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„Telle est la vie fin de siècle.“

Hofmannsthals Aufsatz-Poesie zwischen 1891 und 1901

  • Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band XXXII: Reden und Aufsätze 1. Hrsg. von Hans-Georg Dewitz, Olivia Varwig, Mathias Mayer, Ursula Renner und Johannes Barth. Frankfurt am Main: S. Fischer 2015. 1134 S. EUR (D) 214,00.
    ISBN: 978-3-10-731532-1.
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Initiation

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Der Autor ›Loris‹ ist siebzehn, als er 1891 in der Wiener Zeitschrift Moderne Rundschau seine Rezension zu Hermann Bahrs Drama Die Mutter publiziert. Die Lektüre der Besprechung seines Stücks bezeichnet Bahr rückblickend als »coup de foudre«: »Da war endlich einmal einer, der die ganze Zeit, wie tausendfältig sie sich widersprechen und bestreiten mag, in seinem Geiste trug, [...] ein Psychologe und Psychagoge.« Diesen ›Herrn‹, mutmaßlich ein Franzose, in jedem Fall aber ein ›reifer Geist‹ zwischen vierzig und fünfzig Jahren, muss er kennenlernen – und macht, als er dann im Café Griensteidl dem Schüler Hofmannsthal gegenübersteht, »wohl das dümmste Gesicht« seines Lebens. 1 Als Signum ihrer Verbundenheit im Geist der ›Wiener Modernen‹ sollten die Freunde das Pseudonym ›Loris‹ bis 1893 in Anrede- und Grußformeln beibehalten. 2

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Inhalt, Aufbau und Herausgeber des Bandes

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Der 2015 erschienene Band XXXII der ›Sämtlichen Werke‹ Hofmannsthals macht dem Publikum erstmals in kritischer Edition alle »Reden und Aufsätze« zugänglich, die das junge Talent in den Jahren 1891 bis 1901 im geistigen Klima Jung Wiens publizierte oder zu publizieren gedachte. Er beinhaltet ferner Hofmannsthals Habilitationsschrift Studie über die Entwickelung des Dichters Victor Hugo (1901) und den im Nachlass erhaltenen Teil der Einleitung seiner Dissertation Über den Sprachgebrauch bei den Dichtern der Pléjade (1898). Damit weist der Band »Reden und Ausätze 1« zurück auf die Anfänge der Hofmannsthal-Philologie, die sich bekanntlich zuerst auf den frühen Hofmannsthal stürzte. Er weist aber auch und vor allem über diese Anfänge hinaus, indem er eine fundierte Grundlage für eine erneute, durch philologisch gesicherte Erkenntnisse vertiefte und um aktuelle Theorieansätze erweiterte Auseinandersetzung bietet. Damit dürfte er einen Beitrag zum Schließen der von Christoph König monierten Kluft zwischen Interpretation und wissenschaftshistorischer Kritik leisten. 3 Ergänzend zu den bereits publizierten Bänden »Reden und Aufsätze 2 (1902–1909)« und »Reden und Aufsätze 3 (1910–1919)« zeigt der besprochene Band, dass die journalistisch-essayistischen Formate Hofmannsthals literarisches Schaffen von der Frühphase bis zum Spätwerk nicht nur flankieren, sondern wesentlicher Teil desselben sind. Die Zusammenfassung der »Reden und Aufsätze 1« der Zeitspanne von 1891 bis 1901 entspricht Hofmannsthals veränderter essayistischer Praxis in den Folgejahren, denn seine »frühe Rezensions-Essayistik wird kurz nach der Jahrhundertwende durch zwei andere Essaytypen ergänzt und teilweise ersetzt, zum einen durch die Erfundenen Gespräche und Briefe, die vor allem zwischen 1902 und 1907 entstehen [...], und zum anderen durch Essays mit historischer Ausrichtung«, die »in erster Linie die Klassiker der Literaturgeschichte« behandeln. 4

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Übersichtlich strukturiert, vereint der Band Textteil und Apparat: In chronologischer Reihenfolge werden im Textteil zunächst die zu Lebzeiten veröffentlichten, dann vier nachgelassene Schriften in der beim Abschluss des genetischen Prozesses erreichten Gestalt dargeboten. Wer sich ob der Ankündigung »Aus dem Nachlaß« auf dem Buchumschlag des schönen Leinenbandes gegebenenfalls auf bisher noch nicht gehobene Nachlass-Schätze freut, wird enttäuscht: Lediglich ein zwei Seiten umfassender, mutmaßlich um 1898 entstandener Entwurf zu einem weiteren Gabriele-d’Annunzio-Aufsatz erblickt in dieser Ausgabe erstmals das Licht der Publikation. Der gut zwei Drittel des Gesamtumfangs einnehmende Apparat des Bandes indes legt Zeugnis von dessen Notwendigkeit ab. Er macht deutlich, wie voraussetzungsreich das Verständnis dieser ›kleinen‹ Texte ist, die im personellen und printmedialen Geflecht des Wien der Jahrhundertwende von einem ›jungen Herrn‹ stammen, der sein breites philosophisches, historisches und kulturgeschichtliches Wissen in sie einschrieb und sie durch zahllose Bezugnahmen auf seine transdisziplinären Lektüren zu Lehrbeispielen für Intertextualität macht. Der Apparat liefert zu jedem Text einen zusammenhängend formulierten einleitenden Abschnitt zur Entstehungsgeschichte, stellt die Überlieferung dar, verzeichnet die Varianz, führt Zeugnisse zu Entstehung und Rezeption auf, enthält Erläuterungen in Form von Wort- und Sachkommentaren und gibt Zitat- und Quellennachweise sowie weiterführende Hinweise auf Anspielungen und Parallelstellen. In der Gesamtschau erweist sich der Apparat damit als kultur- und geistesgeschichtliche Fundgrube. Den Editionsprinzipien, die im Rahmen des Großprojekts der Ausgabe reichlich erprobt sind, ist in der Anwendung leicht zu folgen.

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Gleich fünf Herausgeber zeichnen für die »Reden und Aufsätze 1« verantwortlich. Hans-Georg Dewitz, dessen Feder der Band den großen Anteil von 25 Kapiteln verdankt, hat bereits die Bände »Dramen 4: Das Bergwerk zu Falun. Semiramis. Die beiden Götter« und »Dramen 18: Silvia im ›Stern‹« herausgegeben. Olivia Varwig, ehemals Mitarbeiterin in der Hofmannsthal-Redaktion und der Handschriften-Abteilung des Freien Deutschen Hochstifts, wurde mit der Edition von zwölf der in Rede stehenden Aufsätze promoviert. Mathias Mayer ist seit 1996 einer der Hauptherausgeber der Kritischen Werkausgabe und hat der Forschung – nach seiner 1993 erschienenen Metzler-Einführung – jüngst, gemeinsam mit Julian Werlitz, das lang ersehnte Hofmannsthal-Handbuch beschert. 5 Auch Ursula Renner ist ausgewiesene Hofmannsthal-Expertin und Mitherausgeberin des Hofmannsthal-Jahrbuchs zur europäischen Moderne. Mit zwei Kapiteln hat sich der editionsphilologisch ebenfalls versierte Johannes Barth beteiligt, der sich mit der Edition der Päpstin Johanna (Band 10 der historisch-kritischen Ludwig Achim von Arnim-Ausgabe) habilitiert hat.

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Hofmannsthals ›Fin-de-Siècle-Bacteriologie‹

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Parallel zu seinen ersten lyrischen Veröffentlichungen weiß sich der junge Hofmannsthal auch publizistisch in den Feuilletons zu positionieren, dies sehr bewusst – und selbstbewusst: »Bemühe mich allgemein-verständliche und respectable Feuilletons zu schreiben«, teilt er Gustav Schwarzkopf mit und schickt für den Fall, dass dieser es nicht selbst aus der Zeitung erfahre, die Information hinterher, dass Georg Hirschfeld in der Montagszeitung »übrigens« geschrieben habe, er sei ein »genialer Jüngling« (S. 299). Dieser Jüngling versteht sich ganz im Zeitgeist der ›Übersensiblen‹ und ›Nervösen‹ als Seismograf seiner Gegenwart, betrachtet ihre »Sensationen und Sensatiönchen« »durchs Mikroscop«, »möchte die Bacteriologie der Seele gründen« 6 und schreibt sich damit in den von Wahrnehmungskrise und Identitätssuche getragenen Diskurs um Décadence, Dilettantismus, Historismus und Ästhetizismus ein.

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Dabei eignet er sich keine der kursierenden (literar-)ästhetischen Positionen und Ansichten an, sondern bezieht seinen thematischen und gestalterischen Impetus aus einer metaperspektivischen Distanz. »Ich habe nie so viel Lyrik gefühlt wie jetzt. Ich kann mir nicht denken, dass das alles so bald ein Ende haben soll, und doch werde ich den Uebergang ganz leicht ertragen. Telle est la vie fin de siècle«, befindet der Sechzehnjährige (S. 298). Die florierende Feuilleton-Kultur der Jahrhundertwende, welche die fieberhafte Suche nach neuen individuellen, gesellschaftlichen und künstlerischen Positionierungsoptionen in der ›Moderne‹ abbildet, ist ihm adäquates Medium, um seine Zeit reflexiv einzufangen, sie – zwischen Epigonen- und Avantgardebewusstsein oszillierend – zu kommentieren und »dem Geist« der »verworrenen Epoche auf den verschiedensten Wegen, in den verschiedensten Verkleidungen beizukommen.« 7

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Zum Gegenstand: Hofmannsthals kritisch-essayistische Prosa 1891–1901

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Hofmannsthal schreibt Rezensionen, Charakteristiken, Nekrologe, Reportagen, Reiseberichte, Skizzen, Studien, Bildbeschreibungen, poetologische Reflexionen. Er veröffentlicht in kulturellen Zeitschriften und in Tageszeitungen, etwa in der Modernen Rundschau und der Neuen Revue, in der Allgemeinen Kunst-Chronik und der Deutschen Zeitung, in der Presse, der Zeit, der Frankfurter Zeitung und in Stefan Georges Blättern für die Kunst. So vielfältig wie die Formen seiner Texte sind deren Gegenstände. Er rezensiert deutschsprachige Neuerscheinungen, so Richard Muthers Geschichte der Malerei im XIX. Jahrhundert (Die malerische Arbeit unseres Jahrhunderts, 1893), Peter Altenbergs Prosagedicht-Sammlung Wie ich es sehe (Das Buch von Peter Altenberg, 1896) und Stefan Georges Lyriksammlung Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (Gedichte von Stefan George, 1896). Er beschreibt Reiseeindrücke (Südfranzösische Eindrücke, 1892), kommentiert Nachlässe (Eduard von Bauernfelds dramatischer Nachlass, 1893), bespricht literarische, philosophische, kunst- und kulturgeschichtliche Novitäten aus dem In- und Ausland.

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In seiner ersten journalistischen Publikation, den 1891 in der Berliner Halb-Monatsschrift Die Moderne veröffentlichten »Glossen« Zur Physiologie der modernen Liebe, setzt er sich mit dem französischen Romancier und Kritiker Paul Bourget auseinander, in demselben Jahr bespricht er Maurice Barrès’ Romantrilogie Le culte du moi (Maurice Barrès), das postum veröffentlichte Tagebuch des Schweizers Henri-Frédéric Amiel (Das Tagebuch eines Willenskranken) und die Aufsatzsammlung Das junge Skandinavien des schwedischen Autors Ola Hansson (Ola Hansson. Das junge Skandinavien).

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Er schreibt Elogen auf die Schauspielkunst der in Wien gastierenden italienischen Schauspielerin Eleonora Duse (Eleonora Duse. Eine Wiener Theaterwoche und Eleonora Duse. Die Legende einer Wiener Woche, beide 1892), widmet sich dem Engländer Swinburne (Algernon Charles Swinburne, 1893) und dem norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen (Die Menschen in Ibsens Dramen, 1893). Das Jahr 1893 ist auch der Auftakt zu einer Reihe von Aufsätzen über den italienischen Symbolisten Gabriele d’Annunzio (Gabriele d’Annunzio, 1893; Gabriele d’Annunzio, 1894; Der neue Roman von d’Annunzio, 1896; Die Rede Gabriele d’Annunzios, 1897) und über die bildende Kunst, die Münchner Sezession etwa oder den englischen Ästhetizismus (Moderner Musenalmanach, 1893; Die Malerei in Wien, 1893; Franz Stuck, 1894; Über moderne englische Malerei, 1894; Künstlerhaus, 1894). Schließlich lanciert er mit seiner Rede Poesie und Leben (1896) und den Aphorismen Bildlicher Ausdruck und Dichter und Leben (1897) in Stefan Georges Blättern für die Kunst dezidiert eigene poetologische Überlegungen.

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Eine treffende Gattungsbezeichnung für die vielgestaltige Produktion des siebzehn- bis siebenundzwanzigjährigen Hofmannsthal zu finden, fällt nicht eben leicht. Ernst Otto Gerke sieht sie gekennzeichnet durch einen »vielfältige[n] innere[n] Zusammenhang bei ausgeprägter literarischer Individualität der einzelnen Formtypen.« 8 Man mag diese Kurzformen als »literarische Gebrauchsformen« 9 , als »Kritische Prosa und Essayistik« 10 oder als ›nicht-fiktionale Kunstprosa‹ 11 bezeichnen – man wird ihnen damit im Einzelnen kaum gerecht. Der 32. Band der kritischen Ausgabe vereint sie traditionsgemäß und editionspragmatisch sinnvoll unter dem Reihentitel »Reden und Aufsätze 1«. 12 Dem in die Hofmannsthal-Philologie nicht Eingeweihten mag das die Auffindbarkeit gegebenenfalls erschweren – etwa im Fall der Suche nach Hofmannsthals Habilitationsschrift. Und wer ob des Plurals im Titel frohlockt, im Band mehr als eine Rede aus Hofmannsthals Feder zu finden, geht fehl: Poesie und Leben bleibt für den Zeitraum zwischen 1891 und 1901 der einzige (auch) als Rede konzipierte Text. 13

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Hofmannsthals ›Aufsatz-Poesie‹

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Fraglos sind die meisten der Aufsätze aus der frühen Phase von 1891 bis 1901 anlassbezogene Kritiken, die auch im Kontext der zunehmenden Bedeutung ökonomischer Faktoren im modernen Literaturbetrieb zu verorten sind. 14 Hofmannsthal kommt in seinen Rezensionen bisweilen zu recht krassen Einschätzungen, zum Beispiel im Fall der Wiener Genremaler Rudolf Konopa, Carl Zewy, Friedrich Friedländer, Josef Gisela und Josef Kinzel, über die er in seinem Kommentar Internationale Kunst-Ausstellung (1894) urteilt, sie malten »bekanntlich keine Menschen, sondern die starren Figuren des schlechten deutschen Lustspiels; unmögliche Menschen, unmöglich angezogen, in unmöglich arrangirten Situationen, unmöglich dreinschauend [...]« (S. 127). Die Bilder der ungarischen Maler bewertet er in demselben Aufsatz als »theils altmodisch, theils modern angehaucht, aber alle recht grell, unintim; sozusagen oberflächliche Malerei« (S. 128). Und in Englisches Leben (1891), seinem Artikel über die von der Populärautorin Margaret Oliphant verfasste Biografie Laurence Oliphants, eines Aussteigers, der sein Diplomaten- und Journalistenleben gegen das einer »kleinen sektiererischen Gemeinde« austauscht und sich »dem Diktat ihres Gründers [...] unterwirft« (S. 420), diskreditiert er die Autorin: »Ihre 45 Romane und Novellen sollen auch in Deutschland viel gelesen werden: hoffentlich nur von english nurses« (S. 44).

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Bei aller Anlassbezogenheit ist Hofmannsthals frühe kritisch-essayistische Prosa aber von einer über ihren jeweiligen Gegenstand weit hinaus weisenden Autonomie. Die thematisierten kulturellen Phänomene seiner Zeit dienen ihm als Ausgangspunkt für seine eigenen kulturtheoretischen, philosophischen und poetologischen Reflexionen, in denen sich Zeitgenossenschaft, nachempfindende Interpretation und kritisch-analytische Distanz miteinander verbinden, in denen sich Fremdkommentar und Selbstauslotung gegenseitig ergänzen. Was er in Bezug auf seine Rezension zu Henri-Frédéric Amiels Tagebuch eines Willenskranken in sein eigenes Tagebuch notierte, lässt sich durchaus als Charakteristikum seiner kritisch-essayistischen Prosa lesen: Scheinbar ›drängen‹ sich dort »alle Ideen« hinein, die bei ihm »gerade flüssig sind« (S. 344).

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Hofmannsthals Texte sind nicht nur Spiegel seiner »stupenden Belesenheit, sprachmächtigen Altklugheit und intellektuellen Kraft« 15 , sondern faszinieren darüber hinaus durch ihre bestechende ästhetische Potenz. Der junge Kritiker reflektiert erzählend, führt Imagination und Intellekt bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander ins Treffen. 16 So entpuppen sich, wie Olivia Varwig herausarbeitet, die unter der Gattungsbezeichnung ›Bildbeschreibung‹ firmierenden Betrachtungen Bilder, die 1891 in der Modernen Rundschau erschienen, gar »nicht als konkrete Bildbeschreibungen, sondern als Prosagedichte in der Nachfolge Turgenjews« (S. 371). Hofmannsthal nutzt in seinen Beiträgen spezifisch poetische Visualisierungsstrategien, zum Beispiel in seinem Aufsatz über Henri-Frédéric Amiel (Das Tagebuch eines Willenskranken, 1891), in dem er Amiels Heimatstadt kulturhistorisch zu verorten und – dem Verfahren der Ekphrasis ähnlich – zugleich bildhaft zu veranschaulichen sucht:

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Henri-Frederic Amiel ist 1821 zu Genf geboren; [...] zu Genf in der Stadt des Uebergangs, wo sich die Alpen zur Ebene niedersenken, wo sich das Erhabene zum Anmuthigen mildert, deutsches und wälsches Wesen in einander überfließt, zu Genf, der halb calvinistischen halb katholischen Stadt, deren politische Vergangenheit ein geschicktes Balancieren zwischen übermächtigen Nachbarn und feindlichen Culturströmungen war. Er ist herangewachsen in einem Milieu der abgetönten, halben Farben, der Montblanc bläulich verschwimmend im Hintergrund, im Westen Frankreich, die fröhliche Klarheit des Beschränkten, im Osten Deutschland, wogend und dämmernd, rätselhaft anziehend wie die Unendlichkeit; hier klang ihm eine Sprache entgegen, die das Resultat festhält, klärt und sondert, auch das Unendliche begrenzen möchte, die gewordenen Dinge darstellt, dort eine Sprache des Werdens der Dinge, vag, formlos und träumerisch. (S. 19)

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Hofmannsthals Moderne-Diagnose

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Hinter der augenscheinlichen thematischen Vielfalt der im besprochenen Band versammelten Texte verbergen sich gedankliche Kontinuitätslinien. Sie lassen sich als Reaktionen auf Phänomene der ›Moderne‹ bündeln, als Reaktionen auf eine gesellschaftshistorische Situation, die Hofmannsthal als Beobachter zweiter Ordnung in den Blick nimmt. So beginnt der Amiel-Aufsatz mit einer Notiz zur zeittypischen Krisen- und Dekadenzerfahrung, die das Bewusstsein um die Unmöglichkeit der Rekonstruktion des ›nicht-entfremdeten‹, (durchaus im Schiller’schen Sinn) ›naiven‹ Seins- und Wahrnehmungszustandes ein- (und neoromantische Positionen aus-)schließt:

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Nach rückwärts zieht die Verführung, die nervenbezwingende nostalgie, die Sehnsucht nach der Heimath: ist das das Nationalitätenfieber, sie Heilsarmee und neues Christenthum, sie ringt in Tönen nach dem Gral, zu dem keiner zurückfindet, sie ist das Letzte aller Ermatteten [...]. Zurück zur Kindheit, zum Vaterland, zum Glaubenkönnen, zum Liebenkönnen, zur verlorenen Naivität: Rückkehr zum Unwiederbringlichen. (S. 18)
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Hofmannsthal fehlt im gegenwärtigen Leben, das er als »Gewirre zusammenhangloser Erscheinungen« wahrnimmt und in dem seine Zeitgenossen nur eine »tote Berufspflicht« erfüllten, ein orientierender »Mittelpunkt« (Maurice Barrès, S. 34). Im Verlust des Glaubens erkennt er den Verlust eines wesentlichen gesellschaftlichen wie individuellen Identitätsgaranten (vgl. ebd.). Sein gedankliches Koordinatensystem lässt sich zwischen dem Wunsch nach einer Revision der Konsequenzen der gesellschaftshistorischen Modernisierungsprozesse und dem Bewusstsein um ihre Irreversibilität aufspannen; zwischen der Trauer um die verlorene Normativität der unhinterfragten Daseinsgewissheit und der von Neugier getragenen Hoffnung auf Alternativen zum ›entfremdeten‹, ›toten‹ Leben (vgl. S. 34), zum »scheinhaften Denken« (S. 188). Die Normativität, an der er als Kritiker die kulturellen Phänomene seiner Zeit – seien sie literarischer, musikalischer, philosophischer oder bildkünstlerischer Provenienz – misst, ist deshalb ein in seinem Verständnis ›adäquater‹ Umgang mit den diagnostizierten Modernisierungsfolgen. Der Maßstab seiner Kritik ist eine Kunst, welche die modernen Lebensbedingungen zu unterlaufen und die Menschen dem ›Eigentlichen‹, ›Wesenhaften‹, dem ›Seelenleben‹ und dem ›Geistigen‹ (das der ›Philister-Bildung‹ diametral gegenüber steht) wieder anzunähern vermag. In seinem Rückblick auf die Internationale Kunstausstellung und die erste Ausstellung der Münchner Sezession in Wien (Die Malerei in Wien, 1893) verlautbart er zur Mahnung und Erkenntnis:

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Nur müssen die Leute wieder Bilder sehen, Bilder, keine mit der Hand gemalten Oeldrucke; sie müssen sich wieder erinnern, daß die Malerei eine Zauberschrift ist, die, mit farbigen Klexen statt der Worte, eine innere Vision der Welt, der räthselhaften, wesenlosen, wundervollen Welt um uns übermittelt, keine gewerbliche Thätigkeit; daß Malen etwas mit Denken, Träumen und Dichten zu thun hat und nichts, gar nichts mit der Anfertigung hübscher Pfeifenköpfe [...].
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Das Publicum an sich ist weder gut noch böse und hat gar keinen Geschmack, nicht einmal einen schlechten: aber im Innern, wenn auch verdumpft und verschüchtert durch angeflogene Weisheit, bornirte Schlagworte und falsche Begriffsangliederungen, lebt doch in jedem ein Trieb nach dem Lebendigen hin, nach dem, was mit neuem kräftigen Zauber versunkene, verwachsene Fallthüren der Seele aufsprengt. (S. 113)
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Hofmannsthal gibt die Hoffnung nicht auf, dass sich »unter dem Bildungsphilister [...] in fast jedem Menschen ein dämmerndes Wesen« verberge, das »träumt« und dem bewusst sei, »daß es auf Instincte gestellt ist und nicht auf Principien« (S. 114). Gegen Rollenhandeln, gegen Dissoziation, Rationalisierung, Kommerzialisierung, Spezialisierung und Verwissenschaftlichung, gegen Schnelllebigkeit, gesellschaftlichen ›Schein‹ und ›Oberfläche‹, gegen ›Dilettanten‹ und ›Philister‹ führt er die heilsame ›Seelenwirkung‹ der Kunst ins Feld, die er zwar zum autonomen Teilbereich der Gesellschaft erklärt (vgl. Poesie und Leben, S. 187), deren Bestimmung er aber keinesfalls in ästhetizistischer Lebensferne erkennt (vgl. ebd.).

[27] 

Hofmannsthals poetologische Reflexionen umkreisen beständig eine mögliche Verhältnisbestimmung von Dichter respektive Dichtung und ›Leben‹, bewegen sich inmitten der Legitimationskrise der für autonom erklärten Literatur. In seinen poetologischen Überlegungen Poesie und Leben (1896), Bildlicher Ausdruck (1897) und Dichter und Leben (1897) betont er die ästhetische Eigenwertigkeit des dichterischen Kunstwerks, das dem ›eigentlichen‹, ›natürlichen‹ Leben gerade vermittels seiner Inkommensurabilität am nächsten komme: »Was der dichter in seinen unaufhörlichen gleichnissen sagt das lässt sich niemals auf irgend eine andere weise (ohne gleichnisse) sagen: nur das leben vermag das gleiche auszudrücken, aber in seinem stoff, wortlos« (S. 207).

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Gleichsam paradox mutet es in Anbetracht der knapp fünfzig im Band versammelten feuilletonistischen Texte an, wenn er in Poesie und Leben behauptet, »dass man über die Künste [...] fast gar nicht reden kann, dass es nur das unwesentliche und wertlose an den Künsten ist, was sich der Beredung nicht durch sein stummes Wesen ganz von selber entzieht« (S. 183). Bis zum berühmten Chandos-Brief ist es von hier nicht weit. Das 1890 noch nonchalant dahin geworfene »Telle est la vie fin de siècle« soll für Hofmannsthal zehn Jahre später eine Ernsthaftigkeit entwickeln, die er zeit seines Lebens dann doch nicht so »ganz leicht« wird »ertragen« können (S. 298). Über fremden Gegenständen hält er die ambivalente Auseinandersetzung mit der Moderne jugendlich-spielerisch aus; im Selbstbezug ist es dann schwerer zu verwinden, dem »Geist der verworrenen Epoche« eben nicht mehr »beizukommen«, 17 die konstatierte Pluralität nicht in neue Totalität überführen zu können.

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Fazit

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Die Herausgeber des 32. Bandes konzentrieren sich auf das, was eine kritische Werkausgabe leisten sollte. Sie verzichten im Unterschied zu Rezensenten auf interpretatorischen Zierrat, der bekanntlich ohnehin von begrenzter Halbwertszeit ist, und machen ihre Gegenstände sowohl dem gestandenen Hofmannsthal-Philologen als auch dem Hofmannsthal-Neuling in editionsphilologisch exakter, übersichtlich strukturierter, prägnanter Weise zugänglich. Der Band liefert für das Verständnis der höchst voraussetzungs- und anspielungsreichen Texte unerlässliche Informationen und macht darüber hinaus Bezüge (auch zum Gesamtwerk) deutlich. Die Herausgeber schöpfen aus den (Brief-)Beständen des Hofmannsthal-Archivs des Freien Deutschen Hochstifts und greifen auf die breite Grundlage der bereits erschienenen Bände (wie zum Beispiel auf »Band XL Bibliothek«) zurück. Dass sich die einzelnen Kapitel des Apparats in Anbetracht der Anzahl der Herausgeber strukturell und inhaltlich durchaus unterscheiden, tut der Einheitlichkeit zwar einen kleinen, dem Gesamtunternehmen aber keinen Abbruch. Die akribische Recherche und Aufbereitung der Kontexte, die ausführlichen Erläuterungen und Kommentare zeichnen insgesamt ein zu weiteren Forschungen inspirierendes Autoren- und Epochenportrait und eignen sich mitunter auch als autorenlexikalisches Hilfsmittel (vgl. z.B. die Erläuterung zu Hofmannsthals Dilettantismus-Begriff, S. 325).

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Der Band bespiegelt damit nicht nur detailliert die einzelnen Texte und Hofmannsthals gedankliches Koordinatensystem, sondern liefert ein kultur- und geistesgeschichtliches Epochenbild ›von innen‹, das unter anderem die »Literarisierung und Ästhetisierung« der Gebrauchsformen in der Kultur des Fin de Siècle dokumentiert und an Hofmannsthals Beispiel aufzeigt, wie die »Grenze zwischen dem Dichter [...] auf der einen und dem Philosophen oder Wissenschaftler bzw. dem Publizisten oder Journalisten auf der anderen Seite« ihre Schärfe verliert. 18

 
 

Anmerkungen

Hermann Bahr: Loris. Zitiert nach dem besprochenen Band der kritischen Werkausgabe Hofmannsthals (SW XXXII), S. 316 ff. Zitate aus dem rezensierten Band werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text nachgewiesen.   zurück
Vgl. Elsbeth Dangel-Pelloquin (Hg.): Hugo und Gerty von Hofmannsthal – Hermann Bahr. Briefwechsel 1891 – 1934. Band 1. Göttingen: Wallstein 2013.   zurück
Vgl. Michael Woll: Wissenschaft. In: Mathias Mayer / Julian Werlitz (Hg.): Hofmannsthal-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2016, S. 396– 400, hier S. 396.   zurück
Simon Jander: Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner, Hugo von Hofmannsthal, Gottfried Benn. Heidelberg: Winter 2008, S. 189.   zurück
Vgl. Mathias Mayer: Hugo von Hofmannsthal. (Sammlung Metzler 273) Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. Und: Mathias Mayer / Julian Werlitz (Hg.): Hofmannsthal Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2016.   zurück

Hugo von Hofmannsthal am 2. Juli 1891 an Hermann Bahr. In: Elsbeth Dangel-Pelloquin (Anm. 2), S. 8.

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Hofmannsthal am 18. Juni 1902 an Stefan George. In: Robert Boehringer (Hg.): Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. 2., ergänzte Auflage. München, Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi 1953, S. 154 f.   zurück
Ernst Otto Gerke: Der Essay als Kunstform bei Hugo von Hofmannsthal. Hamburg: Karl Sasse 1970, S. 9.    zurück
Uwe Spörl: Literarische Gebrauchsformen. In: Sabine Haupt / Stefan Bodo Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart: Kröner 2008, S. 444–471.   zurück
10 
Mathias Mayer (Anm. 6), S. 144.   zurück
11 
Klaus Weissenberger: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Tübingen: Niemeyer 1985.   zurück
12 
Zu Hofmannsthals Lebzeiten wurden die essayistischen Schriften zunächst in der dreibändigen Ausgabe Prosaische Schriften, ab 1921 dann unter dem Titel Reden und Aufsätze publiziert.   zurück
13 
Olivia Varwig geht davon aus, dass der Vortrag vor vermutlich studentischem Publikum gehalten worden ist. In der Wiener Wochenschrift Die Zeit erschien der Text 1896 mit dem Untertitel »(Aus einem Vortrage)« (vgl. SW XXXII, S. 864 ff.).   zurück
14 
Vgl. Uwe Spörl (Anm. 10), S. 444.   zurück
15 
Mathias Mayer (Anm. 8), S. 145.   zurück
16 
Vgl. Ernst Otto Gerke (Anm. 9), S. 22, 40, 73.   zurück
17 
Robert Boehringer (Anm. 8), S. 154 f.   zurück
18 
Uwe Spörl (Anm. 8), S. 444.   zurück