstück Nanine, wie Meyer-Sickendiek nachweist. Es besagt nämlich, dass es sich bei der Liebe, welche die von Chassiron kritisierten Tragödien und Komödien zum Gegenstand haben, nicht um dieselbe handle, denn die Tragödie widme sich der heroischen und die Komödie der zärtlichen Liebe. Der springende Punkt ist aber weniger die Aneignung von Voltaires Argument zur Entwicklung der Theatergeschichte, die Gellert gerade nicht übernimmt.

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Trotz dieser argumentativen Nähe zu Voltaire beginnt jedoch mit Gellerts Abhandlung ein entscheidendes und durchaus folgenschweres Missverständnis. Denn Voltaire leitete die rührende Komödie nicht wie Chassiron oder später Gellert aus einer Transformation der Komödie des frühen 18. Jahrhunderts, sondern aus einer Transformation der Tragödie des 17. Jahrhunderts ab. […] Das Argument Chassirons wird also nicht wie bei Gellert durch eine Affirmation der Gattungsvermischung von Komödie und Tragödie widerlegt, sondern durch eine alternative Genealogie neu perspektiviert: Nicht die neuere Komödie etwa Nivelle de la Chaussées ist schuld an der Vermischung von Komischem und Tragischem, sondern die alte Tradition der tragédie classique. (S. 265)
[22] 

Mit Lessings Aufgreifen der Diskussion zwischen Gellert und Chassiron verstärkt sich das »eigentümliche Verschweigen der Vorreiterrolle Voltaires« (S. 266) durch Gellert zu jener bereits zitierten »systematischen Ausblendung der tragédie tendre als Ursprung des empfindsamen Theaters«, wobei der tatsächliche Einfluss Voltaires auf Lessing, insbesondere der seiner Zaïre auf Emilia Galotti, unverkennbar ist (vgl. S. 325–331). 10

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Obwohl Lessing in seiner Argumentation zunächst auf Kontinuität zu Gellert setzt, überschreitet er in seinen Stücken bald die Grenzen von Gellerts rührendem Lustspiel und reflektiert das zunehmend auch in seinen poetologischen Texten. Den zweiten Teil seines Bandes, »Das Enden der Zärtlichkeit«, lässt Meyer-Sickendiek denn auch mit der »Krise der Zärtlichkeit« (S. 271–340) bei Lessing beginnen. Um das Tragische in das Bürgerliche Trauerspiel einzuführen, muss dieser nämlich die aus den Komödien bekannte ethisch-didaktische Zweckbestimmung der Zärtlichkeit aus seinen Stücken evakuieren und durch seine Poetik des Mitleids ersetzen. Das lässt sich am von Miss Sara Sampson (1755) zu Emilia Galotti (1772) zurückgelegten Weg nachvollziehen, der mit den Marksteinen der poetologischen Reflexionen im Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57) und der Hamburgischen Dramaturgie (1767) gepflastert ist. Damit vollzieht Lessing die Verbürgerlichung der empfindsamen Herrschertragödie:

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Lessings Emilia Galotti ist eine empfindsame Herrschertragödie in der Tradition von Racines Bérénice, Voltaires Zaire oder Schlegels Canut. Allerdings radikalisiert Lessing dieses Genre im Sinne einer – im Briefwechsel über das Trauerspiel reflektierten – Dramaturgie der Beklemmung. Und diese Radikalisierung resultiert aus seiner Einführung eines bürgerlichen Tugendrigorismus, den diese Gattung bis zu Lessing nicht kannte.
[25] 
Ungeachtet dieser Einschränkung gilt dennoch: Erst Lessings Emilia Galotti entfaltet die moralische Polarität von Adel und Bürgertum. Erst Lessing setzt jene Aufkündigung der Ständeklausel um, die die Trauerspieldiskussion seit den 1750er Jahren forderte. Und erst Lessings Emilia Galotti löst das Ideal des moral sense aus jener ›höfischen‹ Verankerung, die diesem noch im Trauerspiel der 1750er Jahre zukam. (S. 340)
[26] 

Der Schritt vom rührenden Lustspiel zum empfindsamen Trauerspiel ist bei Lessing also gleichzeitig der von der Didaktik der Zärtlichkeit zur bürgerlichen Tugendmoral und damit zur Überwindung ersterer.

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Die letzten Kapitel der Studie sind dieser »Überwindung der Zärtlichkeit« (S. 341–387) im Sturm-und-Drang-Theater sowie dem »Jenseits der Zärtlichkeit« (S. 425–452) seit Schillers Kabale und Liebe gewidmet, unterbrochen von einer »Rekonstruktion der Zärtlichkeit« in den Komödien von Jakob Michael Reinhold Lenz (S. 389–425). Am Anfang vom Ende steht aber, so Meyer-Sickendiek, Jean-Jacques Rousseau. Dessen Kulturkritik kennt Zärtlichkeit nur als natürliche Tugend und lehnt die tendresse im Sinne einer aristokratisch verwurzelten, verfeinerten Gefühlskultur kategorisch ab. Aus diesem Natürlichkeits- und Tugendideal entwächst schließlich ein Tugendrigorismus, der mit dem des Sturm-und-Drang-Dramas von Klinger bis Wagner korreliert. Im Angesicht triumphierender bürgerlicher Tugendorientierung wird die Zärtlichkeit zunehmend »zu einer leeren Formel« (S. 387), deren didaktische Ausrichtung im Sinne einer reintegrierenden Beschämung verloren geht. Lenzens Komödien, etwa Der Hofmeister (1774) oder Die Soldaten (1776), die von einem deutlichen »therapeutisch-didaktischen Interesse« (S. 394) zeugen, erscheinen diesbezüglich als singuläres retardierendes Moment in Bezug auf den zunehmenden Bedeutungsverlust der Empfindsamkeit in ihrer auf das siècle classique zurückgehenden Form.

[28] 

Abschließend sei noch auf die Bewertung von Schillers Kabale und Liebe als Ort des Verschwindens des empfindsamen Zärtlichkeitsideals hingewiesen, womit der Verfasser seiner so mutigen wie in der Darstellung nachvollziehbaren Neigung zur Vordatierung literaturgeschichtlicher Orientierungspunkte treu bleibt. Luise und Ferdinand wollen in Meyer-Sickendieks Lesart bürgerlicher Familie und höfischer Konvention zugleich entfliehen, um ein Liebesideal zu verwirklichen, dessen Essenz gerade in der Unmöglichkeit einer Verwirklichung aufgrund seines notwendigen Scheiterns an der gesellschaftlichen Realität besteht. Es handelt sich also bereits um romantische Liebe. »Natürlich ist Schiller kein genuiner Romantiker« (S. 432), doch in der romantischen Liebe dieses Sturm-und-Drang-Dramas ist endgültig kein Platz mehr für Zärtlichkeit.

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Zur Neubewertung der bürgerlichen Empfindsamkeit

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Mit seiner ›erneuten Neubestimmung‹ der bürgerlichen Empfindsamkeit als in der Tiefe aristokratisch präfiguriert datiert Burkhard Meyer-Sickendiek den Ursprung empfindsamen Theaters um etwa 100 Jahre vor. Die Argumentation ist durchgehend überzeugend, da sie ausnahmslos eng an den Primärtexten entwickelt wird und sich auch im Hinblick auf den englischen und französischen Kontext eng an Fachdebatten anlehnt, wodurch disziplinspezifische Positionen – allen voran die Gerhard Sauders – auf fruchtbare Weise relativiert werden, ungeachtet ihrer eventuellen (bisherigen) Dominanz. Die geringfügigen Monita sind lediglich formaler Natur, so stört eine Fülle an Fehlern den Lesefluss, auch konkurrieren außerhalb von direkten Zitaten verschiedene Schreibweisen von Dramentiteln (etwa Marivaux »Le Jeu de l’amour et du hazard« vs. »Le jeu de l’amour et du hasard«) und werden die Eigenheiten fremdsprachlicher Begriffe nicht immer beachtet (»coeur« statt ›cœur‹;»amour courtoise« statt ›amour courtois‹;»Zaire« statt ›Zaïre‹).

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Anknüpfungspunkte an die Analysen und Ergebnisse der materialreichen Studie könnten sich für die Romanistik beispielsweise in Bezug auf die Rezeption des théâtre classique, für die Anglistik etwa angesichts der Bedeutung der sentimental comedy als Bindeglied zwischen französischer tendresse und deutscher Empfindsamkeit ergeben. Den größten Gewinn wird freilich die Germanistik aus dem Band ziehen, die durch die hier dargebotene erfolgreiche Integration von Forschungsergebnissen aus der Romanistik oder Theatertexten aus England gleichsam eingeladen wird, bei der Rekonstruktion von Genealogien großer Gattungen und langlebiger Phänomene – auch bzw. gerade wenn diese bereits ausgiebig erforscht erscheinen – über den Rand deutschsprachiger Textproduktion hinauszusehen. 11

[32] 

Mag die abschließende Feststellung des Verfassers, bei der von ihm untersuchten Empfindsamkeit handle es sich letztlich um ein »historisches Intermezzo« (S. 452), wohl nicht unwidersprochen bleiben, wie Jürgen Viering in seinem Referat des Buches für Germanistik andeutet 12 , so wäre ja gerade eine Debatte um den Stellenwert des empfindsamen Theaters angesichts der von Meyer-Sickendiek vorgenommenen Neuperspektivierung wünschenswert. Gerade vor dem Hintergrund von Rüdiger Schnells zuletzt geäußerten Kritik 13 wäre das auch eine Gelegenheit, Spezifika und Stärken der genuin literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung herauszustellen, die zunächst einmal den Vorzug hat, Emotionen nicht ›an sich‹ zu erforschen, sondern am und im Feld der Literatur.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Thomas Anz: »Abenteuer Interdisziplinarität« in der Emotionsforschung. Zu der August-Ausgabe 2017 von literaturkritik.de und ihrem Themenschwerpunkt (21.08.2017). In: literaturkritik.de. URL: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=23618 (17.09.2017); Gesine Lenore Schiewer: Studienbuch Emotionsforschung. Theorien, Anwendungsfelder, Perspektiven. Darmstadt: WBG 2014; Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München: Siedler 2012; Martin von Koppenfels und Cornelia Zumbusch (Hrsg.): Handbuch Literatur & Emotionen. Berlin, Boston: De Gruyter 2016.   zurück
Vgl. Friederike Reents: Forschung zur Färbung der Gefühle. Ein Plädoyer für Stimmungsphilologie (09.09.2012). In: literaturkritik.de. URL: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17111 (17.09.2017); dies.: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2015.   zurück
Vgl. Torsten Mergen: »In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch«. Burkhard Meyer-Sickendiek schreibt über die Wiederentdeckung der »Stimmungslyrik« in der modernen Literaturtheorie (09.08.2012). In: literaturkritik.de. URL: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=16995 (17.09.2017); Burkhard Meyer-Sickendiek: Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie. Paderborn: Wilhelm Fink 2011.   zurück
Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.   zurück
Stephan Leopold: Liebe im Ancien Régime. ›Eros‹ und ›polis‹ von Corneille bis Sade. Paderborn: Wilhelm Fink 2014; siehe auch die ausführliche Rezension von Fabian Hauner: Die Macht der Liebe. Stephan Leopold untersucht die Spannungen zwischen polis und eros im ancien régime. In: Romanische Studien 4 (2016), S. 583–589. URL: http://romanischestudien.de/index.php/rst/article/view/114 (17.9.2017).   zurück
Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft 1650–1710. Heidelberg: Winter 2011; siehe auch die Besprechung von Ruth Florack in Arbitrium 31/1 (2013), S. 57–61.   zurück
Lothar Pikulik: ›Bürgerliches Trauerspiel‹ und Empfindsamkeit. Köln, Graz: Böhlau 1966.   zurück
Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Band 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart: Metzler, 1974.   zurück
Vgl. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.   zurück
10 
Vgl. dazu auch den Vortrag Meyer-Sickendieks auf der von ihm gemeinsam mit Jörn Steigerwald im Herbst 2016 veranstalteten Tagung »Das Theater der Zärtlichkeit. Affektkulturen und Inszenierungsstrategien in Tragödie und Komödie des vorbürgerlichen Zeitalters (1630–1760)«: »›Vom Stolze zur Zärtlichkeit, und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung‹: Voltaire, Lessing und die empfindsame Herrschertragödie«; ein Tagungsbericht von Antonio Roselli findet sich in: Romanische Studien 5 (2016), S. 585–593.   zurück
11 
Dabei stellt sich die Frage, ob es der Aufnahme der Studie nicht förderlich wäre, fremdsprachige Zitate – zumindest die französischen – durchgehend auch in Übersetzung anzubieten.   zurück
12 
Vgl. das Referat von Jürgen Viering in: Germanistik 57/1–2 (2016), S. 157–158.   zurück
13 
Rüdiger Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of emotions. 2 Bände. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015.   zurück