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Spätestens seit Horkheimer und Adorno gilt die Aufklärung als ein Unternehmen mit Schattenseiten.
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Diese Schattenseiten nicht in den dialektischen Paradoxa der Aufklärung und ihren Programmen zu suchen, sondern die praxeologischen Grundlagen zu untersuchen, ist das Ziel von Dorothea von Mückes neuestem Buch. Der säkulare Diskurs der Aufklärung emanzipiere sich – so die Hypothese – weniger von der Religion, sondern basiere auf religiösen Praktiken. Aufklärung sei damit alles andere als eine Bewegung hin zu einer säkularisierten Autonomie, die sich ihres religiösen Erbes schrittweise entledige. Stattdessen hänge die oft proklamierte Autonomie der aufklärerischen Ästhetik in ihren Anfängen von der Heteronomie der aufklärerischen Praktiken ab. Für ihr Buch greift von Mücke auf vielfältige Vorarbeiten zurück,
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die aber in der Zusammenschau der Monographie neue Verbindungen eingehen und netzwerkartig ein breites, kaleidoskopartiges Panorama des 18. Jahrhunderts ergeben. Um diese Schlüsse und ihre Voraussetzungen vorzustellen, werde ich zunächst die Grundthese erläutern. Anschließend stelle ich die Disposition des Buches dar und zeige schließlich am Beispiel Goethes, wie das Netzwerk der Aufklärung an verschiedenen Punkten durch die Texte eines Autors geknüpft wird.
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Die Praktiken der Aufklärung: It’s the religion
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Praktiken formen die Aufklärung mehr als ihre Programme, zumal ihre pädagogischen. Darin besteht der Ausgangspunkt des Buchs. Die Praktiken der Aufklärung sind dabei nicht so aufgeklärt, wie ihre regulativen Ideen vorzugeben scheinen. Denn auf der Ebene der Praktiken ist die Aufklärung nur schwer von ihren Gegnern und Vorläufern zu trennen, die von Mücke zunächst in religiösen und in naturphilosophischen Praktiken identifiziert. Praktiken wie kontemplative Übungen oder naturphilosophische Gedankenexperimente bilden somit den gemeinsamen Nenner verschiedener Diskurse. Ausgerechnet in diesen Domänen – der Religion wie der Naturphilosophie – finden sich aber sowohl die Voraussetzungen als auch der Hintergrund dessen, was von Mücke als »habits of independent thought« (S. XIV) zum Fluchtpunkt des aufklärerischen Unternehmens erklärt. Die Religion ist also – hier geht von Mücke mit neuerer Forschung zur Aufklärung durchaus konform –
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nicht das Gegenteil, sondern die andere Seite der Säkularisierung, auf welche die Aufklärung geradezu notorisch bezogen bleibt (vgl. S. XXIV f.). Besonders auf dem Feld der Ästhetik gilt damit – wie von Mücke präzisiert –, dass die Autonomie der Ideen von der Heteronomie ihrer Praktiken abhängt. Dieser Zusammenhang von programmatischer Autonomie der Säkularisierung und praktischer religiöser Heteronomie ist aber erklärungsbedürftig: Wie genau bilden die heteronomen Praktiken das Fundament der programmatischen Autonomie, wenn beides sich doch eigentlich wechselseitig ausschließt? Die religiösen Praktiken haben darüber hinaus – das ist der Clou der Studie – eine bestimmte Form, die sich einer rein historischen Betrachtungsweise entzieht und die literaturwissenschaftliche Analyse fordert. An dieser Stelle spielt von Mücke eine ihrer größten analytischen Stärken aus, indem sie die Praktiken der Aufklärung mit deren Darstellungsverfahren konfrontiert. So entsteht eine Disposition, die man folgendermaßen zusammenfassen kann:
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Konzepte
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I. Ästhetik
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II. Autorschaft
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III. Öffentlichkeit
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Aspekte
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Subjektivität, Natürliche Ordnung, Künstlerische Produktion
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Individuelle Erfahrung, Souveränität, Autonomie
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Patriotismus, Publikum, Kritische Öffentlichkeit
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Begriffe
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Interesseloses Wohlgefallen, Teleologie, Originalgenie
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Innerlichkeit, Subjektivität
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Gemeinschaft, Offenheit, Individuum
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Praktiken
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Kontemplation, Naturphilosophische Untersuchungen
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Konfession, Profession, Konversion
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Aufruf/Anrufung, Interpellation
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Literarische Formen
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Erbauungsschrift, Essay
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Glaubensbekenntnis, Beichtspiegel, Pädagogische Abhandlung, Bildungsroman, Autobiographie
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Essay, Brief, Theologische Schriften
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Aufklärerischer Fluchtpunkt: Unabhängiges Denken
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Die Studie gliedert sich dementsprechend in drei Teile, die sich den Konzepten von Ästhetik, Autorschaft und Öffentlichkeit widmen. Die drei Teile sind jeweils wiederum in drei größere Einheiten unterteilt, die bestimmte Aspekte des Konzepts beleuchten. In dieser Disposition zeigt sich bereits, dass die Studie keinen grand récit der Aufklärung vorlegen will (vgl. S. XXV), sondern verschiedene Schneisen in diskursive Felder schlägt und dabei auf unterschiedliche Diskurse und Praktiken rekurriert, die sich nicht strikt voneinander trennen lassen.
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Den drei Hauptteilen vorangestellt ist eine Einleitung, welche die Grundlagen des Buchs expliziert. Sie baut zunächst auf Martha Woodmansees Arbeiten zu sozialen und v.a. ökonomischen Kontexten der Aufklärung auf und will auch die – typisch nordamerikanische – Fokussierung auf Frankreich in der Forschung zur europäischen Aufklärung auf die deutschsprachigen Diskurse öffnen. Dass die europäische Aufklärung keine nationale Angelegenheit ist, macht der breitere Fokus der Arbeit deutlich, die Rousseau ebenso wenig ignoriert wie Shaftesbury. Den Auftakt dieses Zugriffs auf die Aufklärung als transnationales Phänomen bildet der Zusammenschluss zweier Thesen Michel Foucaults, die bisher meist getrennt behandelt wurden. Von Mücke kombiniert nämlich die nicht erst vor kurzem kritisch revidierte These vom epistemischen Bruch aus der Ordnung der Dinge mit Foucaults Frage nach dem Autor. Denn wo ein neues Zeitverständnis die epistemische Ordnung des 18. Jahrhunderts in Frage stellt, lassen sich in den Texten des Jahrhunderts – seien es literarische oder naturphilosophische – komplexe Formen von Autorschaftskonzepten erkennen, welche die von Foucault postulierte Entgegensetzung von wissenschaftlichen und literarischen Diskursen unterlaufen. Neben Woodmansee und Foucault bildet Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit den dritten großen Referenzpunkt der Arbeit. Seine »fundamental ambiguities« (S. XXI), wie sie sich im Leitbegriff der ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹ zwischen realer Kommunikationsform und idealer Utopie konturieren, nimmt von Mücke zum Anlass, ihren Begriff der Öffentlichkeit zu schärfen und sich dabei weder vom diskursiven Konstrukt der Öffentlichkeit noch von den Realitäten einer Öffentlichkeit unter vielen anderen zu verabschieden.
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Ästhetik
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Die Aufklärung beginnt für von Mücke mit der Ästhetik, die erstmals unter diesem Namen auftritt. Dabei setzt der erste große Teil des Buches aber nicht mit ihrer programmatischen Begründung durch Alexander Gottlieb Baumgarten an (vgl. S. 5), sondern mit ihrem vermeintlichen Gegner: der Religion in Gestalt von religiösen Praktiken der Kontemplation, wie sie in Johann Arndts Andachts- und Erbauungsschrift Von wahrem Christenthumb (1605) eingesetzt werden. Die leitenden Begriffe der Analyse sind das ›interesselose Wohlgefallen‹, das zum exemplarischen Modus ästhetischer Erfahrung avanciert, und das ›Originalgenie‹, das zum Prototyp für künstlerische Produktion wird. Dabei ist das interesselose Wohlgefallen nicht ohne die religiösen Praktiken der Kontemplation zu denken, die es nicht etwa beerbt, sondern auf die es quasi parasitär bezogen bleibt. Zwischen den Begriffen von interesselosem Wohlgefallen und dem Originalgenie, die bereits Woodmansee als Innovationen der aufklärerischen Ästhetik proklamiert, schiebt von Mücke den Aspekt der natürlichen Ordnung und damit die Frage nach der Teleologie. Denn das Ziel der natürlichen Ordnung und die Abgrenzung von Mensch und Tier konturieren einerseits den Begriff des interesselosen Wohlgefallens; andererseits beeinflusst das teleologische Verständnis von Veränderung in der Natur den Begriff des Originalgenies. Die frühen Texte – wie Arndts Erbauungsbuch – weichen dabei von der Auffassung der Teleologie dezidiert ab, die für das 18. Jahrhundert leitend wird und die aus der genauen Beobachtung natürlicher Phänomene das ›intelligent design‹ Gottes entdecken will. Aber sie schärfen – gerade durch den Einsatz ihrer Embleme – eine »everyday sensibility […], a mode of ›contemplation‹ that then could be claimed to constitute a specifically human and humanizing capacity by the discourse of Enlightenment philosophy and aesthetics.« (S. 19) Die Untersuchung dieser Formen der Kontemplation als Rezeption insbesondere von Natur führt von Mücke schließlich zu Fragen künstlerischer Produktion und des Genies, wie sie vor allem an einer Lektüre von Goethes Von deutscher Baukunst (1773) zeigt.
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Autorschaft
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Der zweite Teil der Studie knüpft an dieser Verschiebung an, indem er verschiedene Formen von Autorschaft mit religiösen Praktiken von Konfession, Profession und Konversion konfrontiert. Die These ist, dass pietistische Konversionsnarrative eben nicht unvermittelt die Autobiographien des 18. Jahrhunderts vorbereiten. Der Unterschied besteht – wie an Rousseaus Confessions (1782/89, postum) und an Goethes Aus meinem Leben (1811–1833, postum) gezeigt wird – im deutlich anders konturierten Konzept der Autorschaft. Dennoch werten die pietistischen Bekenntnispraktiken und ihre Anleitungen, die vor allem über autodiegetische Narrative funktionieren, die individuelle Erfahrung gegenüber kollektiven Vorschriften deutlich auf. Wiederum im Kontext von Arndts Von wahrem Christenthumb aus dem ersten Teil, das sich ebenfalls auf derartige Narrative stützt, analysiert von Mücke zunächst Johann Heinrich Reitz’ Historie der Wiedergebohrnen (1698–1745), die relativ schematisch erzählte Konversionsgeschichten enthält. Dabei verhindert die Historie geradezu, dass die Schreiber der einzelnen Geschichten zu Autoren werden; ihre Aussage ist strikt auf die durch Reitz formatierte religiöse Erfahrung beschränkt und ihnen fehlt die »public function« (S. 92), wie von Mücke an der in die Sammlung integrierten heterodiegetischen Erzählung von Gottfried Arnold darlegt. Vor diesem Hintergrund sticht die zuerst als Teil ihrer Gespräche des Hertzens mit Gott (1689) erschienene Autobiographie von Johanna Eleonora Petersen besonders heraus, weil sie sich Autorschaft und die damit einhergehende Autorität dezidiert erschreibt. Denn anders als die schematischen Narrative von Reitz erschafft sie sich »a self that allows her to publish radical theological insights.« (S. 93) Dabei ist sie – trotz Augustinusreferenz – auf die Form der Verteidigungsschrift beschränkt. Rousseau und Goethe dagegen gehen in ihren Autobiographien deutlich weiter. Da sich von Mücke aber nicht primär für die abgebildeten Lebensläufe und die beiden Autoren, sondern mehr für die diskursiven Formen und ihre Darstellungsverfahren interessiert, analysiert sie daneben die in Émile eingelassene Profession de foi du Vicaire savoyard (1762) und die in Wilhelm Meisters Lehrjahre eingeschobenen Bekenntnisse einer schönen Seele (1795/96). Auch hier präsentieren sich von Mückes Analysen als dichtes Close-Reading, das religiöse Praktiken auf narrative Formen – insbesondere Formen der Stimme – operationalisieren kann. Gerade in den Brüchen der Stimme zeigt sich die Kraft des Arguments (vgl. bes. S. 115 f.), das hier die Ablösung von Autorschaft und biographischer persona fixieren kann (vgl. S. 125).
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Öffentlichkeit
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Im dritten und letzten Teil widmet sich von Mücke schließlich dem Konzept der Öffentlichkeit. Auch dieser Teil ist in drei Kapitel untergliedert und knüpft an die ersten beiden Teile insofern an, als bereits dort öfter die Frage nach der Rezeption bzw. den Adressaten der untersuchten Texte gestellt wurde. Wie bereits erwähnt, dient Habermas als Sprungbrett, um die Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts zu untersuchen. Öffentlichkeit konstituiert sich mit und gegen religiöse Formen der Gemeinschaftsbildung, wie von Mücke an den Patriotismusdebatten um den Siebenjährigen Krieg zeigt. In der Gegenüberstellung von Friedrich Carl von Mosers Essay Das Publicum (1755) mit Thomas Abbts Aufsatz Vom Tode für das Vaterland (1761) manifestiere sich einerseits die Skepsis und andererseits die Indienstnahme der Religion für die patriotische Gemeinschaftsbildung. Die Grundlage der Argumentation ist die Sprechakttheorie (vgl. S. 192–194, 211–213). So kann von Mücke die Gefahr beschreiben, die Moser in der Manipulation der Öffentlichkeit erkennt, die aber niemals identisch mit einer »imagined community« (S. 203) sein kann. Abbt dagegen gehe nicht nur von einer solchen »imagined community of patriots« (ebd.) aus, sondern fordere gerade zur Bildung einer noch nicht existierenden Öffentlichkeit die – durchaus manipulative – Schützenhilfe von der Kanzel. Genau auf dieser Differenz baut von Mückes Analyse von Herders Konzept der modernen Öffentlichkeit auf, die sich auf die beiden Versionen seines Essays Haben wir noch das Publicum und Vaterland der Alten? (1765/96) stützt. Öffentlichkeit im modernen Sinn hat sich ausgerechnet durch die Integration von Kunst in religiöse Zeremonien gebildet:
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In other words, the use of artistic media during a religious ceremony allowed the gathered audience to imagine themselves also as observers of a virtual reality parallel to their actual reality. A critical public of art is created that knows how to appreciate and enjoy the success of the selection and performance of the spectacle, with its different sensuous components. (S. 214 f.)
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Die Ablösung des Inhalts von der Form und die damit einhergehende Autonomisierung von Kunst hat also ihre Wurzeln ausgerechnet in der religiösen Sphäre. Über Herder gelangt das Argument zu Kant und Lessing und damit zum impliziten Fluchtpunkt des gesamten Buchs: Kants Essay Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) analysiert von Mücke nicht nur in seinen Argumenten und in seiner Argumentationsführung, sondern auch in seinem pragmatischen Kontext: der Preisfrage. Statt auf den ebenfalls dieselbe Frage beantwortenden und deshalb naheliegenden Aufsatz von Mendelssohn geht sie aber auf Lessing ein und markiert damit die Gemeinsamkeit zwischen Lessing und Kant, die beide eine kritische Öffentlichkeit dadurch stimulieren wollten, dass Subjekte des aufgeklärten Diskurses nicht als Vertreter von Institutionen, sondern als individuelle Autoren auftreten. Statt Institutionen sichert die Debatte das kritische Urteil.
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Goethe, zum Beispiel
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Goethe ist der mit Abstand meistzitierte und am extensivsten untersuchte Autor in The Practices of the Enlightenment. Für eine Studie, die sich mit Aufklärung beschäftigt, ist das nicht selbstverständlich, nicht zuletzt weil die Forschung nur einige von Goethes Texten zu dieser Epoche zählt. Für von Mücke ist Goethes Funktion daher auch eine andere: Sie ›rehabilitiert‹ den Autor nicht etwa als Vertreter der Aufklärung, sondern seine Texte bieten ihr eine erste historische Integrationsstufe, von der aus von Mücke die Aufklärung beobachtet. Dass er an allen Schauplätzen des Arguments situiert ist, macht ihn zu einem Paradebeispiel, um die Argumentation der Studie zu testen. Im ersten Teil zur Ästhetik taucht Goethe zunächst mit dem kurzen Text Fossiler Stier (1822) als Naturwissenschaftler auf (vgl. S. 45–48). Mit diesem Text erläutert von Mücke teleologische Argumentationsfiguren des 18. Jahrhunderts im Spiegel von Goethes Kritik an einer bestimmten Form der Teleologie; sein Einsatz erfolgt zwischen Lessings Laokoon (1766) und Youngs Conjectures on Original Composition (1759). Bereits diese Anlage weist chronologische Kontinuitäten als Argumentationsbasis zurück; von Mücke geht es – genauso wie Goethe (vgl. S. 48) – um Konstellationen, nicht um Linearitäten. Die Analyse des kurzen Texts geht sowohl auf das leitende Konzept des Artenwandels angesichts des titelgebenden »Urstier[s]«
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als auch auf seine literarischen bzw. narrativen Verfahren ein. Denn Goethe lehne nicht einfach die These von Friedrich Heinrich Wilhelm Körte – Domvikar in Halberstadt und physikotheologischem Hobbypaläonthologe – ab, sondern führe ihn durch ausgiebiges Zitieren regelrecht vor und verschiebe das Argument mit Hogarths Schönheitslinie von einem funktionalen zu einem ästhetischen (vgl. S. 47). Körtes religiös verbrämte Teleologie des Artenwandels mit dem Menschen als Ziel aller Arten wird so mit Goethes Vorstellung einer Teleologie konfrontiert, die das Ziel jeder Art in sich selbst erkennt. Von Mückes Analyse ist hier so einschlägig wie überzeugend; für ihr Argument hätten sich zwar weitere und frühere Texte von Goethe geeignet und die narratologische Analysegrundlage ist mit »speech situation« (S. 45) und »focalization« (S. 48) nur grob bestimmt. Doch hat diese kurze Analyse einen schlagenden Effekt auf das kühne Argument, das aufklärerische Ästhetik an Teleologie bindet und in religiösen bzw. nichtreligiösen Praktiken der Naturbeobachtung fundiert.
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Zum zweiten Mal erscheint Goethe als Klassiker durch eine kurze Analyse seines Essays Winckelmann und sein Jahrhundert (S. 59 f.), den von Mücke zur Untersuchung des ›Originalgenies‹ heranzieht. Im Kontext von Young und Herder erlaubt es diese Analyse, den Geniebegriff von der künstlerischen Produktion zu trennen und zur Grundlage eines humanistischen Ethos zu generalisieren.
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Drittens und ausführlicher erscheint Goethe als Ästhetiker des Sturm und Drang mit einer Analyse des Aufsatzes Von deutscher Baukunst. Auch hier begnügt sich die Untersuchung nicht mit dem vermeintlichen Inhalt des Essays: der Aufwertung der Gotik. Vielmehr weist sie auf das Fundament des Textes hin, das sich in einer rituellen Annäherung an Kunst in Form einer Praktik des Andenkens findet, die in der Tradition der pietas steht. Goethe sucht aber nicht nur einen Grabstein, sondern er findet eine Kathedrale. Damit wechselt die Praktik das Register von der religiösen pietas zur säkularen fama, welche die Toten durch ihre Taten und Hinterlassenschaften erinnert. In dieser Kombination verändert sich das Verhältnis von Kunstwerk und Betrachter: Das Kunstwerk ist einerseits tendenziell unabgeschlossen und wird erst durch den Rezipienten vervollständigt. Andererseits erscheint es als »independent, complete, autonomous presence« (S. 68). Dementsprechend ist der Text doppelt auf Religion bezogen. Einerseits ist die dort entworfene Ästhetik in Goethes Version zwar radikal säkularisiert, weil mit Erwin von Steinbachs Monument kein Heiliger zum Ziel einer Wallfahrt wird. Andererseits basiert der Text aber auf der Auratisierung des Kunstwerks, die er – durch narrative Verfahren und den Rekurs auf pietas und fama – erst produziert.
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Goethes vierter Einsatz erfolgt im zweiten Teil, der sich der Autorschaft widmet und Goethe dabei vor allem mit Rousseau konfrontiert. Beide analysiert von Mücke je sowohl in einer fiktionalen als auch einer autofiktionalen Autobiographie. Die Bekenntnisse einer schönen Seele zeigen die Grenzen der religiösen Selbsterfahrung im Gegensatz zu einem ästhetischen Selbst- und Weltzugang. Das führt von Mücke auf Goethes Kombination des ethischen Konzepts der schönen Seele mit der kulturellen Technik der Selbstbeobachtung zurück. Ausgerechnet im Rekurs auf die homodiegetischen Erzählverfahren des Bekenntnisdiskurses werden dessen Probleme deutlich, die in der narzisstischen Selbstbezüglichkeit und konsequenten Weltflucht der schönen Seele ihre Anschauung finden. Von diesem Modell grenzt sich Goethe in seiner ersten großen Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit ab. Religion und insbesondere religiöse Praktiken spielen nichtsdestotrotz eine große Rolle, folgen aber einem anderen Modus als die Bekenntnisse der Lehrjahre.
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Die Argumentation stützt sich auf das vierte Buch, in dem Goethe seine Bibellektüre rekapituliert. Statt aber diese Lektüre in den Kontext einer religiösen Erziehung zu stellen, dient die Religion – und mit ihr der Unterschied zwischen natürlicher Religion und einer Religion, die sich auf Offenbarung stützt – laut von Mücke als Mittel, verschiedene Formen von Teleologie durchzuspielen. Goethes Umgang mit Religion ist damit kein theologischer, sondern in der Bibellektüre eine kontemplative Praxis im Rahmen einer philosophischen Anthropologie, die von Glaubensinhalten fast völlig losgelöst scheint. Dass Aus meinem Leben die Bibel so ausführlich wiedererzählt, ist – so die Schlussfolgerung von Mückes – keine textuelle Energieverschwendung, sondern eine narrative Fortsetzung dieser Kontemplation.
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Neben dem vierten Buch untersucht von Mücke mit der Schwelle zwischen dem zehnten und elften Buch die Hauptzäsur des Textes. Dort reflektiert der Text die Medialität der Performance anhand von Goethes Märchen Die neue Melusine und seines Effekts in Sesenheim. Damit betont die zentrale Stelle nicht nur einen Bruch mit der Tradition, aber ein bestimmtes Konzept literarischer Produktion, das sich nicht auf »didactic or moral achievement« oder »entertainment« (S. 165) stützt, sondern eine »intervention in how the audience conceives of itself and its reality« (ebd.) bedeutet. In den Büchern 14 bis 16 schließlich entdeckt von Mücke eine »ethics of authorial autonomy« (S. 167), mit der Goethe den Modus des Bekenntnisses und damit auch Rousseau vollends hinter sich lässt. Auch hier spielen narrative Verfahren die Hauptrolle: »Goethe’s selection and combination of narrative episodes, which are then held together through distinct foci that, however, in most cases are not directly thematized.« (S. 168)
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Für den letzten Teil der Autobiographie scheint der so indirekte, aber bestimmende rote Faden in der Gegenbewegung von Identifikation und Abgrenzung zu liegen. Denn Goethe grenzt sich von anderen Autoren und Figuren seiner Zeit – Lenz, Klinger und Basedow sowie v.a. Lavater – explizit ab, um sein eigenes Talent und seinen eigenen Charakter in diesem Netz von Vergleichen zu umstellen. Religion wird hier – in Gestalt von Jesus und Mohamed – zum metaphorischen Bildspender und narrativen Katalysator. Denn über Mohamed kommt Goethe zu Spinoza, was von Mücke zum Motto der Lehrjahre zurückführt (vgl. S. 171). Die Begegnung mit Susanne von Klettenberg, von der im 15. Buch erzählt wird und die bekanntlich das Vorbild der schönen Seele der Lehrjahre war, ist im Licht dieser Analyse kein motivischer Zufall, sondern folgt der narrativen Anlage. Sie wird nicht einfach nur erzählt, sondern in der narrativen Konstellation der Autobiographie eingekreist und damit zum Trittbrett für ein neues Konzept von autonomer Autorschaft. Diese Interpretation ist so stark, dass sie etwa mit Bezug auf Martina Wagner-Egelhaafs Untersuchungen zur Autofiktion fiktionstheoretisch ausgebaut werden kann.
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Im dritten großen Teil der Studie, der sich mit der Öffentlichkeit der Aufklärung beschäftigt, kommt Goethe nur marginal vor. Trotzdem bildet er einen Hintergrund für die Argumentation. Denn die Reflexionen des Publikums – sei es in den Lehrjahren oder in Aus meinem Leben – sind leitend für den Ausgangspunkt des Arguments, weil sie die Bedeutung der Öffentlichkeit als Frage des Publikums stärken. Gleichzeitig wird an dieser Stelle auch deutlich, dass der dritte Teil zwar literaturwissenschaftliche Analysen vorlegt, aber keine literarischen Texte untersucht. Gerade die Stärke der anderen beiden Teile wird hier zu einem Desiderat, an dem es sich – von Mücke deutet es selbst etwa mit der Referenz auf Goethes Faust an (vgl. S. 235) – weiterzudenken lohnt. Gerade mit Kant als Fluchtpunkt des Buchs und Goethes prominenten Reflexionen pädagogischer Praktiken in den Lehrjahren stellt sich ebenso die Frage, ob pädagogische und religiöse Praktiken des 18. Jahrhunderts auch an dieser Stelle nicht in eine Relation zu bringen wären und ob diese Relation für die Konstruktion von Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts von Bedeutung wäre.
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Fazit
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Von Mückes programmatische Studie bietet weder ein großes Narrativ noch eine universelle Analyse der Aufklärung. Darin liegt ihre Stärke, weil sie so mit noch immer persistenten Vorurteilen über das 18. Jahrhundert bricht. Ein weiteres Verdienst liegt in ihrer Epochendeutung, die ihre Perspektivgebundenheit immer mitdenkt und den Zugriff auf Aufklärung über Goethe im Sinne einer ›preposterous history‹ entfaltet.
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Goethe ist also weniger der primäre Gegenstand, zumal seine Texte nur partiell zur Aufklärung gerechnet werden. Vielmehr bildet er einen Ausgangspunkt, von dem aus von Mücke ihre Analysen der Aufklärung unternimmt. Beeindruckend ist das Buch wegen seiner Breite und der zahlreichen Querverbindungen, die kanonische Texte in Konstellationen mit weniger kanonischen Texten bringen und so neuen Lektüren unterziehen. Ihr Ansatz, die Praktiken der Aufklärung vor ihre Programme zu stellen, ist angesichts der analytischen Ergebnisse vielversprechend. Zusammengefasst besteht das Angebot der Practices of Enlightenment in einem begrifflichen Gerüst und einer analytischen Perspektive; dieses Angebot zu rezipieren, zu ergänzen und herauszufordern wird die Forschung beschäftigen.
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